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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Der Hilferuf der südrussischen Mvutauindustriellen an den Finanzminister,
der bei einem in diesem Sommer zu Charkow abgehaltenen Kongresse dieser
Industriellen ergangen ist, hat nur den praktischen Erfolg gehabt, daß ihnen
von Witte die Bergsteuer erlassen wurde; alle übrigen Unterstützungsforderungen
wurden rundweg abgelehnt mit dem guten Rat, sich selbst zu helfen durch
Verbilliguug der Produktion und Schaffung eines wohlorganisiertcn Klein¬
handels, d, h. eines Absatzmarktes im Innern. Und das ist der springende
Punkt der jetzigen Jndustriekrisis, mag sie auch zum Teil künstlich hervor¬
gerufen worden sein: Witte will jetzt nicht mehr der Industrie weiter alles
zuwenden auf Kosten des übrigen Volkes (84 Prozent davon gehören der
Landwirtschaft an), er will seine Eisenbahnen uicht weiter doppelt und dreifach
so teuer bezahlen, wie er sie bei Zulassung der Außenkvnkurrenz zu bezahlen
brauchte; er will vielmehr jetzt, wo er die Industrie geschaffen hat, daß diese
sich unter gesundem Bedingungen weiter entwickle. Daß dabei viele Industrie¬
betriebe zu Grunde gehn werden, ist unvermeidlich; diese hatten aber eigentlich
keine Existenzberechtigung, da sie nur aus Spekulation auf die dauernde Er¬
haltung dieser volkswirtschaftlich unberechtigten Zustände aufgebaut worden
waren. Der Übergang wird Witte um so leichter, da ja das dabei verloren¬
gehende Kapital größtenteils Ausländern gehört, also der Volkswohlstand davon
unmittelbar wenig berührt wird.

Zu diesem Entschluß, die staatliche Unterstützung nunmehr auch dem nicht-
industriellen Teile Rußlands in erhöhten: Maße zu gewähren, ist Witte ge¬
zwungen worden durch die im ersten Abschnitt dargestellte Lage der Land¬
wirtschaft, deren Wert für Rußland nnßer wegen der erwähnten Verhältnisse
noch ganz besonders bei der Betrachtung des russischen Außenhandels hervortritt.
Nußland braucht zur Erhaltung seiner Goldwährung eine aktive Handelsbilanz,
und diese ist völlig abhängig von der Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte,
wie aus folgender Tabelle hervorgeht:

Es betrug der Prozentanteil an der Ausfuhr:
Warengattung:18971898189919001901
Getreide....... 5052,243,144,247,2
59,1Lebensmittel insgesamt ., 58,761,152,755,3
Roh- und Halbprodukte >. 36,238,641,539,235,2
Tiere......, 2,42,42,92,62,7
2.9
Jndustrieprodutte. . ,. 2,72,92,93

Man mag also die wirtschaftliche Lage Rußlandsansehen,von welchem
Standpunkt aus man will -- immer wird man zu dem Schluß komme", daß
es s o nicht mehr weiter geht. Unter dem Druck dieser Verhältnisse null Witte,
wie es scheint, nunmehr auch den Weg einer völlig geänderten Wirtschafts¬
und Handelspolitik betreten, zum Segen seines Landes und nicht zum Nachteil
seines deutschen Nachbarn. Die bei der Brüsseler Znckerkonvcntion an die
Mächte gerichteten Noten beschäftigen sich, wie jetzt bekannt geworden ist,
nicht nur mit dieser, sondern mit einer internationalen Reform der Preis¬
bildung aller internationalen Stapelartikel, zu denen nicht in letzter Reihe
das Getreide gehört. Bei höherer Bewertung des russischen Getreides auf
dem Weltmarkt würde nicht nur der russischen Landwirtschaft die Möglichkeit


Der Hilferuf der südrussischen Mvutauindustriellen an den Finanzminister,
der bei einem in diesem Sommer zu Charkow abgehaltenen Kongresse dieser
Industriellen ergangen ist, hat nur den praktischen Erfolg gehabt, daß ihnen
von Witte die Bergsteuer erlassen wurde; alle übrigen Unterstützungsforderungen
wurden rundweg abgelehnt mit dem guten Rat, sich selbst zu helfen durch
Verbilliguug der Produktion und Schaffung eines wohlorganisiertcn Klein¬
handels, d, h. eines Absatzmarktes im Innern. Und das ist der springende
Punkt der jetzigen Jndustriekrisis, mag sie auch zum Teil künstlich hervor¬
gerufen worden sein: Witte will jetzt nicht mehr der Industrie weiter alles
zuwenden auf Kosten des übrigen Volkes (84 Prozent davon gehören der
Landwirtschaft an), er will seine Eisenbahnen uicht weiter doppelt und dreifach
so teuer bezahlen, wie er sie bei Zulassung der Außenkvnkurrenz zu bezahlen
brauchte; er will vielmehr jetzt, wo er die Industrie geschaffen hat, daß diese
sich unter gesundem Bedingungen weiter entwickle. Daß dabei viele Industrie¬
betriebe zu Grunde gehn werden, ist unvermeidlich; diese hatten aber eigentlich
keine Existenzberechtigung, da sie nur aus Spekulation auf die dauernde Er¬
haltung dieser volkswirtschaftlich unberechtigten Zustände aufgebaut worden
waren. Der Übergang wird Witte um so leichter, da ja das dabei verloren¬
gehende Kapital größtenteils Ausländern gehört, also der Volkswohlstand davon
unmittelbar wenig berührt wird.

Zu diesem Entschluß, die staatliche Unterstützung nunmehr auch dem nicht-
industriellen Teile Rußlands in erhöhten: Maße zu gewähren, ist Witte ge¬
zwungen worden durch die im ersten Abschnitt dargestellte Lage der Land¬
wirtschaft, deren Wert für Rußland nnßer wegen der erwähnten Verhältnisse
noch ganz besonders bei der Betrachtung des russischen Außenhandels hervortritt.
Nußland braucht zur Erhaltung seiner Goldwährung eine aktive Handelsbilanz,
und diese ist völlig abhängig von der Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte,
wie aus folgender Tabelle hervorgeht:

Es betrug der Prozentanteil an der Ausfuhr:
Warengattung:18971898189919001901
Getreide....... 5052,243,144,247,2
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Roh- und Halbprodukte >. 36,238,641,539,235,2
Tiere......, 2,42,42,92,62,7
2.9
Jndustrieprodutte. . ,. 2,72,92,93

Man mag also die wirtschaftliche Lage Rußlandsansehen,von welchem
Standpunkt aus man will — immer wird man zu dem Schluß komme», daß
es s o nicht mehr weiter geht. Unter dem Druck dieser Verhältnisse null Witte,
wie es scheint, nunmehr auch den Weg einer völlig geänderten Wirtschafts¬
und Handelspolitik betreten, zum Segen seines Landes und nicht zum Nachteil
seines deutschen Nachbarn. Die bei der Brüsseler Znckerkonvcntion an die
Mächte gerichteten Noten beschäftigen sich, wie jetzt bekannt geworden ist,
nicht nur mit dieser, sondern mit einer internationalen Reform der Preis¬
bildung aller internationalen Stapelartikel, zu denen nicht in letzter Reihe
das Getreide gehört. Bei höherer Bewertung des russischen Getreides auf
dem Weltmarkt würde nicht nur der russischen Landwirtschaft die Möglichkeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/140>, abgerufen am 01.09.2024.