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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Individualismus

werden sie doch an ihrem Teile zur Erreichung des Zwecks beigetragen haben,
und so mögen sie bis dahin als wissenschaftlicher Apparat möglichst erfolgreich
verwandt werden.

Damit ist nun allerdings zu Gunsten der Breysigschen Stellung zu der
hier in Rede stehenden grundsätzlichen Frage des Guten genug geschehen.
Geradezu unmöglich ist es, ihm auch nur einen Finger breit Zugeständnisse
zu machen, wenn er weiter dazu schreitet, sogar den Individualismus in der¬
selben Weise wie die Gesellungserscheinungen zu schablonisieren. Das muß mit
bedingungsloser Entschiedenheit zurückgewiesen werden, und das ist die Einzel¬
heit des Breysigschen Werkes, gegen die ich mich unter Abweisung auch nur
eines Versuchs zum Ausgleiche wende.

Breysig, der übrigens auch sieht, wie wenig in Wahrheit seine geliebte
Kategorisierung mit ihrer steifen Schachtelnng auf den Individualismus mit
seinem Lebensgebrodel paßt, der sich aber aus sogenanntem "Bedürfnis des
Soziologen nach großen, wenn auch zuweilen etwas groben Unterscheidungs¬
merkmalen" mit Gewalt dem logischen Folgern aus der sich auch ihm auf¬
drängenden Erkenntnis entzieht, zerlegt den Persönlichkeitsdrang in zwei große
Gruppen, zwei Arten. Die eine, die "starke," nennt er aristokratischen, echten
oder persönlichen Individualismus, die andre, die "schwache," demokratischen,
Massen- oder Sozialindividualismus.

Damit geht er irr.

Anschauungsgrundlage und Denkausgangspunkt seines Kapitels "Starker
und schwacher Persönlichkeitsdrang" ist, wie sonst überall bei ihm, seine grund¬
sätzliche Gleichsetzung des Individualismus für alle Völker und alle Zeiten.
Damit verbaut er sich, man könnte sagen aus Voreingenommenheit, den Weg
zur richtigen Erkenntnis.

Es giebt unzweifelhaft drei Grundarten des Individualismus, die hel¬
lenische, die christliche und die germanische. Den Unterschied zwischen der christ¬
lichen und der germanischen habe ich an andrer Stelle erörtert. Hier mag
deshalb nur noch der Gegensatz zwischen hellenischem und germanischem Eigen¬
wesen hervorgehoben werden. Während der hellenische Persönlichkeitsdrang
nach außen treibt, ist der deutsche ganz nach innen gewandt. Geht jener in
dem Streben auf, der Einzelpersönlichkeit ihr Recht uns schrankenlose Dar¬
stellung der ihr von der Mutter Natur gegebnen Art in der sie umgebenden
Außenwelt und gegen deren starre Gemeinsatzungen zu wahren, so ist diesem
Kern und Stern seines Wesens, sich ganz ins Innenleben zu vertiefen, in ihm,
wenn nötig, sich vor der Welt ringsum zu verschließen und nur aus ihm und
seinem rein geistigen Vermögen heraus mit den Außendingen zu rechnen. Ich
will zum Belege meiner Meinung nnr auf zwei Beispiele hinweisen, allerdings
zwei, die Bünde sprechen, und die mit Händen zu greifen sind. Sie sind dem
Gebiete der Kunst entnommen; denn die Kunst, natürlich nur echte und tiefe,
bringt die Grundempfindungen der Volksseele am geschlossensten zum Aus¬
druck. Das Meisterwerk des griechischen Meißels ist die milonische Venus-
Wer einmal im Louvre, in Schauen versunken, vor ihr gestanden hat, der vergißt
die überwältigende Hoheit des Eindrucks sein Leben lang nicht, und kein andres


Individualismus

werden sie doch an ihrem Teile zur Erreichung des Zwecks beigetragen haben,
und so mögen sie bis dahin als wissenschaftlicher Apparat möglichst erfolgreich
verwandt werden.

Damit ist nun allerdings zu Gunsten der Breysigschen Stellung zu der
hier in Rede stehenden grundsätzlichen Frage des Guten genug geschehen.
Geradezu unmöglich ist es, ihm auch nur einen Finger breit Zugeständnisse
zu machen, wenn er weiter dazu schreitet, sogar den Individualismus in der¬
selben Weise wie die Gesellungserscheinungen zu schablonisieren. Das muß mit
bedingungsloser Entschiedenheit zurückgewiesen werden, und das ist die Einzel¬
heit des Breysigschen Werkes, gegen die ich mich unter Abweisung auch nur
eines Versuchs zum Ausgleiche wende.

Breysig, der übrigens auch sieht, wie wenig in Wahrheit seine geliebte
Kategorisierung mit ihrer steifen Schachtelnng auf den Individualismus mit
seinem Lebensgebrodel paßt, der sich aber aus sogenanntem „Bedürfnis des
Soziologen nach großen, wenn auch zuweilen etwas groben Unterscheidungs¬
merkmalen" mit Gewalt dem logischen Folgern aus der sich auch ihm auf¬
drängenden Erkenntnis entzieht, zerlegt den Persönlichkeitsdrang in zwei große
Gruppen, zwei Arten. Die eine, die „starke," nennt er aristokratischen, echten
oder persönlichen Individualismus, die andre, die „schwache," demokratischen,
Massen- oder Sozialindividualismus.

Damit geht er irr.

Anschauungsgrundlage und Denkausgangspunkt seines Kapitels „Starker
und schwacher Persönlichkeitsdrang" ist, wie sonst überall bei ihm, seine grund¬
sätzliche Gleichsetzung des Individualismus für alle Völker und alle Zeiten.
Damit verbaut er sich, man könnte sagen aus Voreingenommenheit, den Weg
zur richtigen Erkenntnis.

Es giebt unzweifelhaft drei Grundarten des Individualismus, die hel¬
lenische, die christliche und die germanische. Den Unterschied zwischen der christ¬
lichen und der germanischen habe ich an andrer Stelle erörtert. Hier mag
deshalb nur noch der Gegensatz zwischen hellenischem und germanischem Eigen¬
wesen hervorgehoben werden. Während der hellenische Persönlichkeitsdrang
nach außen treibt, ist der deutsche ganz nach innen gewandt. Geht jener in
dem Streben auf, der Einzelpersönlichkeit ihr Recht uns schrankenlose Dar¬
stellung der ihr von der Mutter Natur gegebnen Art in der sie umgebenden
Außenwelt und gegen deren starre Gemeinsatzungen zu wahren, so ist diesem
Kern und Stern seines Wesens, sich ganz ins Innenleben zu vertiefen, in ihm,
wenn nötig, sich vor der Welt ringsum zu verschließen und nur aus ihm und
seinem rein geistigen Vermögen heraus mit den Außendingen zu rechnen. Ich
will zum Belege meiner Meinung nnr auf zwei Beispiele hinweisen, allerdings
zwei, die Bünde sprechen, und die mit Händen zu greifen sind. Sie sind dem
Gebiete der Kunst entnommen; denn die Kunst, natürlich nur echte und tiefe,
bringt die Grundempfindungen der Volksseele am geschlossensten zum Aus¬
druck. Das Meisterwerk des griechischen Meißels ist die milonische Venus-
Wer einmal im Louvre, in Schauen versunken, vor ihr gestanden hat, der vergißt
die überwältigende Hoheit des Eindrucks sein Leben lang nicht, und kein andres


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/608>, abgerufen am 23.07.2024.