Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.Rückständiges in unsrer deutschen wehrverfassung meinen Wehrpflicht nicht gleich in allen Folgerungen durchsetzen zu können Nach der Reorganisation von 1860 wurde die Sache weniger auffüllig, weil Diese Mißstimmung wird aber noch verstärkt durch die Art und Weise, Nach Maßgabe der auf die Musterung gegründeten Ersatzverteiluug durch Für die Nichtspezialisten, d. h. für die Infanterie, die übrige Kavallerie, Rückständiges in unsrer deutschen wehrverfassung meinen Wehrpflicht nicht gleich in allen Folgerungen durchsetzen zu können Nach der Reorganisation von 1860 wurde die Sache weniger auffüllig, weil Diese Mißstimmung wird aber noch verstärkt durch die Art und Weise, Nach Maßgabe der auf die Musterung gegründeten Ersatzverteiluug durch Für die Nichtspezialisten, d. h. für die Infanterie, die übrige Kavallerie, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0466" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237752"/> <fw type="header" place="top"> Rückständiges in unsrer deutschen wehrverfassung</fw><lb/> <p xml:id="ID_2371" prev="#ID_2370"> meinen Wehrpflicht nicht gleich in allen Folgerungen durchsetzen zu können<lb/> glaubte. Die durch das Los bestimmten Überzähligen wurden als eine Art<lb/> Landwehrrekruten angesehen, und man begnügte sich mit der Aussicht, daß im<lb/> Kriege ja doch alle Wehrfähigen in Anspruch genommen werden würden. Die<lb/> Gleichheit aller vor dem Gesetz war damals noch nicht so in Fleisch und Blut<lb/> übergegangen, daß man die Ungerechtigkeit des Losungswesens im allgemeinen<lb/> tief empfand, obwohl es auch zu jener Zeit schon bei manchem Kopfschütteln<lb/> verursachte, wenn in derselben Gemeinde schwächlichere Leute, die gerade noch<lb/> die Militärtauglichkeitsgrenze erreichten, und deren Arbeitskräfte für ihre Fa¬<lb/> milien, wenn auch nicht gesetzlich notwendig, doch sehr wünschenswert waren,<lb/> dienen mußten, während sich viele kräftige, in jeder Hinsicht abkömmliche Leute<lb/> für den Friedensdienst freilosten.</p><lb/> <p xml:id="ID_2372"> Nach der Reorganisation von 1860 wurde die Sache weniger auffüllig, weil<lb/> nnn wieder fast alle Diensttauglichen eingestellt und durch Dispositionsbeur¬<lb/> laubungen im dritten Dienstjahre der nötige Raum in der Armee geschaffen<lb/> wurde. Ebenso wurde nach den Feldzügen von 1866 und 1870/71 dnrch Ncu-<lb/> formationen und später durch die probeweise eingeführte zweijährige Dienstzeit<lb/> die Zahl der Freigelosten vermindert. Jetzt darf man aber wohl die zweijährige<lb/> Dienstzeit als endgiltig eingeführt betrachten, und es giebt nun kein andres Mittel<lb/> mehr, die jährlich stark wachsende Masse der Überzähligen abzustoßen, als die<lb/> Losung, und die ganze Ungerechtigkeit, daß man durch einen reinen Glücks-<lb/> zufnll der wichtigsten Bürgerpflicht ledig gesprochen wird, tritt immer schreiender<lb/> zu Tage und erregt vielfach berechtigte Mißstimmung gegen den Eckpfeiler unsers<lb/> Staates, unser Heer.</p><lb/> <p xml:id="ID_2373"> Diese Mißstimmung wird aber noch verstärkt durch die Art und Weise,<lb/> wie die Losnummer, die alle regelmäßig Auszühebenden eines Jahrgangs bei<lb/> der Musterung vor den Lokalbehörden ziehen, wirksam wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_2374"> Nach Maßgabe der auf die Musterung gegründeten Ersatzverteiluug durch<lb/> das Kriegsministerium und das Armeekorps macht sich nämlich der Brigade¬<lb/> kommandeur für seine Aushebungsbezirke — Kreise — «ach der Zahl der vor¬<lb/> ermittelten tauglichen Militärpflichtiger eine Ersntzverteilnug im voraus zurecht.<lb/> Aber bei der wirklichen Aushebung pflegt sich das Bild oft stark zu verschieben;<lb/> die Zahl der Militürtanglichen steigt häusig oder füllt gegen den Voranschlag,<lb/> und es kommt deshalb immer vor, daß in einem Brigadebczirk jemand mit<lb/> einer verhältnismäßig niedrigern Losnummer nicht eingestellt wird, der in<lb/> einem andern dienen muß, mag auch von allen Behörden noch so sorgfältig<lb/> und gleichmäßig gearbeitet worden sein. Das ist aber noch nicht das schlimmste<lb/> Übel, sondern die größte Ungerechtigkeit tritt dadurch ein, daß jeder Bezirk<lb/> eine bestimmte Zahl Mannschaften für jede der verschiednen Waffengattungen<lb/> aufbringen muß. Wenn nun für Garde, Kürassiere, Fußartillerie, Pioniere,<lb/> Verkehrstruppen, Handwerker und Marine nicht genug nach Körperlichkeit<lb/> und Beruf geeignete Personen gefunden werden, so müssen auch die Besitzer<lb/> der allerhöchsten Losnummern mit herangezogen werden, und die an sie ge¬<lb/> knüpften Erwartungen und Vorausberechnuugeu sind getäuscht.</p><lb/> <p xml:id="ID_2375" next="#ID_2376"> Für die Nichtspezialisten, d. h. für die Infanterie, die übrige Kavallerie,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0466]
Rückständiges in unsrer deutschen wehrverfassung
meinen Wehrpflicht nicht gleich in allen Folgerungen durchsetzen zu können
glaubte. Die durch das Los bestimmten Überzähligen wurden als eine Art
Landwehrrekruten angesehen, und man begnügte sich mit der Aussicht, daß im
Kriege ja doch alle Wehrfähigen in Anspruch genommen werden würden. Die
Gleichheit aller vor dem Gesetz war damals noch nicht so in Fleisch und Blut
übergegangen, daß man die Ungerechtigkeit des Losungswesens im allgemeinen
tief empfand, obwohl es auch zu jener Zeit schon bei manchem Kopfschütteln
verursachte, wenn in derselben Gemeinde schwächlichere Leute, die gerade noch
die Militärtauglichkeitsgrenze erreichten, und deren Arbeitskräfte für ihre Fa¬
milien, wenn auch nicht gesetzlich notwendig, doch sehr wünschenswert waren,
dienen mußten, während sich viele kräftige, in jeder Hinsicht abkömmliche Leute
für den Friedensdienst freilosten.
Nach der Reorganisation von 1860 wurde die Sache weniger auffüllig, weil
nnn wieder fast alle Diensttauglichen eingestellt und durch Dispositionsbeur¬
laubungen im dritten Dienstjahre der nötige Raum in der Armee geschaffen
wurde. Ebenso wurde nach den Feldzügen von 1866 und 1870/71 dnrch Ncu-
formationen und später durch die probeweise eingeführte zweijährige Dienstzeit
die Zahl der Freigelosten vermindert. Jetzt darf man aber wohl die zweijährige
Dienstzeit als endgiltig eingeführt betrachten, und es giebt nun kein andres Mittel
mehr, die jährlich stark wachsende Masse der Überzähligen abzustoßen, als die
Losung, und die ganze Ungerechtigkeit, daß man durch einen reinen Glücks-
zufnll der wichtigsten Bürgerpflicht ledig gesprochen wird, tritt immer schreiender
zu Tage und erregt vielfach berechtigte Mißstimmung gegen den Eckpfeiler unsers
Staates, unser Heer.
Diese Mißstimmung wird aber noch verstärkt durch die Art und Weise,
wie die Losnummer, die alle regelmäßig Auszühebenden eines Jahrgangs bei
der Musterung vor den Lokalbehörden ziehen, wirksam wird.
Nach Maßgabe der auf die Musterung gegründeten Ersatzverteiluug durch
das Kriegsministerium und das Armeekorps macht sich nämlich der Brigade¬
kommandeur für seine Aushebungsbezirke — Kreise — «ach der Zahl der vor¬
ermittelten tauglichen Militärpflichtiger eine Ersntzverteilnug im voraus zurecht.
Aber bei der wirklichen Aushebung pflegt sich das Bild oft stark zu verschieben;
die Zahl der Militürtanglichen steigt häusig oder füllt gegen den Voranschlag,
und es kommt deshalb immer vor, daß in einem Brigadebczirk jemand mit
einer verhältnismäßig niedrigern Losnummer nicht eingestellt wird, der in
einem andern dienen muß, mag auch von allen Behörden noch so sorgfältig
und gleichmäßig gearbeitet worden sein. Das ist aber noch nicht das schlimmste
Übel, sondern die größte Ungerechtigkeit tritt dadurch ein, daß jeder Bezirk
eine bestimmte Zahl Mannschaften für jede der verschiednen Waffengattungen
aufbringen muß. Wenn nun für Garde, Kürassiere, Fußartillerie, Pioniere,
Verkehrstruppen, Handwerker und Marine nicht genug nach Körperlichkeit
und Beruf geeignete Personen gefunden werden, so müssen auch die Besitzer
der allerhöchsten Losnummern mit herangezogen werden, und die an sie ge¬
knüpften Erwartungen und Vorausberechnuugeu sind getäuscht.
Für die Nichtspezialisten, d. h. für die Infanterie, die übrige Kavallerie,
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