Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.Die britische Regierung Reform forderte. Denn der Mittelstand war nicht gewillt, noch länger als Die Reform des Parlaments schließt den zweiten Abschnitt in der Ent¬ Eine hohe Auffassung von dem Wesen und den Pflichten eines Staats Die Aufgabe, die den so Verbündeten besitzenden Klassen erwuchs, wenn Die britische Regierung Reform forderte. Denn der Mittelstand war nicht gewillt, noch länger als Die Reform des Parlaments schließt den zweiten Abschnitt in der Ent¬ Eine hohe Auffassung von dem Wesen und den Pflichten eines Staats Die Aufgabe, die den so Verbündeten besitzenden Klassen erwuchs, wenn <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0248" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237534"/> <fw type="header" place="top"> Die britische Regierung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1341" prev="#ID_1340"> Reform forderte. Denn der Mittelstand war nicht gewillt, noch länger als<lb/> gehorsamer Diener hinter dem Adel herzntrotten und sich mit den Brosamen<lb/> zu begnügen, die vom Tische der Großen fielen. Er wollte nicht länger den<lb/> bloßen Handlungsgehilfen in dem großen Geschäfte John Bull K Co. spielen,<lb/> sondern sehnte sich nach der Stellung eines Teilhabers, zu der ihn sein Ver¬<lb/> mögen und seine Kenntnisse berechtigten. Das mußte die Oligarchie einsehen.<lb/> Sie hatte nur die Wahl zwischen klugem Einlenken, das ihr die Möglichkeit<lb/> fernerer Führung offen ließ, und einem Aufstande, der sie für immer aller<lb/> Macht beraubt haben würde. Sie wühlte das erste, indem sie in der Par¬<lb/> lamentsreform den Mittelstand zur Teilnahme an der Regierung zuließ.</p><lb/> <p xml:id="ID_1342"> Die Reform des Parlaments schließt den zweiten Abschnitt in der Ent¬<lb/> wicklung der englischen Regierung seit dem Beginn der Neuzeit. Auf die<lb/> persönliche Herrschaft des Königs war die der Parteien eines Standes gefolgt,<lb/> und diese wich nun den Parteien aus mehreren Stünden. Der dritte Abschnitt<lb/> steht unter dem Zeichen des Interessenausgleichs zwischen Adel und Mittel¬<lb/> stand. Ein ungeheurer Fortschritt vollzieht sich in diesem Abschnitte. Der<lb/> Staat ist nicht länger der Ausbeutung eines kurzsichtigen Königs oder einer<lb/> engen Adelskaste preisgegeben und wird in den Stand gesetzt, durch Aus¬<lb/> dehnung der Verwaltung seine Aufgabe besser zu erfüllen. Aber über Partei-<lb/> regiernng ist das Viktorianische England nicht hinausgekommen. So viele Ge¬<lb/> brechen es geheilt hat, in diesen: steht es nicht über der frühern Zeit.</p><lb/> <p xml:id="ID_1343"> Eine hohe Auffassung von dem Wesen und den Pflichten eines Staats<lb/> war bei dem Mittelstände so wenig zu finden wie bei dem Adel. Seine<lb/> Standessclbstsucht war um nichts geringer. Er bestand auf dem, was er für<lb/> seinen Vorteil hielt, und dem hatte sich der Adel zu fügen. Die volkswirt¬<lb/> schaftlichen Grundsätze, die durch hohe Kornzölle dem Adel seine Hanptein-<lb/> ncihmeauelle gesichert hatten, machten denen des Freihandels Platz, die den<lb/> Ackerbau lähmten und das Land entvölkerten, aber Handel und Gewerbe<lb/> förderten. Mehr als Ungebundenheit in der Entfaltung seiner wirtschaftlichem<lb/> Kräfte verlangte der Mittelstand nicht, nach alleiniger Herrschaft zu streben<lb/> lag ihm fern. Solange er also seinen eignen Vorteil gesichert sah, überließ<lb/> er nicht ungern die weitere Führung der öffentlichen Angelegenheiten dem<lb/> regierungsgeübten Adel. Nicht lange, so erkannte auch dieser die Wege, seine<lb/> in der Landwirtschaft erlittnen Verluste auszugleichen, und nahm an der Aus¬<lb/> nutzung der durch die neue Volkswirtschaft erschlossenen Einnahmequellen mit<lb/> demselben Eifer teil, mit dem er vordem die Schutzzölle verteidigt hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1344" next="#ID_1345"> Die Aufgabe, die den so Verbündeten besitzenden Klassen erwuchs, wenn<lb/> sie am Nuder bleiben wollten, war, Handel und Gewerbe blühend zu erhalten.<lb/> In den Fnbrikgegendcn hatte die chartistische Bewegung ihre größte Stärke<lb/> entfaltet, dort waren das Elend und die Erbitterung am schärfsten ausgeprägt.<lb/> Wenn es gelang, die Lage der Fabrikarbeiter und der Bergleute durch lohnenden<lb/> Verdienst zu heben, dünn fiel die Gefahr einer chartistischen Erhebung weg.<lb/> Mit leerem Magen wird der Mensch leicht rebellisch, aber nach einer guten<lb/> Mahlzeit sieht die Welt gar nicht so übel aus. Die Freihandelspolitik, für<lb/> die sich die Regierung entschied, erfüllte also einen doppelten Zweck, einen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0248]
Die britische Regierung
Reform forderte. Denn der Mittelstand war nicht gewillt, noch länger als
gehorsamer Diener hinter dem Adel herzntrotten und sich mit den Brosamen
zu begnügen, die vom Tische der Großen fielen. Er wollte nicht länger den
bloßen Handlungsgehilfen in dem großen Geschäfte John Bull K Co. spielen,
sondern sehnte sich nach der Stellung eines Teilhabers, zu der ihn sein Ver¬
mögen und seine Kenntnisse berechtigten. Das mußte die Oligarchie einsehen.
Sie hatte nur die Wahl zwischen klugem Einlenken, das ihr die Möglichkeit
fernerer Führung offen ließ, und einem Aufstande, der sie für immer aller
Macht beraubt haben würde. Sie wühlte das erste, indem sie in der Par¬
lamentsreform den Mittelstand zur Teilnahme an der Regierung zuließ.
Die Reform des Parlaments schließt den zweiten Abschnitt in der Ent¬
wicklung der englischen Regierung seit dem Beginn der Neuzeit. Auf die
persönliche Herrschaft des Königs war die der Parteien eines Standes gefolgt,
und diese wich nun den Parteien aus mehreren Stünden. Der dritte Abschnitt
steht unter dem Zeichen des Interessenausgleichs zwischen Adel und Mittel¬
stand. Ein ungeheurer Fortschritt vollzieht sich in diesem Abschnitte. Der
Staat ist nicht länger der Ausbeutung eines kurzsichtigen Königs oder einer
engen Adelskaste preisgegeben und wird in den Stand gesetzt, durch Aus¬
dehnung der Verwaltung seine Aufgabe besser zu erfüllen. Aber über Partei-
regiernng ist das Viktorianische England nicht hinausgekommen. So viele Ge¬
brechen es geheilt hat, in diesen: steht es nicht über der frühern Zeit.
Eine hohe Auffassung von dem Wesen und den Pflichten eines Staats
war bei dem Mittelstände so wenig zu finden wie bei dem Adel. Seine
Standessclbstsucht war um nichts geringer. Er bestand auf dem, was er für
seinen Vorteil hielt, und dem hatte sich der Adel zu fügen. Die volkswirt¬
schaftlichen Grundsätze, die durch hohe Kornzölle dem Adel seine Hanptein-
ncihmeauelle gesichert hatten, machten denen des Freihandels Platz, die den
Ackerbau lähmten und das Land entvölkerten, aber Handel und Gewerbe
förderten. Mehr als Ungebundenheit in der Entfaltung seiner wirtschaftlichem
Kräfte verlangte der Mittelstand nicht, nach alleiniger Herrschaft zu streben
lag ihm fern. Solange er also seinen eignen Vorteil gesichert sah, überließ
er nicht ungern die weitere Führung der öffentlichen Angelegenheiten dem
regierungsgeübten Adel. Nicht lange, so erkannte auch dieser die Wege, seine
in der Landwirtschaft erlittnen Verluste auszugleichen, und nahm an der Aus¬
nutzung der durch die neue Volkswirtschaft erschlossenen Einnahmequellen mit
demselben Eifer teil, mit dem er vordem die Schutzzölle verteidigt hatte.
Die Aufgabe, die den so Verbündeten besitzenden Klassen erwuchs, wenn
sie am Nuder bleiben wollten, war, Handel und Gewerbe blühend zu erhalten.
In den Fnbrikgegendcn hatte die chartistische Bewegung ihre größte Stärke
entfaltet, dort waren das Elend und die Erbitterung am schärfsten ausgeprägt.
Wenn es gelang, die Lage der Fabrikarbeiter und der Bergleute durch lohnenden
Verdienst zu heben, dünn fiel die Gefahr einer chartistischen Erhebung weg.
Mit leerem Magen wird der Mensch leicht rebellisch, aber nach einer guten
Mahlzeit sieht die Welt gar nicht so übel aus. Die Freihandelspolitik, für
die sich die Regierung entschied, erfüllte also einen doppelten Zweck, einen
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