Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Nationalitätskämpfc

und sie selber, zu dauerndem Aufenthalt in Frankreich gezwungen, sich vor¬
kommen wie in der Fremde und in der Verbannung. Das sind überwiegende
Merkmale, in denen das Deutschtum noch nicht vom Fremdtume überwuchert
worden ist. Der damit nicht vereinbare Zug zum Franzosentum ist eine Verw¬
irrung. Verirrte Brüder hören aber darum noch nicht auf Brüder zu sein.
Sie dem Fremdtume preisgeben, hieße für die nationale Zugehörigkeit die
eigne freie Wahl entscheidend machen. Das würde zu völliger Negierung des
Nationalitätsprinzips führen; denn dann könnte niemandem, der die Sache seiner
Nation verlassen hat und zu einer andern übergegangen ist, der leiseste Vor-
wurf gemacht werden, falls er dabei nicht etwa einen Eid gebrochen oder sonst¬
wie schimpflich gehandelt Hütte.

Die jetzt noch deutschfeindlichen Elsässer können in ihren Kindern oder
Enkeln der deutschen Sache völlig zurückgewonnen werden, sobald in diesen
das abhanden gekommne Nationalbewußtsein wieder auflebt. Unverkennbar
aber stellen sie eine Ansangsstufe des Übergangs zum Franzosentum dar, das
in ihrer Nachkommenschaft bei Fortdauer starker französierender Einflüsse
-- etwa Auswandrung nach Frankreich und französische Heirat -- die Ober¬
hand erlangen würde. Schon die nächste Stufe des Übergangs, die neben der
französischen Gesinnung durch vollkommne Zweisprachigkeit charakterisiert ist,
dürfte für die Weiterentwicklung in französischem Sinne den Ausschlag geben;
denn ihr wird wohl meist die Stufe folgen, auf der die angestammte deutsche
Sprache nur uoch im Hintergründe als Erinnerung erscheint. Mit ihr ist der
Übergang zum Franzosentum besiegelt, und eine Umkehr ohne einen völligen
Umschwung der äußern Verhältnisse -- etwa Rückkehr in deutschredende Gegend --
ausgeschlossen.

Der eben skizzierte Übergang vom Deutschtum zum Franzosentum füllt
schon in den Bereich der Natioualitütskümpfe. Nationalitätskämpfe sind Kämpfe,
deren Gegenstand die nationale Zugehörigkeit von Personen, Ortschaften, Land¬
schaften ist. Die einzelnen Phasen des Nationalitätskampfes sind in einer
später näher darzustellenden Weise an die oben genannten Merkmale der Natio¬
nalität geknüpft.

Für das Gebiet, wo die Angehörigen einer Nation vereinigt sind, giebt
es keine genau deckende Bezeichnung: der hier allein zutreffende Ausdruck
"National- oder Nationalitütsgebiet" wird nicht angewandt. Anstatt dessen
behilft man sich mit der Bezeichnung "Sprachgebiet," die doch nnr von einem
unter mehreren Merkmalen der Nationalitnt, allerdings von dem am meisten
in die Augen fallenden und Ausschlag gebenden, hergenommen ist. Sprach¬
gebiet ist das zusammenhängende Gebiet, wo eine bestimmte Sprache von der
überwiegende" Masse der Bevölkerung geredet wird. Seinen Abschluß findet
das Sprachgebiet in Sprachgrenzen, die nicht wie die politischen Grenzen durch
Staatsverträge festgelegt und verändert werden, sondern das allmählich ge¬
staltete Ergebnis freier geschichtlicher Entwicklung sind. Bei ihrer Gestaltung
können wohl Staatsvertrnge und Maßnahmen der Gesetzgebung neben andern
Umständen mitwirken, aber ihre freie Entwicklung läßt sich dadurch nicht in
vorher genau bestimmbare Bahnen leite".


Nationalitätskämpfc

und sie selber, zu dauerndem Aufenthalt in Frankreich gezwungen, sich vor¬
kommen wie in der Fremde und in der Verbannung. Das sind überwiegende
Merkmale, in denen das Deutschtum noch nicht vom Fremdtume überwuchert
worden ist. Der damit nicht vereinbare Zug zum Franzosentum ist eine Verw¬
irrung. Verirrte Brüder hören aber darum noch nicht auf Brüder zu sein.
Sie dem Fremdtume preisgeben, hieße für die nationale Zugehörigkeit die
eigne freie Wahl entscheidend machen. Das würde zu völliger Negierung des
Nationalitätsprinzips führen; denn dann könnte niemandem, der die Sache seiner
Nation verlassen hat und zu einer andern übergegangen ist, der leiseste Vor-
wurf gemacht werden, falls er dabei nicht etwa einen Eid gebrochen oder sonst¬
wie schimpflich gehandelt Hütte.

Die jetzt noch deutschfeindlichen Elsässer können in ihren Kindern oder
Enkeln der deutschen Sache völlig zurückgewonnen werden, sobald in diesen
das abhanden gekommne Nationalbewußtsein wieder auflebt. Unverkennbar
aber stellen sie eine Ansangsstufe des Übergangs zum Franzosentum dar, das
in ihrer Nachkommenschaft bei Fortdauer starker französierender Einflüsse
— etwa Auswandrung nach Frankreich und französische Heirat — die Ober¬
hand erlangen würde. Schon die nächste Stufe des Übergangs, die neben der
französischen Gesinnung durch vollkommne Zweisprachigkeit charakterisiert ist,
dürfte für die Weiterentwicklung in französischem Sinne den Ausschlag geben;
denn ihr wird wohl meist die Stufe folgen, auf der die angestammte deutsche
Sprache nur uoch im Hintergründe als Erinnerung erscheint. Mit ihr ist der
Übergang zum Franzosentum besiegelt, und eine Umkehr ohne einen völligen
Umschwung der äußern Verhältnisse — etwa Rückkehr in deutschredende Gegend —
ausgeschlossen.

Der eben skizzierte Übergang vom Deutschtum zum Franzosentum füllt
schon in den Bereich der Natioualitütskümpfe. Nationalitätskämpfe sind Kämpfe,
deren Gegenstand die nationale Zugehörigkeit von Personen, Ortschaften, Land¬
schaften ist. Die einzelnen Phasen des Nationalitätskampfes sind in einer
später näher darzustellenden Weise an die oben genannten Merkmale der Natio¬
nalität geknüpft.

Für das Gebiet, wo die Angehörigen einer Nation vereinigt sind, giebt
es keine genau deckende Bezeichnung: der hier allein zutreffende Ausdruck
„National- oder Nationalitütsgebiet" wird nicht angewandt. Anstatt dessen
behilft man sich mit der Bezeichnung „Sprachgebiet," die doch nnr von einem
unter mehreren Merkmalen der Nationalitnt, allerdings von dem am meisten
in die Augen fallenden und Ausschlag gebenden, hergenommen ist. Sprach¬
gebiet ist das zusammenhängende Gebiet, wo eine bestimmte Sprache von der
überwiegende» Masse der Bevölkerung geredet wird. Seinen Abschluß findet
das Sprachgebiet in Sprachgrenzen, die nicht wie die politischen Grenzen durch
Staatsverträge festgelegt und verändert werden, sondern das allmählich ge¬
staltete Ergebnis freier geschichtlicher Entwicklung sind. Bei ihrer Gestaltung
können wohl Staatsvertrnge und Maßnahmen der Gesetzgebung neben andern
Umständen mitwirken, aber ihre freie Entwicklung läßt sich dadurch nicht in
vorher genau bestimmbare Bahnen leite».


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0072" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236596"/>
          <fw type="header" place="top"> Nationalitätskämpfc</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_261" prev="#ID_260"> und sie selber, zu dauerndem Aufenthalt in Frankreich gezwungen, sich vor¬<lb/>
kommen wie in der Fremde und in der Verbannung. Das sind überwiegende<lb/>
Merkmale, in denen das Deutschtum noch nicht vom Fremdtume überwuchert<lb/>
worden ist. Der damit nicht vereinbare Zug zum Franzosentum ist eine Verw¬<lb/>
irrung. Verirrte Brüder hören aber darum noch nicht auf Brüder zu sein.<lb/>
Sie dem Fremdtume preisgeben, hieße für die nationale Zugehörigkeit die<lb/>
eigne freie Wahl entscheidend machen. Das würde zu völliger Negierung des<lb/>
Nationalitätsprinzips führen; denn dann könnte niemandem, der die Sache seiner<lb/>
Nation verlassen hat und zu einer andern übergegangen ist, der leiseste Vor-<lb/>
wurf gemacht werden, falls er dabei nicht etwa einen Eid gebrochen oder sonst¬<lb/>
wie schimpflich gehandelt Hütte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_262"> Die jetzt noch deutschfeindlichen Elsässer können in ihren Kindern oder<lb/>
Enkeln der deutschen Sache völlig zurückgewonnen werden, sobald in diesen<lb/>
das abhanden gekommne Nationalbewußtsein wieder auflebt. Unverkennbar<lb/>
aber stellen sie eine Ansangsstufe des Übergangs zum Franzosentum dar, das<lb/>
in ihrer Nachkommenschaft bei Fortdauer starker französierender Einflüsse<lb/>
&#x2014; etwa Auswandrung nach Frankreich und französische Heirat &#x2014; die Ober¬<lb/>
hand erlangen würde. Schon die nächste Stufe des Übergangs, die neben der<lb/>
französischen Gesinnung durch vollkommne Zweisprachigkeit charakterisiert ist,<lb/>
dürfte für die Weiterentwicklung in französischem Sinne den Ausschlag geben;<lb/>
denn ihr wird wohl meist die Stufe folgen, auf der die angestammte deutsche<lb/>
Sprache nur uoch im Hintergründe als Erinnerung erscheint. Mit ihr ist der<lb/>
Übergang zum Franzosentum besiegelt, und eine Umkehr ohne einen völligen<lb/>
Umschwung der äußern Verhältnisse &#x2014; etwa Rückkehr in deutschredende Gegend &#x2014;<lb/>
ausgeschlossen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_263"> Der eben skizzierte Übergang vom Deutschtum zum Franzosentum füllt<lb/>
schon in den Bereich der Natioualitütskümpfe. Nationalitätskämpfe sind Kämpfe,<lb/>
deren Gegenstand die nationale Zugehörigkeit von Personen, Ortschaften, Land¬<lb/>
schaften ist. Die einzelnen Phasen des Nationalitätskampfes sind in einer<lb/>
später näher darzustellenden Weise an die oben genannten Merkmale der Natio¬<lb/>
nalität geknüpft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_264"> Für das Gebiet, wo die Angehörigen einer Nation vereinigt sind, giebt<lb/>
es keine genau deckende Bezeichnung: der hier allein zutreffende Ausdruck<lb/>
&#x201E;National- oder Nationalitütsgebiet" wird nicht angewandt. Anstatt dessen<lb/>
behilft man sich mit der Bezeichnung &#x201E;Sprachgebiet," die doch nnr von einem<lb/>
unter mehreren Merkmalen der Nationalitnt, allerdings von dem am meisten<lb/>
in die Augen fallenden und Ausschlag gebenden, hergenommen ist. Sprach¬<lb/>
gebiet ist das zusammenhängende Gebiet, wo eine bestimmte Sprache von der<lb/>
überwiegende» Masse der Bevölkerung geredet wird. Seinen Abschluß findet<lb/>
das Sprachgebiet in Sprachgrenzen, die nicht wie die politischen Grenzen durch<lb/>
Staatsverträge festgelegt und verändert werden, sondern das allmählich ge¬<lb/>
staltete Ergebnis freier geschichtlicher Entwicklung sind. Bei ihrer Gestaltung<lb/>
können wohl Staatsvertrnge und Maßnahmen der Gesetzgebung neben andern<lb/>
Umständen mitwirken, aber ihre freie Entwicklung läßt sich dadurch nicht in<lb/>
vorher genau bestimmbare Bahnen leite».</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0072] Nationalitätskämpfc und sie selber, zu dauerndem Aufenthalt in Frankreich gezwungen, sich vor¬ kommen wie in der Fremde und in der Verbannung. Das sind überwiegende Merkmale, in denen das Deutschtum noch nicht vom Fremdtume überwuchert worden ist. Der damit nicht vereinbare Zug zum Franzosentum ist eine Verw¬ irrung. Verirrte Brüder hören aber darum noch nicht auf Brüder zu sein. Sie dem Fremdtume preisgeben, hieße für die nationale Zugehörigkeit die eigne freie Wahl entscheidend machen. Das würde zu völliger Negierung des Nationalitätsprinzips führen; denn dann könnte niemandem, der die Sache seiner Nation verlassen hat und zu einer andern übergegangen ist, der leiseste Vor- wurf gemacht werden, falls er dabei nicht etwa einen Eid gebrochen oder sonst¬ wie schimpflich gehandelt Hütte. Die jetzt noch deutschfeindlichen Elsässer können in ihren Kindern oder Enkeln der deutschen Sache völlig zurückgewonnen werden, sobald in diesen das abhanden gekommne Nationalbewußtsein wieder auflebt. Unverkennbar aber stellen sie eine Ansangsstufe des Übergangs zum Franzosentum dar, das in ihrer Nachkommenschaft bei Fortdauer starker französierender Einflüsse — etwa Auswandrung nach Frankreich und französische Heirat — die Ober¬ hand erlangen würde. Schon die nächste Stufe des Übergangs, die neben der französischen Gesinnung durch vollkommne Zweisprachigkeit charakterisiert ist, dürfte für die Weiterentwicklung in französischem Sinne den Ausschlag geben; denn ihr wird wohl meist die Stufe folgen, auf der die angestammte deutsche Sprache nur uoch im Hintergründe als Erinnerung erscheint. Mit ihr ist der Übergang zum Franzosentum besiegelt, und eine Umkehr ohne einen völligen Umschwung der äußern Verhältnisse — etwa Rückkehr in deutschredende Gegend — ausgeschlossen. Der eben skizzierte Übergang vom Deutschtum zum Franzosentum füllt schon in den Bereich der Natioualitütskümpfe. Nationalitätskämpfe sind Kämpfe, deren Gegenstand die nationale Zugehörigkeit von Personen, Ortschaften, Land¬ schaften ist. Die einzelnen Phasen des Nationalitätskampfes sind in einer später näher darzustellenden Weise an die oben genannten Merkmale der Natio¬ nalität geknüpft. Für das Gebiet, wo die Angehörigen einer Nation vereinigt sind, giebt es keine genau deckende Bezeichnung: der hier allein zutreffende Ausdruck „National- oder Nationalitütsgebiet" wird nicht angewandt. Anstatt dessen behilft man sich mit der Bezeichnung „Sprachgebiet," die doch nnr von einem unter mehreren Merkmalen der Nationalitnt, allerdings von dem am meisten in die Augen fallenden und Ausschlag gebenden, hergenommen ist. Sprach¬ gebiet ist das zusammenhängende Gebiet, wo eine bestimmte Sprache von der überwiegende» Masse der Bevölkerung geredet wird. Seinen Abschluß findet das Sprachgebiet in Sprachgrenzen, die nicht wie die politischen Grenzen durch Staatsverträge festgelegt und verändert werden, sondern das allmählich ge¬ staltete Ergebnis freier geschichtlicher Entwicklung sind. Bei ihrer Gestaltung können wohl Staatsvertrnge und Maßnahmen der Gesetzgebung neben andern Umständen mitwirken, aber ihre freie Entwicklung läßt sich dadurch nicht in vorher genau bestimmbare Bahnen leite».

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/72
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/72>, abgerufen am 27.09.2024.