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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Nationalitätskämpfe

sehen werden. Durch sie wird das ursprüngliche Zahlenverhältnis zu Gunsten
der eingewanderten Nation verändert, hier und dort bis zu völligem Ver¬
schwinden der Eingebornen. So ist es möglich, daß eine Gegend ihre Sprache
und ihre Nationalität wechselt, ohne daß es dabei zu einer nennenswerten
Aufsaugung einheimischer Vevölkernngselemente kommt, weil diese der vor¬
dringenden Nation das Feld geräumt hatten. Manche Teile unsers ehemals
slawischen Ostens sind auf solche Art deutsch geworden, nachdem die ein¬
heimischen Wenden teils erschlagen, teils vertrieben, teils freiwillig aus¬
gewandert waren. Da bewirkte die deutsche Einwcmdrung gewissermaßen eine
Nenbesiedlung. Aber es gab auch Gegenden in Sachsen, Thüringen, Branden¬
burg, auch im südlichen Mecklenburg, wo sich Wenden in dichter Masse, um
Zahl den deutschen Eiuwandrern noch lange Zeit überlegen, erhielten. Hier
konnte die Germanisierung nur durch eine weitgehende Aufsaugung der slawischen
Rückstände erreicht werden, und die hier lebende deutsche Bevölkerung hat sich
aufgebaut auf einer starken, zumeist heute noch deutlich erkennbaren slawischen
Grundlage.

Durch eine wie geringe Beimischung römischer Bevölkerung Gallien zu
Beginn unsrer Zeitrechnung romanisiert wurde, ist bekannt. Das ist ein
extremer Fall, der nur durch die außerordentlich geringe nationale Widerstands¬
kraft der Kelten, die überwältigende Anziehungskraft des Weltreichs, die starke
Ausprägung des Römertums und dessen Überlegenheit in der Kultur erklärt
werden kann. Heute, unter den in der Kultur einander nahe stehenden Völkern
Europas, wird es wohl immer einer überlegnen Zahl von Einwandrern be¬
dürfen, die in einer Gegend herrschende Sprache zu verdrängen.

Die Art, wie sich Sprachgebiete ausdehnen, sich Sprachgrenzen verschieben,
hat man treffend mit den Küstenhebungen verglichen: seichte Stellen werden
dabei über den Meeresspiegel gehoben; es bilden sich Inseln, deren mehrere
bei weiterer Hebung zu einer einzigen zusammenwachsen und schließlich direkten
Anschluß an die Küste des Festlands gewinnen, landfest werden. In ähn¬
licher Weise geschieht auch die Ausdehnung der Sprachgebiete in der Regel
nicht durch einfaches allmähliches Verschieben der Sprachgrenze; vielmehr
kristallisieren sich die über die Sprachgrenze gewanderter Träger der vor¬
dringenden Nation zunächst inmitten des fremden Sprachgebiets als Minder¬
heiten in fremdsprachigen Orten, oder als Sprachinseln, indem sie eigne Sied¬
lungen begründen. Die letzte Art des Vorgehns ist die erfolgverheißendere. Durch
weitem Zuzug und natürliche Vermehrung an Ort und Stelle können zwar
aus den Minderheiten allmählich Sprachinseln erwachsen, sie sind aber dem
Assimiliertwerdeu durch das einheimische Volkstum weit mehr ausgesetzt, als
die von vornherein einheitlichen Sprachinseln. In diesen Thatsachen liegt
auch der wunderbare Erfolg der deutschen Bauernkolonisation begründet: aus¬
wandernde Bauern sind immer am ehesten in der Lage, sich in einheitlichen
Siedlungen niederzulassen und so durch Anlehnung aneinander anch einen
festen Halt für ihre Nationalität zu gewinnen. Kaufleute, Handwerker und
Arbeiter dagegen sind darauf angewiesen, sich schou bestehenden Siedlungen
anzuschließen und sich der dort herrschenden Nationalität anzupassen- Auf


Nationalitätskämpfe

sehen werden. Durch sie wird das ursprüngliche Zahlenverhältnis zu Gunsten
der eingewanderten Nation verändert, hier und dort bis zu völligem Ver¬
schwinden der Eingebornen. So ist es möglich, daß eine Gegend ihre Sprache
und ihre Nationalität wechselt, ohne daß es dabei zu einer nennenswerten
Aufsaugung einheimischer Vevölkernngselemente kommt, weil diese der vor¬
dringenden Nation das Feld geräumt hatten. Manche Teile unsers ehemals
slawischen Ostens sind auf solche Art deutsch geworden, nachdem die ein¬
heimischen Wenden teils erschlagen, teils vertrieben, teils freiwillig aus¬
gewandert waren. Da bewirkte die deutsche Einwcmdrung gewissermaßen eine
Nenbesiedlung. Aber es gab auch Gegenden in Sachsen, Thüringen, Branden¬
burg, auch im südlichen Mecklenburg, wo sich Wenden in dichter Masse, um
Zahl den deutschen Eiuwandrern noch lange Zeit überlegen, erhielten. Hier
konnte die Germanisierung nur durch eine weitgehende Aufsaugung der slawischen
Rückstände erreicht werden, und die hier lebende deutsche Bevölkerung hat sich
aufgebaut auf einer starken, zumeist heute noch deutlich erkennbaren slawischen
Grundlage.

Durch eine wie geringe Beimischung römischer Bevölkerung Gallien zu
Beginn unsrer Zeitrechnung romanisiert wurde, ist bekannt. Das ist ein
extremer Fall, der nur durch die außerordentlich geringe nationale Widerstands¬
kraft der Kelten, die überwältigende Anziehungskraft des Weltreichs, die starke
Ausprägung des Römertums und dessen Überlegenheit in der Kultur erklärt
werden kann. Heute, unter den in der Kultur einander nahe stehenden Völkern
Europas, wird es wohl immer einer überlegnen Zahl von Einwandrern be¬
dürfen, die in einer Gegend herrschende Sprache zu verdrängen.

Die Art, wie sich Sprachgebiete ausdehnen, sich Sprachgrenzen verschieben,
hat man treffend mit den Küstenhebungen verglichen: seichte Stellen werden
dabei über den Meeresspiegel gehoben; es bilden sich Inseln, deren mehrere
bei weiterer Hebung zu einer einzigen zusammenwachsen und schließlich direkten
Anschluß an die Küste des Festlands gewinnen, landfest werden. In ähn¬
licher Weise geschieht auch die Ausdehnung der Sprachgebiete in der Regel
nicht durch einfaches allmähliches Verschieben der Sprachgrenze; vielmehr
kristallisieren sich die über die Sprachgrenze gewanderter Träger der vor¬
dringenden Nation zunächst inmitten des fremden Sprachgebiets als Minder¬
heiten in fremdsprachigen Orten, oder als Sprachinseln, indem sie eigne Sied¬
lungen begründen. Die letzte Art des Vorgehns ist die erfolgverheißendere. Durch
weitem Zuzug und natürliche Vermehrung an Ort und Stelle können zwar
aus den Minderheiten allmählich Sprachinseln erwachsen, sie sind aber dem
Assimiliertwerdeu durch das einheimische Volkstum weit mehr ausgesetzt, als
die von vornherein einheitlichen Sprachinseln. In diesen Thatsachen liegt
auch der wunderbare Erfolg der deutschen Bauernkolonisation begründet: aus¬
wandernde Bauern sind immer am ehesten in der Lage, sich in einheitlichen
Siedlungen niederzulassen und so durch Anlehnung aneinander anch einen
festen Halt für ihre Nationalität zu gewinnen. Kaufleute, Handwerker und
Arbeiter dagegen sind darauf angewiesen, sich schou bestehenden Siedlungen
anzuschließen und sich der dort herrschenden Nationalität anzupassen- Auf


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[0498] Nationalitätskämpfe sehen werden. Durch sie wird das ursprüngliche Zahlenverhältnis zu Gunsten der eingewanderten Nation verändert, hier und dort bis zu völligem Ver¬ schwinden der Eingebornen. So ist es möglich, daß eine Gegend ihre Sprache und ihre Nationalität wechselt, ohne daß es dabei zu einer nennenswerten Aufsaugung einheimischer Vevölkernngselemente kommt, weil diese der vor¬ dringenden Nation das Feld geräumt hatten. Manche Teile unsers ehemals slawischen Ostens sind auf solche Art deutsch geworden, nachdem die ein¬ heimischen Wenden teils erschlagen, teils vertrieben, teils freiwillig aus¬ gewandert waren. Da bewirkte die deutsche Einwcmdrung gewissermaßen eine Nenbesiedlung. Aber es gab auch Gegenden in Sachsen, Thüringen, Branden¬ burg, auch im südlichen Mecklenburg, wo sich Wenden in dichter Masse, um Zahl den deutschen Eiuwandrern noch lange Zeit überlegen, erhielten. Hier konnte die Germanisierung nur durch eine weitgehende Aufsaugung der slawischen Rückstände erreicht werden, und die hier lebende deutsche Bevölkerung hat sich aufgebaut auf einer starken, zumeist heute noch deutlich erkennbaren slawischen Grundlage. Durch eine wie geringe Beimischung römischer Bevölkerung Gallien zu Beginn unsrer Zeitrechnung romanisiert wurde, ist bekannt. Das ist ein extremer Fall, der nur durch die außerordentlich geringe nationale Widerstands¬ kraft der Kelten, die überwältigende Anziehungskraft des Weltreichs, die starke Ausprägung des Römertums und dessen Überlegenheit in der Kultur erklärt werden kann. Heute, unter den in der Kultur einander nahe stehenden Völkern Europas, wird es wohl immer einer überlegnen Zahl von Einwandrern be¬ dürfen, die in einer Gegend herrschende Sprache zu verdrängen. Die Art, wie sich Sprachgebiete ausdehnen, sich Sprachgrenzen verschieben, hat man treffend mit den Küstenhebungen verglichen: seichte Stellen werden dabei über den Meeresspiegel gehoben; es bilden sich Inseln, deren mehrere bei weiterer Hebung zu einer einzigen zusammenwachsen und schließlich direkten Anschluß an die Küste des Festlands gewinnen, landfest werden. In ähn¬ licher Weise geschieht auch die Ausdehnung der Sprachgebiete in der Regel nicht durch einfaches allmähliches Verschieben der Sprachgrenze; vielmehr kristallisieren sich die über die Sprachgrenze gewanderter Träger der vor¬ dringenden Nation zunächst inmitten des fremden Sprachgebiets als Minder¬ heiten in fremdsprachigen Orten, oder als Sprachinseln, indem sie eigne Sied¬ lungen begründen. Die letzte Art des Vorgehns ist die erfolgverheißendere. Durch weitem Zuzug und natürliche Vermehrung an Ort und Stelle können zwar aus den Minderheiten allmählich Sprachinseln erwachsen, sie sind aber dem Assimiliertwerdeu durch das einheimische Volkstum weit mehr ausgesetzt, als die von vornherein einheitlichen Sprachinseln. In diesen Thatsachen liegt auch der wunderbare Erfolg der deutschen Bauernkolonisation begründet: aus¬ wandernde Bauern sind immer am ehesten in der Lage, sich in einheitlichen Siedlungen niederzulassen und so durch Anlehnung aneinander anch einen festen Halt für ihre Nationalität zu gewinnen. Kaufleute, Handwerker und Arbeiter dagegen sind darauf angewiesen, sich schou bestehenden Siedlungen anzuschließen und sich der dort herrschenden Nationalität anzupassen- Auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/498>, abgerufen am 06.02.2025.