Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.Ncitionalitätskämpfe Die nationale Aufsaugung oder Entnationalisierung ist immer erst der Der wirksamste Hebel zur Einleitung der nationalen Aufsaugung ist die Eine wie starke fremdsprachige Einwandrung dazu gehört, die bisherige Grenzboten I 1S02 62
Ncitionalitätskämpfe Die nationale Aufsaugung oder Entnationalisierung ist immer erst der Der wirksamste Hebel zur Einleitung der nationalen Aufsaugung ist die Eine wie starke fremdsprachige Einwandrung dazu gehört, die bisherige Grenzboten I 1S02 62
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0497" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/237021"/> <fw type="header" place="top"> Ncitionalitätskämpfe</fw><lb/> <p xml:id="ID_1956"> Die nationale Aufsaugung oder Entnationalisierung ist immer erst der<lb/> Schlußakt des Vorgangs, der in der Verschiebung einer Sprachgrenze seinen<lb/> sichtbaren Ausdruck findet. Entnationalisierung Einzelner kann allerdings<lb/> schon geschehn, wenn die Nation, der sie bisher angehört hatten, noch fest auf<lb/> ihrem angestammten Boden fußt. Eine häufiger wiederkehrende Erscheinung<lb/> wird sie aber erst, wenn eine der beiden in Frage kommenden Nationen<lb/> mindestens in örtlich oder regional beschränkter Bedrängnis ist. Und mehr<lb/> als alles andre trägt dann die fortschreitende Entnationalisierung dazu bei,<lb/> die Lage der bedrängten, vielleicht schon in der Zahl überflügelten Nation<lb/> immer hoffnungsloser zu gestalten. Denn die Entnationalisierten gehn ihr ja<lb/> nicht allein verloren, sie wachsen außerdem noch der überlegnen Nation zu<lb/> und wirken deshalb in doppeltem Maße verschiebend ans das Zahlenverhältnis<lb/> zu Ungunsten der zurückweichenden Nation. Stehn die Dinge so, dann ist<lb/> kein Halten mehr. Gelingt es der bedrängten Nation nicht, noch in letzter<lb/> Stunde aus den unverbrauchter Kraftreserven ihres Hinterlands Unterstützung<lb/> herbeizuziehn, die stark genug ist, einen Wandel der Entwicklung zu erzwingen,<lb/> so ist ihre völlige Verdrängung aus dem Kampfgebiete besiegelt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1957"> Der wirksamste Hebel zur Einleitung der nationalen Aufsaugung ist die<lb/> Ehe zwischen Angehörigen beider Nationen. Die ans ihr hervorgehenden<lb/> Kinder sind ebenso viele Bindeglieder zwischen beiden; man kann von vorn¬<lb/> herein nicht wissen, welcher von beiden sie einst angehören, oder ob sie immer<lb/> in einer vermittelnden Stellung verharren werden. Aber auch die Verwandten<lb/> der aus den beiden ringenden Nationen stammenden Eheleute werden ein¬<lb/> ander näher kommen, und der nationale Gegensatz wird dadurch eine Milde¬<lb/> rung erfahren. Und diese Milderung des nationalen Gegensatzes wird immer<lb/> der sich kräftiger bethätigenden Nation zu gute kommen; wenn bei einer von<lb/> beiden das Nationalbewußtsein zu schwinden beginnt, so ist damit schon die<lb/> Bahn des Entnationalisiernngsprozesses betreten. Die Kinder national gleich-<lb/> giltiger Eltern werden sich bald ihrer Muttersprache schämen, zumal wenn im<lb/> öffentlichen Verkehr, auf der Straße und in der Schule eine andre herrscht,<lb/> und sie werden die dort geübte Sprache auch in den Familienkreis hinein¬<lb/> tragen und in später von ihnen gegründeten Familien zur ausschließlich herr¬<lb/> schenden machen. Und wenn bei Kindern, die Mischehen entstammen, auch<lb/> zunächst der mütterliche Einfluß zu überwiegen pflegt, so können doch die Ein¬<lb/> wirkungen des öffentlichen Lebens leicht der andern Nationalität zum Siege<lb/> verhelfen und dazu führen, daß die große Menge dieser Mischlinge schließlich<lb/> d^ einen von beiden ringenden Sprachen zufällt und sich keineswegs über<lb/> beide etwa gleichmäßig verteilt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1958" next="#ID_1959"> Eine wie starke fremdsprachige Einwandrung dazu gehört, die bisherige<lb/> Sprache und Nationalität einer Gegend zu verdrüugcn, läßt sich so allgemein<lb/> "icht beantworten. Die Zahl ist eben nicht das allein Entscheidende. Bei<lb/> den Veründrungcn der Sprachgebiete, die sich in geschichtlichen Zeitläuften zu¬<lb/> getragen haben, ist das Zahlenverhältnis der vordringenden Einwandrer zu<lb/> den Eingevornen außerordentlich verschieden gewesen. Die dabei in der Regel<lb/> eintretende Abwandruug eingeborner Bevölkerungsteile darf auch nicht über-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1S02 62</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0497]
Ncitionalitätskämpfe
Die nationale Aufsaugung oder Entnationalisierung ist immer erst der
Schlußakt des Vorgangs, der in der Verschiebung einer Sprachgrenze seinen
sichtbaren Ausdruck findet. Entnationalisierung Einzelner kann allerdings
schon geschehn, wenn die Nation, der sie bisher angehört hatten, noch fest auf
ihrem angestammten Boden fußt. Eine häufiger wiederkehrende Erscheinung
wird sie aber erst, wenn eine der beiden in Frage kommenden Nationen
mindestens in örtlich oder regional beschränkter Bedrängnis ist. Und mehr
als alles andre trägt dann die fortschreitende Entnationalisierung dazu bei,
die Lage der bedrängten, vielleicht schon in der Zahl überflügelten Nation
immer hoffnungsloser zu gestalten. Denn die Entnationalisierten gehn ihr ja
nicht allein verloren, sie wachsen außerdem noch der überlegnen Nation zu
und wirken deshalb in doppeltem Maße verschiebend ans das Zahlenverhältnis
zu Ungunsten der zurückweichenden Nation. Stehn die Dinge so, dann ist
kein Halten mehr. Gelingt es der bedrängten Nation nicht, noch in letzter
Stunde aus den unverbrauchter Kraftreserven ihres Hinterlands Unterstützung
herbeizuziehn, die stark genug ist, einen Wandel der Entwicklung zu erzwingen,
so ist ihre völlige Verdrängung aus dem Kampfgebiete besiegelt.
Der wirksamste Hebel zur Einleitung der nationalen Aufsaugung ist die
Ehe zwischen Angehörigen beider Nationen. Die ans ihr hervorgehenden
Kinder sind ebenso viele Bindeglieder zwischen beiden; man kann von vorn¬
herein nicht wissen, welcher von beiden sie einst angehören, oder ob sie immer
in einer vermittelnden Stellung verharren werden. Aber auch die Verwandten
der aus den beiden ringenden Nationen stammenden Eheleute werden ein¬
ander näher kommen, und der nationale Gegensatz wird dadurch eine Milde¬
rung erfahren. Und diese Milderung des nationalen Gegensatzes wird immer
der sich kräftiger bethätigenden Nation zu gute kommen; wenn bei einer von
beiden das Nationalbewußtsein zu schwinden beginnt, so ist damit schon die
Bahn des Entnationalisiernngsprozesses betreten. Die Kinder national gleich-
giltiger Eltern werden sich bald ihrer Muttersprache schämen, zumal wenn im
öffentlichen Verkehr, auf der Straße und in der Schule eine andre herrscht,
und sie werden die dort geübte Sprache auch in den Familienkreis hinein¬
tragen und in später von ihnen gegründeten Familien zur ausschließlich herr¬
schenden machen. Und wenn bei Kindern, die Mischehen entstammen, auch
zunächst der mütterliche Einfluß zu überwiegen pflegt, so können doch die Ein¬
wirkungen des öffentlichen Lebens leicht der andern Nationalität zum Siege
verhelfen und dazu führen, daß die große Menge dieser Mischlinge schließlich
d^ einen von beiden ringenden Sprachen zufällt und sich keineswegs über
beide etwa gleichmäßig verteilt.
Eine wie starke fremdsprachige Einwandrung dazu gehört, die bisherige
Sprache und Nationalität einer Gegend zu verdrüugcn, läßt sich so allgemein
"icht beantworten. Die Zahl ist eben nicht das allein Entscheidende. Bei
den Veründrungcn der Sprachgebiete, die sich in geschichtlichen Zeitläuften zu¬
getragen haben, ist das Zahlenverhältnis der vordringenden Einwandrer zu
den Eingevornen außerordentlich verschieden gewesen. Die dabei in der Regel
eintretende Abwandruug eingeborner Bevölkerungsteile darf auch nicht über-
Grenzboten I 1S02 62
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