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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Vom ehemaligen Königreich Hannover

Beamtentume zusammenhing und von der königlichen Ungnade getroffen werden
konnte.

Verfassungsgeschichtlich läßt sich dieser unselige Zustand heute am besten
aus den Folgerungen der Gesetzesnovelle vom 5. September 1848 verstehn
und erklären. Die Provinziallandsch after mußten noch an die allgemeine
Ständeverscimmlnng angeglichen werden, aber gegen ein Gesetz vom 1. August
1851, das dieses durchführen sollte, protestierten die Landschaften und wandten
sich zum Teil beschwerdeführend an den Deutschen Bund, der Einhalt befahl.
Das war noch unter Ernst August. Da kam Georg V. an die Regierung,
und sein Ministerium Schein sollte die Differenzen zwischen den Rittern und
dem fortschrittlichen Bürgertum ausgleichen, wenn möglich auf verfassungs¬
mäßigen Wege, obwohl der König für seine Person mehr auf der ritterschaft¬
lichen Seite stand. Aber nach zweijährigen erfolglosen Verhandlungen, da
weder die Landschcifteu uoch die allgemeinen Stände nachgeben wollten, trat
dieses Ministerium zurück, und das folgende (Lütcken) unterzog sich der Auf¬
gabe, die Angelegenheit an den Bund zur Entscheidung zu bringen, was der
kluge Ernst August niemals hätte geschehn lassen. Sein Sohn erreichte ein
Urteil, wie er es wünschte, zu Gunsten der Ritter, denn ein Bundesbeschlnß
vom 12. April 1855 hob das Gesetz von 1851 und die einschlügigen Be¬
stimmungen der Novelle von 1848 auf. Aber diese Frage der Provinzial¬
landschaften war nur ein Teil des Streites, über den verhältnismäßig leicht
hinwegzukommen war, sodaß man die Entscheidung des Bundes am 19. Mai
in Hannover veröffentlichte. Am 19. April stellte jedoch der Bund das Landes-
verfassungsgcsetz von 1840 (das den Staatsstreich von 1837 sozusagen lega¬
lisiert hatte) wieder her, sodaß z. B. die erste Stündekammer nicht mehr nach
der Novelle von 1848, sondern nach der alten Verfassung von 1819 zu¬
sammenzusetzen war, und dieser Unterschied war gewaltig. Denn die bisherige
erste Kammer und die frühere von 1819 bis 1849 hatten nichts weiter mit¬
einander gemeinsam, als daß beide wesentlich den Grundbesitz vertraten, aber
in der letzten hatte die Ritterschaft nicht nnr jede Sondervertretung eingebüßt,
sondern thatsächlich überhaupt keine Vertretung mehr, denn diese demokratisch
verseuchte erste Kammer bestand, soweit Grundbesitzende darin waren, aus
Bauern, und unter den dreiunddreißig Namen der Kammer von 1854 finden
sich nur drei adliche. Die Ritterschaft hatte also das Verlorne zurückgewonnen-
Aber wie sollte man nun weiter in Hannover zu einem verfassungsmäßigen
Gesetz und einer neuen ersten Kammer kommen, mit oder ohne die bisherigen
Stunde? Man zögerte, den Bundesbeschlnß vom 19. April zu publizieren,
und das Ministerium ist darüber gestürzt. Liitcken war die Sache bedenklich,
er wollte nicht ohne die bisherigen Stunde vorgehn, wollte keinen Sprung ins
Leere, der König hingegen hielt sich für berechtigt, kraft der Bundesbeschlüsse
und seines enim6N8 ohne Zustimmung der Stunde anzuordnen, was er als
notwendig ansah, worin ihn der frühere Minister von Bvrries (er hatte unter
Sehele das Departement des Innern gehabt) durch eine Denkschrift bestärkt
hatte. An: 29. Juli wurde die Entlassung der bisherigen Minister und die
Ernennung eines neuen Ministeriums Borries veröffentlicht, dann wurden die


Vom ehemaligen Königreich Hannover

Beamtentume zusammenhing und von der königlichen Ungnade getroffen werden
konnte.

Verfassungsgeschichtlich läßt sich dieser unselige Zustand heute am besten
aus den Folgerungen der Gesetzesnovelle vom 5. September 1848 verstehn
und erklären. Die Provinziallandsch after mußten noch an die allgemeine
Ständeverscimmlnng angeglichen werden, aber gegen ein Gesetz vom 1. August
1851, das dieses durchführen sollte, protestierten die Landschaften und wandten
sich zum Teil beschwerdeführend an den Deutschen Bund, der Einhalt befahl.
Das war noch unter Ernst August. Da kam Georg V. an die Regierung,
und sein Ministerium Schein sollte die Differenzen zwischen den Rittern und
dem fortschrittlichen Bürgertum ausgleichen, wenn möglich auf verfassungs¬
mäßigen Wege, obwohl der König für seine Person mehr auf der ritterschaft¬
lichen Seite stand. Aber nach zweijährigen erfolglosen Verhandlungen, da
weder die Landschcifteu uoch die allgemeinen Stände nachgeben wollten, trat
dieses Ministerium zurück, und das folgende (Lütcken) unterzog sich der Auf¬
gabe, die Angelegenheit an den Bund zur Entscheidung zu bringen, was der
kluge Ernst August niemals hätte geschehn lassen. Sein Sohn erreichte ein
Urteil, wie er es wünschte, zu Gunsten der Ritter, denn ein Bundesbeschlnß
vom 12. April 1855 hob das Gesetz von 1851 und die einschlügigen Be¬
stimmungen der Novelle von 1848 auf. Aber diese Frage der Provinzial¬
landschaften war nur ein Teil des Streites, über den verhältnismäßig leicht
hinwegzukommen war, sodaß man die Entscheidung des Bundes am 19. Mai
in Hannover veröffentlichte. Am 19. April stellte jedoch der Bund das Landes-
verfassungsgcsetz von 1840 (das den Staatsstreich von 1837 sozusagen lega¬
lisiert hatte) wieder her, sodaß z. B. die erste Stündekammer nicht mehr nach
der Novelle von 1848, sondern nach der alten Verfassung von 1819 zu¬
sammenzusetzen war, und dieser Unterschied war gewaltig. Denn die bisherige
erste Kammer und die frühere von 1819 bis 1849 hatten nichts weiter mit¬
einander gemeinsam, als daß beide wesentlich den Grundbesitz vertraten, aber
in der letzten hatte die Ritterschaft nicht nnr jede Sondervertretung eingebüßt,
sondern thatsächlich überhaupt keine Vertretung mehr, denn diese demokratisch
verseuchte erste Kammer bestand, soweit Grundbesitzende darin waren, aus
Bauern, und unter den dreiunddreißig Namen der Kammer von 1854 finden
sich nur drei adliche. Die Ritterschaft hatte also das Verlorne zurückgewonnen-
Aber wie sollte man nun weiter in Hannover zu einem verfassungsmäßigen
Gesetz und einer neuen ersten Kammer kommen, mit oder ohne die bisherigen
Stunde? Man zögerte, den Bundesbeschlnß vom 19. April zu publizieren,
und das Ministerium ist darüber gestürzt. Liitcken war die Sache bedenklich,
er wollte nicht ohne die bisherigen Stunde vorgehn, wollte keinen Sprung ins
Leere, der König hingegen hielt sich für berechtigt, kraft der Bundesbeschlüsse
und seines enim6N8 ohne Zustimmung der Stunde anzuordnen, was er als
notwendig ansah, worin ihn der frühere Minister von Bvrries (er hatte unter
Sehele das Departement des Innern gehabt) durch eine Denkschrift bestärkt
hatte. An: 29. Juli wurde die Entlassung der bisherigen Minister und die
Ernennung eines neuen Ministeriums Borries veröffentlicht, dann wurden die


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[0418] Vom ehemaligen Königreich Hannover Beamtentume zusammenhing und von der königlichen Ungnade getroffen werden konnte. Verfassungsgeschichtlich läßt sich dieser unselige Zustand heute am besten aus den Folgerungen der Gesetzesnovelle vom 5. September 1848 verstehn und erklären. Die Provinziallandsch after mußten noch an die allgemeine Ständeverscimmlnng angeglichen werden, aber gegen ein Gesetz vom 1. August 1851, das dieses durchführen sollte, protestierten die Landschaften und wandten sich zum Teil beschwerdeführend an den Deutschen Bund, der Einhalt befahl. Das war noch unter Ernst August. Da kam Georg V. an die Regierung, und sein Ministerium Schein sollte die Differenzen zwischen den Rittern und dem fortschrittlichen Bürgertum ausgleichen, wenn möglich auf verfassungs¬ mäßigen Wege, obwohl der König für seine Person mehr auf der ritterschaft¬ lichen Seite stand. Aber nach zweijährigen erfolglosen Verhandlungen, da weder die Landschcifteu uoch die allgemeinen Stände nachgeben wollten, trat dieses Ministerium zurück, und das folgende (Lütcken) unterzog sich der Auf¬ gabe, die Angelegenheit an den Bund zur Entscheidung zu bringen, was der kluge Ernst August niemals hätte geschehn lassen. Sein Sohn erreichte ein Urteil, wie er es wünschte, zu Gunsten der Ritter, denn ein Bundesbeschlnß vom 12. April 1855 hob das Gesetz von 1851 und die einschlügigen Be¬ stimmungen der Novelle von 1848 auf. Aber diese Frage der Provinzial¬ landschaften war nur ein Teil des Streites, über den verhältnismäßig leicht hinwegzukommen war, sodaß man die Entscheidung des Bundes am 19. Mai in Hannover veröffentlichte. Am 19. April stellte jedoch der Bund das Landes- verfassungsgcsetz von 1840 (das den Staatsstreich von 1837 sozusagen lega¬ lisiert hatte) wieder her, sodaß z. B. die erste Stündekammer nicht mehr nach der Novelle von 1848, sondern nach der alten Verfassung von 1819 zu¬ sammenzusetzen war, und dieser Unterschied war gewaltig. Denn die bisherige erste Kammer und die frühere von 1819 bis 1849 hatten nichts weiter mit¬ einander gemeinsam, als daß beide wesentlich den Grundbesitz vertraten, aber in der letzten hatte die Ritterschaft nicht nnr jede Sondervertretung eingebüßt, sondern thatsächlich überhaupt keine Vertretung mehr, denn diese demokratisch verseuchte erste Kammer bestand, soweit Grundbesitzende darin waren, aus Bauern, und unter den dreiunddreißig Namen der Kammer von 1854 finden sich nur drei adliche. Die Ritterschaft hatte also das Verlorne zurückgewonnen- Aber wie sollte man nun weiter in Hannover zu einem verfassungsmäßigen Gesetz und einer neuen ersten Kammer kommen, mit oder ohne die bisherigen Stunde? Man zögerte, den Bundesbeschlnß vom 19. April zu publizieren, und das Ministerium ist darüber gestürzt. Liitcken war die Sache bedenklich, er wollte nicht ohne die bisherigen Stunde vorgehn, wollte keinen Sprung ins Leere, der König hingegen hielt sich für berechtigt, kraft der Bundesbeschlüsse und seines enim6N8 ohne Zustimmung der Stunde anzuordnen, was er als notwendig ansah, worin ihn der frühere Minister von Bvrries (er hatte unter Sehele das Departement des Innern gehabt) durch eine Denkschrift bestärkt hatte. An: 29. Juli wurde die Entlassung der bisherigen Minister und die Ernennung eines neuen Ministeriums Borries veröffentlicht, dann wurden die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/418>, abgerufen am 27.09.2024.