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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Uursächsische Ztreifzüge

Ohren durchbohrte und die Krone des Papstes ins Wanken brachte. Entsetzt
wollte der Kurfürst den Arm ausstrecken, sie zu halten -- da erwachte er.
Im achten Jahre danach, am 5. Mai 1525, starb Friedrich der Weise im
Schlosse zu Lochan. und zwar auch unter Zeichen und Wundern, wie es dieser
Zeit gemäß war. Luther, der sich damals mitten in den Sturm des Thüringer
Bauernkriegs begeben hatte, um die Aufrührer durch seine Predigt zu be¬
ruhigen, schrieb danach in einem Briefe: "Mein gnädigster Herr, der Kurfürst,
ist mit sanftem Mut und frischer Vernunft christlich und selig gestorben. Das
Zeichen seines Todes war ein Regenbogen, den wir, Philippus und ich, sahen
in der Nacht über der Lochan."

Auch weiterhin liegt der Schimmer des Geheimnisvoller über der Lochau.
Denn auch die seltsame Geschichte des Magisters Stiefel, von der vielleicht
das alte Studentenlied:


Stiefel mus; sterben

einen Nachhall bewahrt, hat sich hier zugetragen. Magister Michael Stiefel
war ein schwäbischer Augustinermönch aus Eßlingen. der. um des Evcmgeluuns
willen aus der Heimat vertrieben, 1523 durch Luthers Verwendung die Pfarr-
stelle zu Lochau erhielt. Stiefel war aber nicht nur Theolog, soudern hatte
auch eine ausgcsprvchne Neigung zur Mathematik und zu kabbalistischer Zahlen¬
symbolik. Namentlich beschäftigte ihn das Problem, die Zeit des jüngsten
Gerichts und der Wiederkunft Christi zu berechnen. Schließlich glaubte er,
durch arithmetische Uiudeutung und Kombination einiger Schriftworte den
19. Oktober 1533 als den Tag des Weltgerichts gefunden zu haben. Er
teilte dieses Resultat seinem Freunde Luther mit, und dieser warnte ihn ge¬
bührend vor solchem überklugen Spintisieren. Aber die Abgeschiedenheit von
andern Studierten, in der Stiefel zu Lochau lebte, führte ihn immer wieder
auf sein Problem zurück. Ich muß nur ihn vorstellen, wie er in den langen
Winternächten, während der Wolf in der Heide heulte und der Uhu vom
Schloßturme krächzte, in der Studierstube immer wieder vor seinen Zahlen
saß. oder wie er sein Geheimnis hinaustrug unter die rauschenden Riesen oev
Waldes, bis ihm endlich seine Meinung zum unerschütterlichen Axiom ge¬
worden war. Nun predigte er auch öffentlich vom nahen Weltuntergang,
und darüber geriet die ganze Gegend in Aufregung. Schon eunge Tage vor
dem 19. Oktober 1533 war die Lochau voll von Leuten, die sich von Stiefel
auf das Ende aller Dinge vorbereiten ließen. Als nun der verhängnisvolle
Tag anbrach, war alles in der Kirche versammelt. Da ließ Stiefel das Vieh
aus der Stadt treiben, weil dieses zuerst sterben werde, damit nicht die Bürger
d"res solchen Anblick erschreckt würde"! und als nun baw das H°rü
Hirten ertönte, meinten manche der Schwärmer schon die Posaune des Crz-
e-'gels zu vernehme... Bald darauf schloß Stiefel seine Predigt mit den
Worten: ..Er wird kommen, kommen, kommen" und tröstete die klagenden
Weiber. Aber die achte Stunde, die er für den Beginn des Weltgerichts be¬
rechnet hatte, ging vorüber - und um neun Uhr wurde Stiefel wen Beauf¬
tragten des Kurfürsten festgenommen, und damit er nicht weiteres Unheil an¬
richte, nach Wittenberg gebracht. Luther sah in dein ganzen Vorgang nchts


Uursächsische Ztreifzüge

Ohren durchbohrte und die Krone des Papstes ins Wanken brachte. Entsetzt
wollte der Kurfürst den Arm ausstrecken, sie zu halten — da erwachte er.
Im achten Jahre danach, am 5. Mai 1525, starb Friedrich der Weise im
Schlosse zu Lochan. und zwar auch unter Zeichen und Wundern, wie es dieser
Zeit gemäß war. Luther, der sich damals mitten in den Sturm des Thüringer
Bauernkriegs begeben hatte, um die Aufrührer durch seine Predigt zu be¬
ruhigen, schrieb danach in einem Briefe: „Mein gnädigster Herr, der Kurfürst,
ist mit sanftem Mut und frischer Vernunft christlich und selig gestorben. Das
Zeichen seines Todes war ein Regenbogen, den wir, Philippus und ich, sahen
in der Nacht über der Lochan."

Auch weiterhin liegt der Schimmer des Geheimnisvoller über der Lochau.
Denn auch die seltsame Geschichte des Magisters Stiefel, von der vielleicht
das alte Studentenlied:


Stiefel mus; sterben

einen Nachhall bewahrt, hat sich hier zugetragen. Magister Michael Stiefel
war ein schwäbischer Augustinermönch aus Eßlingen. der. um des Evcmgeluuns
willen aus der Heimat vertrieben, 1523 durch Luthers Verwendung die Pfarr-
stelle zu Lochau erhielt. Stiefel war aber nicht nur Theolog, soudern hatte
auch eine ausgcsprvchne Neigung zur Mathematik und zu kabbalistischer Zahlen¬
symbolik. Namentlich beschäftigte ihn das Problem, die Zeit des jüngsten
Gerichts und der Wiederkunft Christi zu berechnen. Schließlich glaubte er,
durch arithmetische Uiudeutung und Kombination einiger Schriftworte den
19. Oktober 1533 als den Tag des Weltgerichts gefunden zu haben. Er
teilte dieses Resultat seinem Freunde Luther mit, und dieser warnte ihn ge¬
bührend vor solchem überklugen Spintisieren. Aber die Abgeschiedenheit von
andern Studierten, in der Stiefel zu Lochau lebte, führte ihn immer wieder
auf sein Problem zurück. Ich muß nur ihn vorstellen, wie er in den langen
Winternächten, während der Wolf in der Heide heulte und der Uhu vom
Schloßturme krächzte, in der Studierstube immer wieder vor seinen Zahlen
saß. oder wie er sein Geheimnis hinaustrug unter die rauschenden Riesen oev
Waldes, bis ihm endlich seine Meinung zum unerschütterlichen Axiom ge¬
worden war. Nun predigte er auch öffentlich vom nahen Weltuntergang,
und darüber geriet die ganze Gegend in Aufregung. Schon eunge Tage vor
dem 19. Oktober 1533 war die Lochau voll von Leuten, die sich von Stiefel
auf das Ende aller Dinge vorbereiten ließen. Als nun der verhängnisvolle
Tag anbrach, war alles in der Kirche versammelt. Da ließ Stiefel das Vieh
aus der Stadt treiben, weil dieses zuerst sterben werde, damit nicht die Bürger
d"res solchen Anblick erschreckt würde»! und als nun baw das H°rü
Hirten ertönte, meinten manche der Schwärmer schon die Posaune des Crz-
e-'gels zu vernehme... Bald darauf schloß Stiefel seine Predigt mit den
Worten: ..Er wird kommen, kommen, kommen" und tröstete die klagenden
Weiber. Aber die achte Stunde, die er für den Beginn des Weltgerichts be¬
rechnet hatte, ging vorüber - und um neun Uhr wurde Stiefel wen Beauf¬
tragten des Kurfürsten festgenommen, und damit er nicht weiteres Unheil an¬
richte, nach Wittenberg gebracht. Luther sah in dein ganzen Vorgang nchts


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[0381] Uursächsische Ztreifzüge Ohren durchbohrte und die Krone des Papstes ins Wanken brachte. Entsetzt wollte der Kurfürst den Arm ausstrecken, sie zu halten — da erwachte er. Im achten Jahre danach, am 5. Mai 1525, starb Friedrich der Weise im Schlosse zu Lochan. und zwar auch unter Zeichen und Wundern, wie es dieser Zeit gemäß war. Luther, der sich damals mitten in den Sturm des Thüringer Bauernkriegs begeben hatte, um die Aufrührer durch seine Predigt zu be¬ ruhigen, schrieb danach in einem Briefe: „Mein gnädigster Herr, der Kurfürst, ist mit sanftem Mut und frischer Vernunft christlich und selig gestorben. Das Zeichen seines Todes war ein Regenbogen, den wir, Philippus und ich, sahen in der Nacht über der Lochan." Auch weiterhin liegt der Schimmer des Geheimnisvoller über der Lochau. Denn auch die seltsame Geschichte des Magisters Stiefel, von der vielleicht das alte Studentenlied: Stiefel mus; sterben einen Nachhall bewahrt, hat sich hier zugetragen. Magister Michael Stiefel war ein schwäbischer Augustinermönch aus Eßlingen. der. um des Evcmgeluuns willen aus der Heimat vertrieben, 1523 durch Luthers Verwendung die Pfarr- stelle zu Lochau erhielt. Stiefel war aber nicht nur Theolog, soudern hatte auch eine ausgcsprvchne Neigung zur Mathematik und zu kabbalistischer Zahlen¬ symbolik. Namentlich beschäftigte ihn das Problem, die Zeit des jüngsten Gerichts und der Wiederkunft Christi zu berechnen. Schließlich glaubte er, durch arithmetische Uiudeutung und Kombination einiger Schriftworte den 19. Oktober 1533 als den Tag des Weltgerichts gefunden zu haben. Er teilte dieses Resultat seinem Freunde Luther mit, und dieser warnte ihn ge¬ bührend vor solchem überklugen Spintisieren. Aber die Abgeschiedenheit von andern Studierten, in der Stiefel zu Lochau lebte, führte ihn immer wieder auf sein Problem zurück. Ich muß nur ihn vorstellen, wie er in den langen Winternächten, während der Wolf in der Heide heulte und der Uhu vom Schloßturme krächzte, in der Studierstube immer wieder vor seinen Zahlen saß. oder wie er sein Geheimnis hinaustrug unter die rauschenden Riesen oev Waldes, bis ihm endlich seine Meinung zum unerschütterlichen Axiom ge¬ worden war. Nun predigte er auch öffentlich vom nahen Weltuntergang, und darüber geriet die ganze Gegend in Aufregung. Schon eunge Tage vor dem 19. Oktober 1533 war die Lochau voll von Leuten, die sich von Stiefel auf das Ende aller Dinge vorbereiten ließen. Als nun der verhängnisvolle Tag anbrach, war alles in der Kirche versammelt. Da ließ Stiefel das Vieh aus der Stadt treiben, weil dieses zuerst sterben werde, damit nicht die Bürger d"res solchen Anblick erschreckt würde»! und als nun baw das H°rü Hirten ertönte, meinten manche der Schwärmer schon die Posaune des Crz- e-'gels zu vernehme... Bald darauf schloß Stiefel seine Predigt mit den Worten: ..Er wird kommen, kommen, kommen" und tröstete die klagenden Weiber. Aber die achte Stunde, die er für den Beginn des Weltgerichts be¬ rechnet hatte, ging vorüber - und um neun Uhr wurde Stiefel wen Beauf¬ tragten des Kurfürsten festgenommen, und damit er nicht weiteres Unheil an¬ richte, nach Wittenberg gebracht. Luther sah in dein ganzen Vorgang nchts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/381>, abgerufen am 20.10.2024.