Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Die soziale Bearbeitung der Dienstbotenfrage. Man erinnert sich Das ist ja sehr schade und ein höchst betrübendes Zeichen, das erkennen läßt, Herr Doktor Seitlich hat 9000 Berliner Hausfrauen befragt, und darauf haben Maßgebliches und Unmaßgebliches Die soziale Bearbeitung der Dienstbotenfrage. Man erinnert sich Das ist ja sehr schade und ein höchst betrübendes Zeichen, das erkennen läßt, Herr Doktor Seitlich hat 9000 Berliner Hausfrauen befragt, und darauf haben <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0230" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236754"/> </div> <div n="1"> <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/> <p xml:id="ID_871"> Die soziale Bearbeitung der Dienstbotenfrage. Man erinnert sich<lb/> vielleicht, daß vor einiger Zeit das Verhältnis von Herrschaften und Dienstboten<lb/> in Berlin von einem Herrn Doktor Seitlich sozial bearbeitet worden ist. Zu diesem<lb/> Ende hatte der genannte Herr Versammlungen berufen und Fragebogen an Herr¬<lb/> schaften und Dienstboten versandt. Das Material, das ihm die Beantwortung<lb/> dieser Bogen brachte, hat er nur „wissenschaftlich" bearbeitet und in einem Buche<lb/> veröffentlicht, mit dem sich kürzlich der Verein Berliner Dienstboten und Dienst¬<lb/> herrschaften beschäftigt hat. In der fraglichen Versammlung war auch Herr Doktor<lb/> Seitlich erschienen, um sich bitter zu beklagen, daß sein Buch von sämtlichen Zeitungen<lb/> schlecht behandelt, das heißt entweder totgeschwiegen oder heruntergerissen sei. Es<lb/> wurde festgestellt, daß in der That nur der „Vorwärts" Worte der Anerkennung<lb/> für die Arbeit gehabt habe.</p><lb/> <p xml:id="ID_872"> Das ist ja sehr schade und ein höchst betrübendes Zeichen, das erkennen läßt,<lb/> auf wie tiefem Sozialwissenschaftlichen Standpunkte diese Herren Redakteure stehn.<lb/> Aber seien wir auch nicht ungerecht. Redakteure sind gewissermaßen auch Menschen.<lb/> Man kann es ihnen nachfühlen, wie unangenehm sie berührt sind, wenn sie ab¬<lb/> gehetzt und nervös nach Hause kommen und Tag für Tag mit Klagen über die<lb/> Dienstboten von der lieben Frnn empfangen werden. Man kann sich denken, daß<lb/> diese Stimmung nicht geeignet ist, den Anschauungen des Herrn Seitlich über die<lb/> beklagenswerte Lage der Berliner Dienstboten gerecht zu werden. Ja es ist nicht<lb/> ausgeschlossen, daß ein solcher Redakteur und seine liebe Fran zu der Meinung<lb/> kommen, daß, wenn es eine Dienstbotennot giebt, unter dieser Not viel mehr die<lb/> Herrschaften als die Dienstboten zu leiden hoben, und daß man gegen Leute, die<lb/> durch ihre sozialen Bestrebungen die Dienstboten gegen die Herrschaften aufhetzen,<lb/> diese also belästigen und in Unruhe versetzen, eigentlich mit dem Grvbenunfug-<lb/> paragraphen vorgehn solle. — Aber das sind gewiß unwissenschaftliche Irrtümer. Die<lb/> orthodoxe Lehre gebietet die Annahme, daß der Arbeiter der Verelendung entgegen<lb/> geht, und daß er unter allen Umständen uuter einem Joche seufzt, das er ab-<lb/> zuschütteln das Recht und die Pflicht hat. Wie kann man behaupten — wie in<lb/> jener Versammlung geschah —, daß die Interessen von Herrschaften und Dienst¬<lb/> boten miteinander gehn? Die orthodoxe Lehre stellt den Grundsatz des Interessen¬<lb/> gegensatzes von Herrschaft und Dienstbote auf, und damit ist die Sache entschieden.<lb/> Man braucht ja auch nur Versammlungen zu veranstalten, die nötigen Rede« zu<lb/> halten, und wie Herr Seitlich sagte, Herrschaften und Dienstboten aufeinander los¬<lb/> zulassen, und man wird den Interessengegensatz hervortreten sehen.</p><lb/> <p xml:id="ID_873"> Herr Doktor Seitlich hat 9000 Berliner Hausfrauen befragt, und darauf haben<lb/> nnr 187 geantwortet. Und von 9000 befragten Dienstmädchen'haben nnr 459 eine<lb/> Autwort gegeben. Wir könnten das Resultat ein klägliches nennen. Wir könnten<lb/> sagen, durch das Schweigen einer so großen Zahl sei bewiesen, daß man kein<lb/> Interesse an Doktor Stillichs Rettungsversuchen habe, und daß die soziale Not,<lb/> die er voraussetzt, gar nicht vorhanden sei. Wir könnten hinzufügen, daß die ge¬<lb/> ringe Zahl von Antworten gegenüber der großen Menge derer, die nichr befragt<lb/> worden sind oder geschwiegen haben, ohne alle Beweiskraft sei. Aber wir würden<lb/> uns dadurch einer Verkennung des Wesens von Statistik und Fragebogen schuldig<lb/> machen. Mit Zahlen kann man alles machen. Antworten kann man in jeder Weise<lb/> und zu jedem Zwecke gruppieren. Sie helfen nichts, wenn nicht von vornherein<lb/> „wissenschaftlich" feststand, was bei der Erhebung herauskomme» sollte. Hier stand<lb/> nun fest, das Berliner Dienstmädchen sei die verfolgte Unschuld. Dies nnn in<lb/> wirksamer Weise darzustellen, dazu sind die Fragebogen dn, und dazu sind sie von<lb/> großem Wert, und es kommt auf die Zahl der Antworten nicht an.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0230]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die soziale Bearbeitung der Dienstbotenfrage. Man erinnert sich
vielleicht, daß vor einiger Zeit das Verhältnis von Herrschaften und Dienstboten
in Berlin von einem Herrn Doktor Seitlich sozial bearbeitet worden ist. Zu diesem
Ende hatte der genannte Herr Versammlungen berufen und Fragebogen an Herr¬
schaften und Dienstboten versandt. Das Material, das ihm die Beantwortung
dieser Bogen brachte, hat er nur „wissenschaftlich" bearbeitet und in einem Buche
veröffentlicht, mit dem sich kürzlich der Verein Berliner Dienstboten und Dienst¬
herrschaften beschäftigt hat. In der fraglichen Versammlung war auch Herr Doktor
Seitlich erschienen, um sich bitter zu beklagen, daß sein Buch von sämtlichen Zeitungen
schlecht behandelt, das heißt entweder totgeschwiegen oder heruntergerissen sei. Es
wurde festgestellt, daß in der That nur der „Vorwärts" Worte der Anerkennung
für die Arbeit gehabt habe.
Das ist ja sehr schade und ein höchst betrübendes Zeichen, das erkennen läßt,
auf wie tiefem Sozialwissenschaftlichen Standpunkte diese Herren Redakteure stehn.
Aber seien wir auch nicht ungerecht. Redakteure sind gewissermaßen auch Menschen.
Man kann es ihnen nachfühlen, wie unangenehm sie berührt sind, wenn sie ab¬
gehetzt und nervös nach Hause kommen und Tag für Tag mit Klagen über die
Dienstboten von der lieben Frnn empfangen werden. Man kann sich denken, daß
diese Stimmung nicht geeignet ist, den Anschauungen des Herrn Seitlich über die
beklagenswerte Lage der Berliner Dienstboten gerecht zu werden. Ja es ist nicht
ausgeschlossen, daß ein solcher Redakteur und seine liebe Fran zu der Meinung
kommen, daß, wenn es eine Dienstbotennot giebt, unter dieser Not viel mehr die
Herrschaften als die Dienstboten zu leiden hoben, und daß man gegen Leute, die
durch ihre sozialen Bestrebungen die Dienstboten gegen die Herrschaften aufhetzen,
diese also belästigen und in Unruhe versetzen, eigentlich mit dem Grvbenunfug-
paragraphen vorgehn solle. — Aber das sind gewiß unwissenschaftliche Irrtümer. Die
orthodoxe Lehre gebietet die Annahme, daß der Arbeiter der Verelendung entgegen
geht, und daß er unter allen Umständen uuter einem Joche seufzt, das er ab-
zuschütteln das Recht und die Pflicht hat. Wie kann man behaupten — wie in
jener Versammlung geschah —, daß die Interessen von Herrschaften und Dienst¬
boten miteinander gehn? Die orthodoxe Lehre stellt den Grundsatz des Interessen¬
gegensatzes von Herrschaft und Dienstbote auf, und damit ist die Sache entschieden.
Man braucht ja auch nur Versammlungen zu veranstalten, die nötigen Rede« zu
halten, und wie Herr Seitlich sagte, Herrschaften und Dienstboten aufeinander los¬
zulassen, und man wird den Interessengegensatz hervortreten sehen.
Herr Doktor Seitlich hat 9000 Berliner Hausfrauen befragt, und darauf haben
nnr 187 geantwortet. Und von 9000 befragten Dienstmädchen'haben nnr 459 eine
Autwort gegeben. Wir könnten das Resultat ein klägliches nennen. Wir könnten
sagen, durch das Schweigen einer so großen Zahl sei bewiesen, daß man kein
Interesse an Doktor Stillichs Rettungsversuchen habe, und daß die soziale Not,
die er voraussetzt, gar nicht vorhanden sei. Wir könnten hinzufügen, daß die ge¬
ringe Zahl von Antworten gegenüber der großen Menge derer, die nichr befragt
worden sind oder geschwiegen haben, ohne alle Beweiskraft sei. Aber wir würden
uns dadurch einer Verkennung des Wesens von Statistik und Fragebogen schuldig
machen. Mit Zahlen kann man alles machen. Antworten kann man in jeder Weise
und zu jedem Zwecke gruppieren. Sie helfen nichts, wenn nicht von vornherein
„wissenschaftlich" feststand, was bei der Erhebung herauskomme» sollte. Hier stand
nun fest, das Berliner Dienstmädchen sei die verfolgte Unschuld. Dies nnn in
wirksamer Weise darzustellen, dazu sind die Fragebogen dn, und dazu sind sie von
großem Wert, und es kommt auf die Zahl der Antworten nicht an.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |