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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Nationalitcitskämpfe

Sprachgrenze nach Nordosten trat erst mehrere Menschennlter später ein, nachdem
dnrch die Verwi'lstungen des Dreißigjährigen Kriegs und durch schwere Seuchen
das Land fast menschenleer geworden war. Aus deutschen Landen konnte der
Anm Wiederaufbau des Landes notwendige Zufluß von Menschen nicht kommen,
weil dort überall ähnliche Zustände herrschten. So blieb nur die Möglichkeit
einer Wiederbevölkerung von der französischen Seite her übrig: in dichten
Scharen zogen französisch redende Einwandrer, vornehmlich aus der Picardie,
in das verödete, einst mit volkreichen deutschen Siedlungen erfüllte Land, Die
Ausläufer dieser französischen Einwandrung erstreckten sich bis tief in die Pfalz
hinein, wo sie noch heute an den ziemlich zahlreichen französischen Familien¬
namen kenntlich sind. Und so wurde die Sprachgrenze auf der ganzen Linie
durch eine rasche Befestigung des französischen Wesens bis zu ihrem heutigen
Stand zurückgeschoben, fast überall um einen Streifen von der Breite mehrerer
Gemeinden, im Südosten um eine ziemlich breite Zone, deren breiteste Stelle
durch die etwa 23 Kilometer voneinander entfernten Orte Marsal und Albes¬
dorf bestimmt ist.

An andern Stellen hatte die früheste deutsch-romanische Sprachgrenze
schon eher begonnen, sich dem heutigen Stande zu nähern: in Artois war in¬
folge der alten politischen Verbindung mit Frankreich das Deutschtum von
jeher einer schädigenden Beeinflussung durch das übermächtige Franzosentum
ausgesetzt. Während in dein allerdings überwiegend französisch redenden
Herzogtum Lothringen das Deutschtum noch lange ein Bollwerk hatte, dnrch
seine Zusammenfassung in einen besondern Verwaltungsbezirk, den dg,MaA<z
<1'Mlöin!Z,An<z, wo das Deutsche als amtliche Sprache gebraucht wurde, trat
dem Deutschtum des Artois schou in früher Zeit die bewußte und plan¬
mäßige Gegnerschaft des französische!, Staats entgegen. So ist es wohl vor
allem als Wirkung der Fremdherrschaft zu betrachten, daß in diesem deutsch¬
redenden nördlichsten Winkel Frankreichs die deutsche Sprache noch weit
schwerere Einbußen erlitten hat als in Lothringen: während sie einstmals bis
zum Kap Gris-nez und südlich bis an Boulogne hinan herrschte, wurde sie
bis über Gravelingen und Se. Omer auf Dünkirchen und Hazebrouk zurück¬
geworfen. In Belgien und Luxemburg, wo sich zwar ebenfalls ein entschiednes
Übergewicht französischer Sprache und Kultur während des ganzen Mittelalters
und bis in die allerneuste Zeit hinein bemerkbar macht, kann von einer eigent¬
lichen Fremdherrschaft keine Rede sein. Der Rückgang des deutschen Sprach¬
gebiets, der auch dort im Laufe der Jahrhunderte geschah, war nur sehr
gering, indem die Sprachgrenze nur an vereinzelten Punkten um die Breite
einer Gemeinde zurückgeschoben wurde.

Während so von Lothringen nördlich die Wandlung der deutsch-roma¬
nischen Sprachgrenze von ihrer frühesten Feststellung bis zum gegenwärtigen
Stande durchweg zu unsern Ungunsten geschah, ändert sich das Bild, sowie
wir den Boden des Elsaß betreten. Das obere Breuschthal allerdings, das
den Übergang Lothringens zum Elsaß darstellt und in mancher Beziehung
mehr Ähnlichkeit mit Lothringen als mit dem Elsaß aufweist, schließt sich in
der Veränderung des Besitzstands der Sprachen durchaus ein Lothringen an:


Nationalitcitskämpfe

Sprachgrenze nach Nordosten trat erst mehrere Menschennlter später ein, nachdem
dnrch die Verwi'lstungen des Dreißigjährigen Kriegs und durch schwere Seuchen
das Land fast menschenleer geworden war. Aus deutschen Landen konnte der
Anm Wiederaufbau des Landes notwendige Zufluß von Menschen nicht kommen,
weil dort überall ähnliche Zustände herrschten. So blieb nur die Möglichkeit
einer Wiederbevölkerung von der französischen Seite her übrig: in dichten
Scharen zogen französisch redende Einwandrer, vornehmlich aus der Picardie,
in das verödete, einst mit volkreichen deutschen Siedlungen erfüllte Land, Die
Ausläufer dieser französischen Einwandrung erstreckten sich bis tief in die Pfalz
hinein, wo sie noch heute an den ziemlich zahlreichen französischen Familien¬
namen kenntlich sind. Und so wurde die Sprachgrenze auf der ganzen Linie
durch eine rasche Befestigung des französischen Wesens bis zu ihrem heutigen
Stand zurückgeschoben, fast überall um einen Streifen von der Breite mehrerer
Gemeinden, im Südosten um eine ziemlich breite Zone, deren breiteste Stelle
durch die etwa 23 Kilometer voneinander entfernten Orte Marsal und Albes¬
dorf bestimmt ist.

An andern Stellen hatte die früheste deutsch-romanische Sprachgrenze
schon eher begonnen, sich dem heutigen Stande zu nähern: in Artois war in¬
folge der alten politischen Verbindung mit Frankreich das Deutschtum von
jeher einer schädigenden Beeinflussung durch das übermächtige Franzosentum
ausgesetzt. Während in dein allerdings überwiegend französisch redenden
Herzogtum Lothringen das Deutschtum noch lange ein Bollwerk hatte, dnrch
seine Zusammenfassung in einen besondern Verwaltungsbezirk, den dg,MaA<z
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dem Deutschtum des Artois schou in früher Zeit die bewußte und plan¬
mäßige Gegnerschaft des französische!, Staats entgegen. So ist es wohl vor
allem als Wirkung der Fremdherrschaft zu betrachten, daß in diesem deutsch¬
redenden nördlichsten Winkel Frankreichs die deutsche Sprache noch weit
schwerere Einbußen erlitten hat als in Lothringen: während sie einstmals bis
zum Kap Gris-nez und südlich bis an Boulogne hinan herrschte, wurde sie
bis über Gravelingen und Se. Omer auf Dünkirchen und Hazebrouk zurück¬
geworfen. In Belgien und Luxemburg, wo sich zwar ebenfalls ein entschiednes
Übergewicht französischer Sprache und Kultur während des ganzen Mittelalters
und bis in die allerneuste Zeit hinein bemerkbar macht, kann von einer eigent¬
lichen Fremdherrschaft keine Rede sein. Der Rückgang des deutschen Sprach¬
gebiets, der auch dort im Laufe der Jahrhunderte geschah, war nur sehr
gering, indem die Sprachgrenze nur an vereinzelten Punkten um die Breite
einer Gemeinde zurückgeschoben wurde.

Während so von Lothringen nördlich die Wandlung der deutsch-roma¬
nischen Sprachgrenze von ihrer frühesten Feststellung bis zum gegenwärtigen
Stande durchweg zu unsern Ungunsten geschah, ändert sich das Bild, sowie
wir den Boden des Elsaß betreten. Das obere Breuschthal allerdings, das
den Übergang Lothringens zum Elsaß darstellt und in mancher Beziehung
mehr Ähnlichkeit mit Lothringen als mit dem Elsaß aufweist, schließt sich in
der Veränderung des Besitzstands der Sprachen durchaus ein Lothringen an:


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[0203] Nationalitcitskämpfe Sprachgrenze nach Nordosten trat erst mehrere Menschennlter später ein, nachdem dnrch die Verwi'lstungen des Dreißigjährigen Kriegs und durch schwere Seuchen das Land fast menschenleer geworden war. Aus deutschen Landen konnte der Anm Wiederaufbau des Landes notwendige Zufluß von Menschen nicht kommen, weil dort überall ähnliche Zustände herrschten. So blieb nur die Möglichkeit einer Wiederbevölkerung von der französischen Seite her übrig: in dichten Scharen zogen französisch redende Einwandrer, vornehmlich aus der Picardie, in das verödete, einst mit volkreichen deutschen Siedlungen erfüllte Land, Die Ausläufer dieser französischen Einwandrung erstreckten sich bis tief in die Pfalz hinein, wo sie noch heute an den ziemlich zahlreichen französischen Familien¬ namen kenntlich sind. Und so wurde die Sprachgrenze auf der ganzen Linie durch eine rasche Befestigung des französischen Wesens bis zu ihrem heutigen Stand zurückgeschoben, fast überall um einen Streifen von der Breite mehrerer Gemeinden, im Südosten um eine ziemlich breite Zone, deren breiteste Stelle durch die etwa 23 Kilometer voneinander entfernten Orte Marsal und Albes¬ dorf bestimmt ist. An andern Stellen hatte die früheste deutsch-romanische Sprachgrenze schon eher begonnen, sich dem heutigen Stande zu nähern: in Artois war in¬ folge der alten politischen Verbindung mit Frankreich das Deutschtum von jeher einer schädigenden Beeinflussung durch das übermächtige Franzosentum ausgesetzt. Während in dein allerdings überwiegend französisch redenden Herzogtum Lothringen das Deutschtum noch lange ein Bollwerk hatte, dnrch seine Zusammenfassung in einen besondern Verwaltungsbezirk, den dg,MaA<z <1'Mlöin!Z,An<z, wo das Deutsche als amtliche Sprache gebraucht wurde, trat dem Deutschtum des Artois schou in früher Zeit die bewußte und plan¬ mäßige Gegnerschaft des französische!, Staats entgegen. So ist es wohl vor allem als Wirkung der Fremdherrschaft zu betrachten, daß in diesem deutsch¬ redenden nördlichsten Winkel Frankreichs die deutsche Sprache noch weit schwerere Einbußen erlitten hat als in Lothringen: während sie einstmals bis zum Kap Gris-nez und südlich bis an Boulogne hinan herrschte, wurde sie bis über Gravelingen und Se. Omer auf Dünkirchen und Hazebrouk zurück¬ geworfen. In Belgien und Luxemburg, wo sich zwar ebenfalls ein entschiednes Übergewicht französischer Sprache und Kultur während des ganzen Mittelalters und bis in die allerneuste Zeit hinein bemerkbar macht, kann von einer eigent¬ lichen Fremdherrschaft keine Rede sein. Der Rückgang des deutschen Sprach¬ gebiets, der auch dort im Laufe der Jahrhunderte geschah, war nur sehr gering, indem die Sprachgrenze nur an vereinzelten Punkten um die Breite einer Gemeinde zurückgeschoben wurde. Während so von Lothringen nördlich die Wandlung der deutsch-roma¬ nischen Sprachgrenze von ihrer frühesten Feststellung bis zum gegenwärtigen Stande durchweg zu unsern Ungunsten geschah, ändert sich das Bild, sowie wir den Boden des Elsaß betreten. Das obere Breuschthal allerdings, das den Übergang Lothringens zum Elsaß darstellt und in mancher Beziehung mehr Ähnlichkeit mit Lothringen als mit dem Elsaß aufweist, schließt sich in der Veränderung des Besitzstands der Sprachen durchaus ein Lothringen an:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/203>, abgerufen am 06.02.2025.