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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Auf der Alm
(Fortsetzung)

ber Hanna schlief doch nicht, Ärger über ihren Zornesausbruch und
Angst vor den Folgen, dann wieder sich aufbäumender Trotz wechselten
in ihrem Innern und quälten sie. Sie warf sich unruhig auf
ihrem Bett hin und her; sie fühlte es, daß sie unartig gewesen sei,
kindisch unartig. Aber es machte mir, daß sich ihr Trotz an diesem
Gefühl immer nen aufrichtete. Wie hochmütig hatte er gesagt: Ich
werde dir aus dem Wege gehn -- mein Schatz!!! Sie machte in Gedanken
drei Ausrufungszeichen hinter das Wort, dessen Ton sie gebissen hatte wie eine
Natter.

Plötzlich führ sie in die Hohe und saß aufrecht im Bett: ein leuchtender Ge¬
danke war ihr aufgegangen. Sie kicherte in ihrer Frende. Das würe famos!
Warte, wir wollen fehen, wer zuerst aufsteht! Ganz vergnügt war sie über ihren
Einfall. Sie huschelte sich in ihre Decke und schlief darüber ein, daß sie ihren
Plan ausdachte.

Aber sie war auch früh, ganz früh wieder wach, wie sie es sich vorgenommen
hatte. Das konnte sie, sie konnte immer zu der Stunde aufwachen, zu der sie
wollte.

Hurtig wusch sie sich und zog sich an. Dann schrieb sie flüchtig einen Zettel,
steckte ihn in ein Couvert, klebte es zu und adressierte es an Mama Müller. Die
wird natürlich zuerst unten sein, dachte sie. Dnranf schürzte sie ihr Kleid hoch,
schnallte einen Riemen um, in den sie ihren Shawl hängte, nahm den Regenschirm
als Stock, schlüpfte aus der Kammer und leise die Treppe hinunter. Sie trat in
das Gastzimmer, legte den Brief auf den Tisch, nahm aus dem Körbchen, das noch
auf dem Tische stand, ein paar Brötchen und steckte sie in die Tasche. Dann ging
sie leise wieder hinaus.

Der Schlüssel steckte innen in der Hausthür. Gott sei Dank! Sie schloß
auf, öffnete die Thür und eilte hinaus. Die Berge lohten im Frühlicht, als sie
aus der Thür huschte. Im Thal lag noch die Dämmerung, und zarte weiße Nebel
schlichen durch die dunkeln Tannenwälder an den Bergen in die Höhe. Die Häuser
sahen aus, als schlummerten sie noch, nur daß hie und da schon ein leichter Rauch aus
den Schloten aufstieg; alles war still, nur die Ache rauschte mit starkem Ton zu
ihr herüber. Leichter Fußes eilte sie vorwärts. Ach wie wohlthuend war diese
Frische, wie belebend wirkte sie auf die Sinne. Alle Schatten der Nacht wichen
von ihr; sie hatte nur das eine Gefühl, frei zu sein wie ein Vogel, und sie freute
sich unbändig auf das Traudel.

Bald war sie an den letzten Häusern vorbei, über die Tobelbrücke, und ging
durch deu taufrischen Wald. Wer den Gräsern zwischen den moosbewachsenen graue"
Steinblöcken lag der Tau wie ein weißer Schleier. Bald begann er aber zu funkeln
und zu blitzen -- die Sonne war hinter ihr über die Berge heraufgekommen, und
es wurde lichter und lichter, und ringsum begann das Vogelgezwitscher. Als sie am




Auf der Alm
(Fortsetzung)

ber Hanna schlief doch nicht, Ärger über ihren Zornesausbruch und
Angst vor den Folgen, dann wieder sich aufbäumender Trotz wechselten
in ihrem Innern und quälten sie. Sie warf sich unruhig auf
ihrem Bett hin und her; sie fühlte es, daß sie unartig gewesen sei,
kindisch unartig. Aber es machte mir, daß sich ihr Trotz an diesem
Gefühl immer nen aufrichtete. Wie hochmütig hatte er gesagt: Ich
werde dir aus dem Wege gehn — mein Schatz!!! Sie machte in Gedanken
drei Ausrufungszeichen hinter das Wort, dessen Ton sie gebissen hatte wie eine
Natter.

Plötzlich führ sie in die Hohe und saß aufrecht im Bett: ein leuchtender Ge¬
danke war ihr aufgegangen. Sie kicherte in ihrer Frende. Das würe famos!
Warte, wir wollen fehen, wer zuerst aufsteht! Ganz vergnügt war sie über ihren
Einfall. Sie huschelte sich in ihre Decke und schlief darüber ein, daß sie ihren
Plan ausdachte.

Aber sie war auch früh, ganz früh wieder wach, wie sie es sich vorgenommen
hatte. Das konnte sie, sie konnte immer zu der Stunde aufwachen, zu der sie
wollte.

Hurtig wusch sie sich und zog sich an. Dann schrieb sie flüchtig einen Zettel,
steckte ihn in ein Couvert, klebte es zu und adressierte es an Mama Müller. Die
wird natürlich zuerst unten sein, dachte sie. Dnranf schürzte sie ihr Kleid hoch,
schnallte einen Riemen um, in den sie ihren Shawl hängte, nahm den Regenschirm
als Stock, schlüpfte aus der Kammer und leise die Treppe hinunter. Sie trat in
das Gastzimmer, legte den Brief auf den Tisch, nahm aus dem Körbchen, das noch
auf dem Tische stand, ein paar Brötchen und steckte sie in die Tasche. Dann ging
sie leise wieder hinaus.

Der Schlüssel steckte innen in der Hausthür. Gott sei Dank! Sie schloß
auf, öffnete die Thür und eilte hinaus. Die Berge lohten im Frühlicht, als sie
aus der Thür huschte. Im Thal lag noch die Dämmerung, und zarte weiße Nebel
schlichen durch die dunkeln Tannenwälder an den Bergen in die Höhe. Die Häuser
sahen aus, als schlummerten sie noch, nur daß hie und da schon ein leichter Rauch aus
den Schloten aufstieg; alles war still, nur die Ache rauschte mit starkem Ton zu
ihr herüber. Leichter Fußes eilte sie vorwärts. Ach wie wohlthuend war diese
Frische, wie belebend wirkte sie auf die Sinne. Alle Schatten der Nacht wichen
von ihr; sie hatte nur das eine Gefühl, frei zu sein wie ein Vogel, und sie freute
sich unbändig auf das Traudel.

Bald war sie an den letzten Häusern vorbei, über die Tobelbrücke, und ging
durch deu taufrischen Wald. Wer den Gräsern zwischen den moosbewachsenen graue»
Steinblöcken lag der Tau wie ein weißer Schleier. Bald begann er aber zu funkeln
und zu blitzen — die Sonne war hinter ihr über die Berge heraufgekommen, und
es wurde lichter und lichter, und ringsum begann das Vogelgezwitscher. Als sie am


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/98>, abgerufen am 13.11.2024.