Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Dikwturparagraph in Llsaß-LothnngiUi

oberhciupts einem Unterthan, einem abhängigen und absetzbaren Beamten zustehu
solle. Endlich ist die Form der Ausübung des Staatsnotrechts in Elsaß-
Lothringen schon durch Reichsgesetze in erschöpfender Weise geregelt. Nach
Artikel 68 der Reichsverfassung' kann der Kaiser jeden Teil des Bundesgebiets
in Kriegszustand erklären, und nach dem Reichsgesetz vom 30. Mai 1892 über
die Vorbereitung des Kriegszustauds in Elsnß-Lothringen kann der oberste
Militärbefehlshaber eines Orts oder Landesteils die vollziehende Gewalt in
seinem Bezirk übernehmen. Neben der Militärdiktatur, d. h. der Konzentration
der gesamten Staatsgewalt in den Händen von Militärpersonen, die dnrch
Anwendung der genannten Reichsgesetze begründet werden kauu, bleibt für eine
Zivildiktatur, für eine Konzentration der gesamten Staatsgewalt in den Händen
eines Zivilbenmten kein Raum.

Durch einen Rechtsirrtum der Elsaß-Lothringer sowie mancher altdeutschen
Juristen und Politiker sind also der Oberpräsident und der Statthalter in der
öffentlichen Meinung mit einer Allmacht ausgestattet worden, die sie that¬
sächlich niemals gehabt und niemals ausgeübt haben. Mit einem ungeheuern
Aufwand von Lungenkrnft und Druckerschwärze siud die Elsaß-Lothringer
dreißig Jahre lang gegen ein Schreckgespenst zu Felde gezogen, das nur in
ihrer Phantasie gelebt hat! Das Verhalten der Elsaß-Lothringer in der Frage
des Diktaturparagraphen ist ein schlagender Beweis für die Nichtigkeit des von
Treitschke aufgestellte" Satzes, daß die öffentliche Meinung ganzer Generationen
über die wichtigste:, politischen Streitfrage" im Irrtum sein kann. Ein einziger
Mann unter den eingebornen Elsaß-Lothriugeru hat bis jetzt den Mut gehabt,
gegen den allgemeinen Strom zu schwimmen und auf die maßlosen Über¬
treibungen hinzuweisen, die bei der Agitation gegen den Diktaturparagraphen
üblich geworden sind. Der Abgeordnete North hat in der Neichstagssitznng
vom 13. Juni 1879 seineu Landsleuten zugerufen, die Opfer, die die franzö¬
sischen Ausnahmegesetze vom 8. Dezember 1851 und 7. Februar 1858 gefordert
hätten, seien zu Tausenden in Cayenne und Lambessa gestorben; die Opfer
dagegen, die der Diktaturparagraph gekostet habe, seien noch alle am Leben!

Auch der Staatssekretär von Puttkamer hat wiederholt im Landesausschuß
erklärt, die Regierung nehme auf Grund des 10 gar keine unbeschränkte
Gewalt in Anspruch; die Bezeichnung "Diktatnrparagraph" sei unrichtig und
irreführend; der fragliche Paragraph gewähre dem Statthalter nur gewisse
Polizeiliche Befugnisse. Diese Belehrungen haben nichts genützt. Die öffent¬
liche Meinung im Reichslande hält mit Zähigkeit an der hergebrachten Vor¬
stellung fest, daß der Statthalter auf Grund des Diktaturparagrapheu eine
schrankenlose Macht habe. Durch vielfache Wiederholung ist dieser Satz ein
unerschütterliches Dogma geworden, gegen das Vernunftgründe überhaupt nichts
'"ehr auszurichten vermögen.

Die Agitation gegen den Diktaturparagraphen ist also vom formellen
Standpunkt aus gerechtfertigt, soweit sie Beschränkungen beseitigen will, die
auf den Gebieten der Preßfreiheit und der Freizügigkeit noch heute in Elsaß-


Der Dikwturparagraph in Llsaß-LothnngiUi

oberhciupts einem Unterthan, einem abhängigen und absetzbaren Beamten zustehu
solle. Endlich ist die Form der Ausübung des Staatsnotrechts in Elsaß-
Lothringen schon durch Reichsgesetze in erschöpfender Weise geregelt. Nach
Artikel 68 der Reichsverfassung' kann der Kaiser jeden Teil des Bundesgebiets
in Kriegszustand erklären, und nach dem Reichsgesetz vom 30. Mai 1892 über
die Vorbereitung des Kriegszustauds in Elsnß-Lothringen kann der oberste
Militärbefehlshaber eines Orts oder Landesteils die vollziehende Gewalt in
seinem Bezirk übernehmen. Neben der Militärdiktatur, d. h. der Konzentration
der gesamten Staatsgewalt in den Händen von Militärpersonen, die dnrch
Anwendung der genannten Reichsgesetze begründet werden kauu, bleibt für eine
Zivildiktatur, für eine Konzentration der gesamten Staatsgewalt in den Händen
eines Zivilbenmten kein Raum.

Durch einen Rechtsirrtum der Elsaß-Lothringer sowie mancher altdeutschen
Juristen und Politiker sind also der Oberpräsident und der Statthalter in der
öffentlichen Meinung mit einer Allmacht ausgestattet worden, die sie that¬
sächlich niemals gehabt und niemals ausgeübt haben. Mit einem ungeheuern
Aufwand von Lungenkrnft und Druckerschwärze siud die Elsaß-Lothringer
dreißig Jahre lang gegen ein Schreckgespenst zu Felde gezogen, das nur in
ihrer Phantasie gelebt hat! Das Verhalten der Elsaß-Lothringer in der Frage
des Diktaturparagraphen ist ein schlagender Beweis für die Nichtigkeit des von
Treitschke aufgestellte» Satzes, daß die öffentliche Meinung ganzer Generationen
über die wichtigste:, politischen Streitfrage» im Irrtum sein kann. Ein einziger
Mann unter den eingebornen Elsaß-Lothriugeru hat bis jetzt den Mut gehabt,
gegen den allgemeinen Strom zu schwimmen und auf die maßlosen Über¬
treibungen hinzuweisen, die bei der Agitation gegen den Diktaturparagraphen
üblich geworden sind. Der Abgeordnete North hat in der Neichstagssitznng
vom 13. Juni 1879 seineu Landsleuten zugerufen, die Opfer, die die franzö¬
sischen Ausnahmegesetze vom 8. Dezember 1851 und 7. Februar 1858 gefordert
hätten, seien zu Tausenden in Cayenne und Lambessa gestorben; die Opfer
dagegen, die der Diktaturparagraph gekostet habe, seien noch alle am Leben!

Auch der Staatssekretär von Puttkamer hat wiederholt im Landesausschuß
erklärt, die Regierung nehme auf Grund des 10 gar keine unbeschränkte
Gewalt in Anspruch; die Bezeichnung „Diktatnrparagraph" sei unrichtig und
irreführend; der fragliche Paragraph gewähre dem Statthalter nur gewisse
Polizeiliche Befugnisse. Diese Belehrungen haben nichts genützt. Die öffent¬
liche Meinung im Reichslande hält mit Zähigkeit an der hergebrachten Vor¬
stellung fest, daß der Statthalter auf Grund des Diktaturparagrapheu eine
schrankenlose Macht habe. Durch vielfache Wiederholung ist dieser Satz ein
unerschütterliches Dogma geworden, gegen das Vernunftgründe überhaupt nichts
'»ehr auszurichten vermögen.

Die Agitation gegen den Diktaturparagraphen ist also vom formellen
Standpunkt aus gerechtfertigt, soweit sie Beschränkungen beseitigen will, die
auf den Gebieten der Preßfreiheit und der Freizügigkeit noch heute in Elsaß-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0079" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235901"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Dikwturparagraph in Llsaß-LothnngiUi</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_251" prev="#ID_250"> oberhciupts einem Unterthan, einem abhängigen und absetzbaren Beamten zustehu<lb/>
solle. Endlich ist die Form der Ausübung des Staatsnotrechts in Elsaß-<lb/>
Lothringen schon durch Reichsgesetze in erschöpfender Weise geregelt. Nach<lb/>
Artikel 68 der Reichsverfassung' kann der Kaiser jeden Teil des Bundesgebiets<lb/>
in Kriegszustand erklären, und nach dem Reichsgesetz vom 30. Mai 1892 über<lb/>
die Vorbereitung des Kriegszustauds in Elsnß-Lothringen kann der oberste<lb/>
Militärbefehlshaber eines Orts oder Landesteils die vollziehende Gewalt in<lb/>
seinem Bezirk übernehmen. Neben der Militärdiktatur, d. h. der Konzentration<lb/>
der gesamten Staatsgewalt in den Händen von Militärpersonen, die dnrch<lb/>
Anwendung der genannten Reichsgesetze begründet werden kauu, bleibt für eine<lb/>
Zivildiktatur, für eine Konzentration der gesamten Staatsgewalt in den Händen<lb/>
eines Zivilbenmten kein Raum.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_252"> Durch einen Rechtsirrtum der Elsaß-Lothringer sowie mancher altdeutschen<lb/>
Juristen und Politiker sind also der Oberpräsident und der Statthalter in der<lb/>
öffentlichen Meinung mit einer Allmacht ausgestattet worden, die sie that¬<lb/>
sächlich niemals gehabt und niemals ausgeübt haben. Mit einem ungeheuern<lb/>
Aufwand von Lungenkrnft und Druckerschwärze siud die Elsaß-Lothringer<lb/>
dreißig Jahre lang gegen ein Schreckgespenst zu Felde gezogen, das nur in<lb/>
ihrer Phantasie gelebt hat! Das Verhalten der Elsaß-Lothringer in der Frage<lb/>
des Diktaturparagraphen ist ein schlagender Beweis für die Nichtigkeit des von<lb/>
Treitschke aufgestellte» Satzes, daß die öffentliche Meinung ganzer Generationen<lb/>
über die wichtigste:, politischen Streitfrage» im Irrtum sein kann. Ein einziger<lb/>
Mann unter den eingebornen Elsaß-Lothriugeru hat bis jetzt den Mut gehabt,<lb/>
gegen den allgemeinen Strom zu schwimmen und auf die maßlosen Über¬<lb/>
treibungen hinzuweisen, die bei der Agitation gegen den Diktaturparagraphen<lb/>
üblich geworden sind. Der Abgeordnete North hat in der Neichstagssitznng<lb/>
vom 13. Juni 1879 seineu Landsleuten zugerufen, die Opfer, die die franzö¬<lb/>
sischen Ausnahmegesetze vom 8. Dezember 1851 und 7. Februar 1858 gefordert<lb/>
hätten, seien zu Tausenden in Cayenne und Lambessa gestorben; die Opfer<lb/>
dagegen, die der Diktaturparagraph gekostet habe, seien noch alle am Leben!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_253"> Auch der Staatssekretär von Puttkamer hat wiederholt im Landesausschuß<lb/>
erklärt, die Regierung nehme auf Grund des 10 gar keine unbeschränkte<lb/>
Gewalt in Anspruch; die Bezeichnung &#x201E;Diktatnrparagraph" sei unrichtig und<lb/>
irreführend; der fragliche Paragraph gewähre dem Statthalter nur gewisse<lb/>
Polizeiliche Befugnisse. Diese Belehrungen haben nichts genützt. Die öffent¬<lb/>
liche Meinung im Reichslande hält mit Zähigkeit an der hergebrachten Vor¬<lb/>
stellung fest, daß der Statthalter auf Grund des Diktaturparagrapheu eine<lb/>
schrankenlose Macht habe. Durch vielfache Wiederholung ist dieser Satz ein<lb/>
unerschütterliches Dogma geworden, gegen das Vernunftgründe überhaupt nichts<lb/>
'»ehr auszurichten vermögen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_254" next="#ID_255"> Die Agitation gegen den Diktaturparagraphen ist also vom formellen<lb/>
Standpunkt aus gerechtfertigt, soweit sie Beschränkungen beseitigen will, die<lb/>
auf den Gebieten der Preßfreiheit und der Freizügigkeit noch heute in Elsaß-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0079] Der Dikwturparagraph in Llsaß-LothnngiUi oberhciupts einem Unterthan, einem abhängigen und absetzbaren Beamten zustehu solle. Endlich ist die Form der Ausübung des Staatsnotrechts in Elsaß- Lothringen schon durch Reichsgesetze in erschöpfender Weise geregelt. Nach Artikel 68 der Reichsverfassung' kann der Kaiser jeden Teil des Bundesgebiets in Kriegszustand erklären, und nach dem Reichsgesetz vom 30. Mai 1892 über die Vorbereitung des Kriegszustauds in Elsnß-Lothringen kann der oberste Militärbefehlshaber eines Orts oder Landesteils die vollziehende Gewalt in seinem Bezirk übernehmen. Neben der Militärdiktatur, d. h. der Konzentration der gesamten Staatsgewalt in den Händen von Militärpersonen, die dnrch Anwendung der genannten Reichsgesetze begründet werden kauu, bleibt für eine Zivildiktatur, für eine Konzentration der gesamten Staatsgewalt in den Händen eines Zivilbenmten kein Raum. Durch einen Rechtsirrtum der Elsaß-Lothringer sowie mancher altdeutschen Juristen und Politiker sind also der Oberpräsident und der Statthalter in der öffentlichen Meinung mit einer Allmacht ausgestattet worden, die sie that¬ sächlich niemals gehabt und niemals ausgeübt haben. Mit einem ungeheuern Aufwand von Lungenkrnft und Druckerschwärze siud die Elsaß-Lothringer dreißig Jahre lang gegen ein Schreckgespenst zu Felde gezogen, das nur in ihrer Phantasie gelebt hat! Das Verhalten der Elsaß-Lothringer in der Frage des Diktaturparagraphen ist ein schlagender Beweis für die Nichtigkeit des von Treitschke aufgestellte» Satzes, daß die öffentliche Meinung ganzer Generationen über die wichtigste:, politischen Streitfrage» im Irrtum sein kann. Ein einziger Mann unter den eingebornen Elsaß-Lothriugeru hat bis jetzt den Mut gehabt, gegen den allgemeinen Strom zu schwimmen und auf die maßlosen Über¬ treibungen hinzuweisen, die bei der Agitation gegen den Diktaturparagraphen üblich geworden sind. Der Abgeordnete North hat in der Neichstagssitznng vom 13. Juni 1879 seineu Landsleuten zugerufen, die Opfer, die die franzö¬ sischen Ausnahmegesetze vom 8. Dezember 1851 und 7. Februar 1858 gefordert hätten, seien zu Tausenden in Cayenne und Lambessa gestorben; die Opfer dagegen, die der Diktaturparagraph gekostet habe, seien noch alle am Leben! Auch der Staatssekretär von Puttkamer hat wiederholt im Landesausschuß erklärt, die Regierung nehme auf Grund des 10 gar keine unbeschränkte Gewalt in Anspruch; die Bezeichnung „Diktatnrparagraph" sei unrichtig und irreführend; der fragliche Paragraph gewähre dem Statthalter nur gewisse Polizeiliche Befugnisse. Diese Belehrungen haben nichts genützt. Die öffent¬ liche Meinung im Reichslande hält mit Zähigkeit an der hergebrachten Vor¬ stellung fest, daß der Statthalter auf Grund des Diktaturparagrapheu eine schrankenlose Macht habe. Durch vielfache Wiederholung ist dieser Satz ein unerschütterliches Dogma geworden, gegen das Vernunftgründe überhaupt nichts '»ehr auszurichten vermögen. Die Agitation gegen den Diktaturparagraphen ist also vom formellen Standpunkt aus gerechtfertigt, soweit sie Beschränkungen beseitigen will, die auf den Gebieten der Preßfreiheit und der Freizügigkeit noch heute in Elsaß-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/79
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/79>, abgerufen am 27.07.2024.