Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.römische" Geschichtschreibung üblich ist. Wer sich z. B. die Kapitel des Die genaue Kenntnis der germanischen Zustände, die die Schrift des Grenz böte" IV IWI ^
römische» Geschichtschreibung üblich ist. Wer sich z. B. die Kapitel des Die genaue Kenntnis der germanischen Zustände, die die Schrift des Grenz böte» IV IWI ^
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0649" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236471"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_2443" prev="#ID_2442"> römische» Geschichtschreibung üblich ist. Wer sich z. B. die Kapitel des<lb/> Agricola (X bis XI) ansieht, in denen die Lage, die Natur und die Bevölke¬<lb/> rung Britanniens beschrieben wird, könnte ebenfalls meinen, das; hier ein<lb/> Augenzeuge rede, obwohl man gar keinen Grund zu der Annahme hat, daß<lb/> Tacitus jemals die feuchte Luft Britanniens, von der er redet, geatmet hat.<lb/> Diese Indizien verstärkt Müllenhoff noch durch ein weiteres Argument, das<lb/> ebenso überraschend wie überzeugend wirkt und in seiner Einfachheit an das<lb/> El des Kolumbus erinnert. Im 23. Kapitel der Germania berichtet Tacitus<lb/> unter andern,, daß die Nahrung der Germanen für gewöhnlich aus ländlichen<lb/> Früchten (ag-rohem poms), aus frischem Jagdwild und geronnener Milch be¬<lb/> standen habe. Konnte jemand, fragt nun Müllenhoff, der Deutschland und<lb/> die Deutschen aus persönlichem Verkehr kannte, wirklich so etwas schreiben?<lb/> Gewiß nicht. Denn was kann unter den auf deutschem Boden gewachsenen<lb/> -rMsstm xomÄ verstanden werden? Nichts andres als wilde Äpfel, Holz¬<lb/> birnen, Eicheln, Bucheckern, Nüsse, Schlehen und andre Beerenfrüchte. Der¬<lb/> gleichen hat aber schwerlich zu der täglichen Nahrung der Germanen gehört,<lb/> die zur Zeit des Tacitus schon den Ackerbau kannten. Man mag, wie Müllen¬<lb/> hoff richtig bemerkt, mit solchen Früchten die Schweine gefüttert haben, die<lb/> Menschen, die damals den Boden Germaniens bewohnten, werden nnr im<lb/> äußersten Notfall zu solcher Nahrung gegriffen haben, die überdies nnr den<lb/> kleinsten Teil des Jahres zu haben ist. Wie kommt denn nnn Tacitus zu<lb/> einer so unglaublichen Angabe? Offenbar so: er wollte sagen, daß die Ger¬<lb/> manen sich im Gegensatz zu den verwöhnten Römern mit der einfachsten<lb/> Nahrung begnügten. Dazu rechnete man in Italien natürlich die genießbaren<lb/> »ut wohlschmeckenden Früchte des Südens, die Äpfel, Birnen, Feigen. Pfirsiche,<lb/> Trauben usw. Vom Seneca erzählt Tacitus selbst, er habe ans Furcht vor<lb/> Vergiftung nur frisches Obst — a^reMa xoma — genossen. Es ist klar:<lb/> Tacitus hat. als er dies schrieb, uicht an den gewaltigen Unterschied zwischen<lb/> italischer und germanischer Landeskultur gedacht, sondern einfache italische Zu¬<lb/> stünde ans germanische übertragen. Der Rhetor ist hier mit dem Historiker<lb/> durchgegangen, das aber wäre nicht möglich gewesen, wenn Tacitus jemals<lb/> am Tische eines freien Germanen gespeist hätte.</p><lb/> <p xml:id="ID_2444" next="#ID_2445"> Die genaue Kenntnis der germanischen Zustände, die die Schrift des<lb/> Tacitus offenbar bekundet, stammt also nicht aus eigner Anschauung, sondern<lb/> aus andern Quellen. Römische Beamte und Offiziere werden es gewesen sein,<lb/> die dem Geschichtschreiber ihre an der Nheingrcnze erworbnen Kenntnisse zur<lb/> Verfügung stellten. An solchen Bekanntschaften konnte es dem Tacitus in<lb/> seiner Stellung nicht fehlen. Der schon genannte Virginius Rufus, der jahre¬<lb/> lang an der Ostgrenze des Reichs als Befehlshaber geweilt hatte, war ihm<lb/> befreundet — ihm hat Tacitus im Jahre 97 die vielgerühmte Leichenrede ge¬<lb/> halten —, der Prokurator von Belgien, Cornelius Tacitus, war mutmaßlich<lb/> dem Schriftsteller nahe verwandt, schließlich mag ihm auch aus der Umgebung<lb/> Trajans selbst brauchbares Material zugegangen sein. Sicherlich bestand<lb/> .''wischen den großen Lagern am Rhein und der Hauptstadt des Reichs von</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenz böte» IV IWI ^</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0649]
römische» Geschichtschreibung üblich ist. Wer sich z. B. die Kapitel des
Agricola (X bis XI) ansieht, in denen die Lage, die Natur und die Bevölke¬
rung Britanniens beschrieben wird, könnte ebenfalls meinen, das; hier ein
Augenzeuge rede, obwohl man gar keinen Grund zu der Annahme hat, daß
Tacitus jemals die feuchte Luft Britanniens, von der er redet, geatmet hat.
Diese Indizien verstärkt Müllenhoff noch durch ein weiteres Argument, das
ebenso überraschend wie überzeugend wirkt und in seiner Einfachheit an das
El des Kolumbus erinnert. Im 23. Kapitel der Germania berichtet Tacitus
unter andern,, daß die Nahrung der Germanen für gewöhnlich aus ländlichen
Früchten (ag-rohem poms), aus frischem Jagdwild und geronnener Milch be¬
standen habe. Konnte jemand, fragt nun Müllenhoff, der Deutschland und
die Deutschen aus persönlichem Verkehr kannte, wirklich so etwas schreiben?
Gewiß nicht. Denn was kann unter den auf deutschem Boden gewachsenen
-rMsstm xomÄ verstanden werden? Nichts andres als wilde Äpfel, Holz¬
birnen, Eicheln, Bucheckern, Nüsse, Schlehen und andre Beerenfrüchte. Der¬
gleichen hat aber schwerlich zu der täglichen Nahrung der Germanen gehört,
die zur Zeit des Tacitus schon den Ackerbau kannten. Man mag, wie Müllen¬
hoff richtig bemerkt, mit solchen Früchten die Schweine gefüttert haben, die
Menschen, die damals den Boden Germaniens bewohnten, werden nnr im
äußersten Notfall zu solcher Nahrung gegriffen haben, die überdies nnr den
kleinsten Teil des Jahres zu haben ist. Wie kommt denn nnn Tacitus zu
einer so unglaublichen Angabe? Offenbar so: er wollte sagen, daß die Ger¬
manen sich im Gegensatz zu den verwöhnten Römern mit der einfachsten
Nahrung begnügten. Dazu rechnete man in Italien natürlich die genießbaren
»ut wohlschmeckenden Früchte des Südens, die Äpfel, Birnen, Feigen. Pfirsiche,
Trauben usw. Vom Seneca erzählt Tacitus selbst, er habe ans Furcht vor
Vergiftung nur frisches Obst — a^reMa xoma — genossen. Es ist klar:
Tacitus hat. als er dies schrieb, uicht an den gewaltigen Unterschied zwischen
italischer und germanischer Landeskultur gedacht, sondern einfache italische Zu¬
stünde ans germanische übertragen. Der Rhetor ist hier mit dem Historiker
durchgegangen, das aber wäre nicht möglich gewesen, wenn Tacitus jemals
am Tische eines freien Germanen gespeist hätte.
Die genaue Kenntnis der germanischen Zustände, die die Schrift des
Tacitus offenbar bekundet, stammt also nicht aus eigner Anschauung, sondern
aus andern Quellen. Römische Beamte und Offiziere werden es gewesen sein,
die dem Geschichtschreiber ihre an der Nheingrcnze erworbnen Kenntnisse zur
Verfügung stellten. An solchen Bekanntschaften konnte es dem Tacitus in
seiner Stellung nicht fehlen. Der schon genannte Virginius Rufus, der jahre¬
lang an der Ostgrenze des Reichs als Befehlshaber geweilt hatte, war ihm
befreundet — ihm hat Tacitus im Jahre 97 die vielgerühmte Leichenrede ge¬
halten —, der Prokurator von Belgien, Cornelius Tacitus, war mutmaßlich
dem Schriftsteller nahe verwandt, schließlich mag ihm auch aus der Umgebung
Trajans selbst brauchbares Material zugegangen sein. Sicherlich bestand
.''wischen den großen Lagern am Rhein und der Hauptstadt des Reichs von
Grenz böte» IV IWI ^
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