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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Politiker, oder was wahrscheinlicher ist, der Historiker die Feder führte, jeden¬
falls war in der Lage der Dinge ein ausreichender Anlaß gegeben, die Blicke
der Römer wieder einmal nach Deutschland zu lenken und die Zustünde dieses
damals so merkwürdigen Landes gründlich zu beleuchten.

Daß schon vor Tacitus verschiedne Schriften über Deutschland erschienen
sind, ist allgemein bekannt, Cäsars Bericht über Gallier und Germanen kennt
jeder, der die Tertia eines Gymnasiums besucht hat, Livius hat aus guten
Quellen -- er war am Julischeu Hofe wohlgelitten und ein besondrer Günst¬
ling der Livia -- die Feldzüge des Drusus in Germanien dargestellt. Aber
diese Bücher, es sind die letzten seines großen Geschichtswerks, sind verlöre"
gegangen, und es sind nur noch kümmerliche Inhaltsangaben davon übrig,
wozu dann freilich noch die Reflexe bei Dio Cassius kommen, der fast zwei¬
hundert Jahre später geschrieben und ans Livius geschöpft hat. Des Livius
Geschichtswerk wurde fortgesetzt von dem kenntnisreichen Aufidius Bnssus, dann
folgt das schon erwähnte Werk des Plinius über die germanischen Kriege, das
wichtiger als alle seine Vorläufer schou deswegen war, weil Plinius, da er
bei der römischen Reiterei in Deutschland gedient hatte, Land und Leute aus
eigner Anschauung kannte. Alle diese mit Ausnahme der Kommentarien Cäsars
verschwundnen Schriften wird natürlich Tacitus gekannt haben, den Cäsar
nennt er bekanntlich in seiner Germania und bezeichnet ihn als den 8nrmmm
iunztor, aber eigentlich benutzt für seine Darstellung hat er sie außer dem
Plinius schwerlich. Daß er auch Plinius großes naturgeschichtliches Werk
herangezogen hat, beweist die bekannte kleine Episode über deu Bernstein, die
offenbar aus Plinius geschöpft ist. Noch untre heute Verlorne Schriften
mögen unserm Autor bei seiner Arbeit vorgelegen haben: wenn er gelegentlich
irrige Angaben bekämpft oder bezweifelt, mag er sich ans ältere uns unbekannte
Geschichtschreiber oder Archäologen beziehn. Aber im ganzen steht Tacitus
in seiner Darstellung offenbar auf eignen Füßen. Nicht die Vergangenheit
will er schildern, sondern er will, wie Mullenhoff mit Recht hervorhebt, dar
stellen, wie es zu seiner Zeit in Deutschland aussah.

Wenn um aber Tacitus ""zweifelhaft mehr von Deutschland weiß als
alle seine Vorgänger, so entsteht die Frage, woher denn seine überlegne
Kenntnis stammt. Ist er etwa wie Plinius selbst in Deutschland gewesen?
Das ist schon früh behauptet und auch von Neuern wiederholt worden, und
in der That klingen manche der in der Germania vorkommenden Angaben so,
als ob sie von einem Augenzeugen herrührte". Aber wenn dem so wäre,
wenn Tacitus wirklich das von ihm beschriebne Land aus eigner Anschauung
sei es als Soldat, sei es als Beamter kennen gelernt hätte, so würde er kaum
unterlassen haben, seinen Lesern dies an irgend einer Stelle seiner umfangreichen
Schriften zu verraten. Nun aber giebt es keine Stelle in den Werken des
Tacitus, aus der man schließen könnte, daß er das Land jenseits und dies¬
seits des Rheins betreten habe. Er sagt freilich anch nicht das Gegenteil,
und die meisten seiner Äußerungen werden, wie gesagt, mit der Gewißheit eines
Augenzeugen gemacht. Aber darin folgt der Autor nur der Weise, die bei der


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Politiker, oder was wahrscheinlicher ist, der Historiker die Feder führte, jeden¬
falls war in der Lage der Dinge ein ausreichender Anlaß gegeben, die Blicke
der Römer wieder einmal nach Deutschland zu lenken und die Zustünde dieses
damals so merkwürdigen Landes gründlich zu beleuchten.

Daß schon vor Tacitus verschiedne Schriften über Deutschland erschienen
sind, ist allgemein bekannt, Cäsars Bericht über Gallier und Germanen kennt
jeder, der die Tertia eines Gymnasiums besucht hat, Livius hat aus guten
Quellen — er war am Julischeu Hofe wohlgelitten und ein besondrer Günst¬
ling der Livia — die Feldzüge des Drusus in Germanien dargestellt. Aber
diese Bücher, es sind die letzten seines großen Geschichtswerks, sind verlöre»
gegangen, und es sind nur noch kümmerliche Inhaltsangaben davon übrig,
wozu dann freilich noch die Reflexe bei Dio Cassius kommen, der fast zwei¬
hundert Jahre später geschrieben und ans Livius geschöpft hat. Des Livius
Geschichtswerk wurde fortgesetzt von dem kenntnisreichen Aufidius Bnssus, dann
folgt das schon erwähnte Werk des Plinius über die germanischen Kriege, das
wichtiger als alle seine Vorläufer schou deswegen war, weil Plinius, da er
bei der römischen Reiterei in Deutschland gedient hatte, Land und Leute aus
eigner Anschauung kannte. Alle diese mit Ausnahme der Kommentarien Cäsars
verschwundnen Schriften wird natürlich Tacitus gekannt haben, den Cäsar
nennt er bekanntlich in seiner Germania und bezeichnet ihn als den 8nrmmm
iunztor, aber eigentlich benutzt für seine Darstellung hat er sie außer dem
Plinius schwerlich. Daß er auch Plinius großes naturgeschichtliches Werk
herangezogen hat, beweist die bekannte kleine Episode über deu Bernstein, die
offenbar aus Plinius geschöpft ist. Noch untre heute Verlorne Schriften
mögen unserm Autor bei seiner Arbeit vorgelegen haben: wenn er gelegentlich
irrige Angaben bekämpft oder bezweifelt, mag er sich ans ältere uns unbekannte
Geschichtschreiber oder Archäologen beziehn. Aber im ganzen steht Tacitus
in seiner Darstellung offenbar auf eignen Füßen. Nicht die Vergangenheit
will er schildern, sondern er will, wie Mullenhoff mit Recht hervorhebt, dar
stellen, wie es zu seiner Zeit in Deutschland aussah.

Wenn um aber Tacitus «»zweifelhaft mehr von Deutschland weiß als
alle seine Vorgänger, so entsteht die Frage, woher denn seine überlegne
Kenntnis stammt. Ist er etwa wie Plinius selbst in Deutschland gewesen?
Das ist schon früh behauptet und auch von Neuern wiederholt worden, und
in der That klingen manche der in der Germania vorkommenden Angaben so,
als ob sie von einem Augenzeugen herrührte». Aber wenn dem so wäre,
wenn Tacitus wirklich das von ihm beschriebne Land aus eigner Anschauung
sei es als Soldat, sei es als Beamter kennen gelernt hätte, so würde er kaum
unterlassen haben, seinen Lesern dies an irgend einer Stelle seiner umfangreichen
Schriften zu verraten. Nun aber giebt es keine Stelle in den Werken des
Tacitus, aus der man schließen könnte, daß er das Land jenseits und dies¬
seits des Rheins betreten habe. Er sagt freilich anch nicht das Gegenteil,
und die meisten seiner Äußerungen werden, wie gesagt, mit der Gewißheit eines
Augenzeugen gemacht. Aber darin folgt der Autor nur der Weise, die bei der


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[0648] l>b»r dia Gerlncinia das Tacitus Politiker, oder was wahrscheinlicher ist, der Historiker die Feder führte, jeden¬ falls war in der Lage der Dinge ein ausreichender Anlaß gegeben, die Blicke der Römer wieder einmal nach Deutschland zu lenken und die Zustünde dieses damals so merkwürdigen Landes gründlich zu beleuchten. Daß schon vor Tacitus verschiedne Schriften über Deutschland erschienen sind, ist allgemein bekannt, Cäsars Bericht über Gallier und Germanen kennt jeder, der die Tertia eines Gymnasiums besucht hat, Livius hat aus guten Quellen — er war am Julischeu Hofe wohlgelitten und ein besondrer Günst¬ ling der Livia — die Feldzüge des Drusus in Germanien dargestellt. Aber diese Bücher, es sind die letzten seines großen Geschichtswerks, sind verlöre» gegangen, und es sind nur noch kümmerliche Inhaltsangaben davon übrig, wozu dann freilich noch die Reflexe bei Dio Cassius kommen, der fast zwei¬ hundert Jahre später geschrieben und ans Livius geschöpft hat. Des Livius Geschichtswerk wurde fortgesetzt von dem kenntnisreichen Aufidius Bnssus, dann folgt das schon erwähnte Werk des Plinius über die germanischen Kriege, das wichtiger als alle seine Vorläufer schou deswegen war, weil Plinius, da er bei der römischen Reiterei in Deutschland gedient hatte, Land und Leute aus eigner Anschauung kannte. Alle diese mit Ausnahme der Kommentarien Cäsars verschwundnen Schriften wird natürlich Tacitus gekannt haben, den Cäsar nennt er bekanntlich in seiner Germania und bezeichnet ihn als den 8nrmmm iunztor, aber eigentlich benutzt für seine Darstellung hat er sie außer dem Plinius schwerlich. Daß er auch Plinius großes naturgeschichtliches Werk herangezogen hat, beweist die bekannte kleine Episode über deu Bernstein, die offenbar aus Plinius geschöpft ist. Noch untre heute Verlorne Schriften mögen unserm Autor bei seiner Arbeit vorgelegen haben: wenn er gelegentlich irrige Angaben bekämpft oder bezweifelt, mag er sich ans ältere uns unbekannte Geschichtschreiber oder Archäologen beziehn. Aber im ganzen steht Tacitus in seiner Darstellung offenbar auf eignen Füßen. Nicht die Vergangenheit will er schildern, sondern er will, wie Mullenhoff mit Recht hervorhebt, dar stellen, wie es zu seiner Zeit in Deutschland aussah. Wenn um aber Tacitus «»zweifelhaft mehr von Deutschland weiß als alle seine Vorgänger, so entsteht die Frage, woher denn seine überlegne Kenntnis stammt. Ist er etwa wie Plinius selbst in Deutschland gewesen? Das ist schon früh behauptet und auch von Neuern wiederholt worden, und in der That klingen manche der in der Germania vorkommenden Angaben so, als ob sie von einem Augenzeugen herrührte». Aber wenn dem so wäre, wenn Tacitus wirklich das von ihm beschriebne Land aus eigner Anschauung sei es als Soldat, sei es als Beamter kennen gelernt hätte, so würde er kaum unterlassen haben, seinen Lesern dies an irgend einer Stelle seiner umfangreichen Schriften zu verraten. Nun aber giebt es keine Stelle in den Werken des Tacitus, aus der man schließen könnte, daß er das Land jenseits und dies¬ seits des Rheins betreten habe. Er sagt freilich anch nicht das Gegenteil, und die meisten seiner Äußerungen werden, wie gesagt, mit der Gewißheit eines Augenzeugen gemacht. Aber darin folgt der Autor nur der Weise, die bei der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/648>, abgerufen am 28.07.2024.