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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten

ist denn auch in den gesamteuropäischen Dingen die Saat weitausgestrcnt, aus
der kleine Gemüter aufwachsen, und sie streut sich wie Unkraut mit beschwingten
Samen immer neu aus.

Wir haben es in Amerika drüben allerdings sehr leicht, die deutsche Natio¬
nalitätenpolitik engherzig zu nennen, wenn wir sie mit dem Weitoffenstehn
aller Thore des großen Landes vergleichen, durch die Einwandrer jeder Nasse,
Sprache und jedes Glaubens frei einziehn, ausgenommen die Chinesen und die
Japaner, ausgenommen ferner die armen Teufel, die gar nichts haben, und die
Räudigen und sonst Unheilbaren. Stelle ich mich aber in die Mitte dieses meines
alten Landes und sehe die 220000 Franzosen in Elsaß-Lothringen, hinter denen
zweihundertmal so viel Franzosen in Westeuropa wohnen, so erwäge ich, wie
nötig für Deutschland in Ermanglung andrer, natürlicher Grenzen ersten Ranges
die feste und sichere Hinstellung seines Volkstums in diesem Meer von Völkern
ist, das von allen Seiten anschwillt; da begreife ich dann recht gut, daß man
thut, was möglich ist, aus diesen Franzosen Deutsche zu macheu. Die deutsche
Politik in Nordschleswig findet noch weniger Beifall als die reichslündische. Es
mag sein, daß sie noch öfter zu kleinlichen Mitteln greift, die niemand billigen
mag. Aber diese 139000 Dänen sind in ihrer Weise geradeso unbequem wie die
Franzosen. In gewissem Sinne sind diese 360000 Menschen im Westen und
Norden eine größere politische Gefahr als die zehnmal zahlreichern Polen,
denn sie stützen sich auf Staatswesen ihres eignen Volkstums, denen sie auch
politisch früher angehört haben, und zu denen sie noch immer ihre Sympathien
hinüberziehn. Man soll zwar diese Gefahr nicht übertreiben, da ja die Masse jedes
Volkes glücklicherweise mit den Sorgen und Freuden ihres Lebens viel zu sehr
beschäftigt ist, als daß sie die Vertiefung und die Leidenschaft an die nationale
Frage hinzubringen vermöchte, von denen wir manche Angehörigen der höhern
Klassen beseelt finden. Aber jedenfalls ist die allmähliche Gewinnung dieser
teils sich widerwillig, teils sehr passiv stellenden Nordschleswiger und Elsaß-
Lothringer eine wichtige Aufgabe, die nicht bloß unsern Politikern und Be¬
amten, sondern insofern jedem Einzelnen von uns gestellt ist, als die am
sichersten zum Siege führende Waffe die Überlegenheit in .Kultur und Sitte
ist, die sich unwillkürlich die Anerkennung ihrer Überlegenheit erzwingt. Und
das ist eben der Punkt, wo diese Nationalitäteufragen, die neben andern klein
zu sein scheinen, mit den großen Fragen zusammenhängen, die die Zukunft
eines Volks überhaupt betreffen.

Seitdem die Vertretung von Pennshlvcmien noch vor der Unabhängigkeit
beschloß, es seien ihre Verhandlungen nur in einer Sprache zu führen, und
dazu die der englischen Minderheit erkor, ist im "Lande der Freiheit" daran
festgehalten worden, die Ökonomie der Zeit und der geistigen Arbeit verlange,
daß in einer politischen Gemeinschaft, wie verschiedensprachige Gruppen sie auch
zusammensetzen mögen, eine Sprache das gemeinsame Mittel der Verständigung
und des Verständnisses, des tiefern Sichverstehns, Sichkennenlernens sei.
Das wird als Forderung des Staates und wie etwas Selbstverständliches hin¬
genommen. Andres erfordern die Bedürfnisse deS täglichen Lebens, andres die


Briefe eines Zurückgekehrten

ist denn auch in den gesamteuropäischen Dingen die Saat weitausgestrcnt, aus
der kleine Gemüter aufwachsen, und sie streut sich wie Unkraut mit beschwingten
Samen immer neu aus.

Wir haben es in Amerika drüben allerdings sehr leicht, die deutsche Natio¬
nalitätenpolitik engherzig zu nennen, wenn wir sie mit dem Weitoffenstehn
aller Thore des großen Landes vergleichen, durch die Einwandrer jeder Nasse,
Sprache und jedes Glaubens frei einziehn, ausgenommen die Chinesen und die
Japaner, ausgenommen ferner die armen Teufel, die gar nichts haben, und die
Räudigen und sonst Unheilbaren. Stelle ich mich aber in die Mitte dieses meines
alten Landes und sehe die 220000 Franzosen in Elsaß-Lothringen, hinter denen
zweihundertmal so viel Franzosen in Westeuropa wohnen, so erwäge ich, wie
nötig für Deutschland in Ermanglung andrer, natürlicher Grenzen ersten Ranges
die feste und sichere Hinstellung seines Volkstums in diesem Meer von Völkern
ist, das von allen Seiten anschwillt; da begreife ich dann recht gut, daß man
thut, was möglich ist, aus diesen Franzosen Deutsche zu macheu. Die deutsche
Politik in Nordschleswig findet noch weniger Beifall als die reichslündische. Es
mag sein, daß sie noch öfter zu kleinlichen Mitteln greift, die niemand billigen
mag. Aber diese 139000 Dänen sind in ihrer Weise geradeso unbequem wie die
Franzosen. In gewissem Sinne sind diese 360000 Menschen im Westen und
Norden eine größere politische Gefahr als die zehnmal zahlreichern Polen,
denn sie stützen sich auf Staatswesen ihres eignen Volkstums, denen sie auch
politisch früher angehört haben, und zu denen sie noch immer ihre Sympathien
hinüberziehn. Man soll zwar diese Gefahr nicht übertreiben, da ja die Masse jedes
Volkes glücklicherweise mit den Sorgen und Freuden ihres Lebens viel zu sehr
beschäftigt ist, als daß sie die Vertiefung und die Leidenschaft an die nationale
Frage hinzubringen vermöchte, von denen wir manche Angehörigen der höhern
Klassen beseelt finden. Aber jedenfalls ist die allmähliche Gewinnung dieser
teils sich widerwillig, teils sehr passiv stellenden Nordschleswiger und Elsaß-
Lothringer eine wichtige Aufgabe, die nicht bloß unsern Politikern und Be¬
amten, sondern insofern jedem Einzelnen von uns gestellt ist, als die am
sichersten zum Siege führende Waffe die Überlegenheit in .Kultur und Sitte
ist, die sich unwillkürlich die Anerkennung ihrer Überlegenheit erzwingt. Und
das ist eben der Punkt, wo diese Nationalitäteufragen, die neben andern klein
zu sein scheinen, mit den großen Fragen zusammenhängen, die die Zukunft
eines Volks überhaupt betreffen.

Seitdem die Vertretung von Pennshlvcmien noch vor der Unabhängigkeit
beschloß, es seien ihre Verhandlungen nur in einer Sprache zu führen, und
dazu die der englischen Minderheit erkor, ist im „Lande der Freiheit" daran
festgehalten worden, die Ökonomie der Zeit und der geistigen Arbeit verlange,
daß in einer politischen Gemeinschaft, wie verschiedensprachige Gruppen sie auch
zusammensetzen mögen, eine Sprache das gemeinsame Mittel der Verständigung
und des Verständnisses, des tiefern Sichverstehns, Sichkennenlernens sei.
Das wird als Forderung des Staates und wie etwas Selbstverständliches hin¬
genommen. Andres erfordern die Bedürfnisse deS täglichen Lebens, andres die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/600>, abgerufen am 28.07.2024.