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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Briefe eines Zurückgekehrten

treffend denselben Zielen znfluten. Darauf kommt es um also an, daß die
Deutschen im gedrängten Wettbewerb mit andern Völkern ihr Gedeihen finden,
wobei sich unfehlbar Unterschiede an Kraft des Schaffens und sogar des ein¬
fachen Beharrens herausstellen werden, die mit der Zeit ans dem Völker,
durcheinander ein Völkerübereinandcr machen müssen. Vielleicht ist die größte
Frage auf diesem Gebiet die der Zukunft des romanischen Amerikas. Wird es
dem immer mächtiger anschwellenden Strom italienischer Auswandrer gelingen,
in Südbrasilien und den La Plataländern die dort vorhandene, noch dünne roma¬
nische Bevölkerung zu erneuern? Wenn, wie wir glauben, nicht, so sorge Deutsch¬
land beizeiten, sich dort eine solche Summe von festgewurzelten Interessen zu
schaffen, daß der unverschämte Anspruch Nordamerikas, auch südlich vom Golf
von Mexiko zu herrschen, ohne weiteres zerschellt. Das kann freilich nur die
Tüchtigkeit der Deutschen als geschlossene Volkspersönlichkeit vom Gesandten bis
zum deutschen Rinderhirten im Gauchogewand schaffen; aber nicht bloß die
Tüchtigkeit der Herz- und Armmuskeln, sondern auch die liebenswerten Eigen¬
schaften eines Nationalcharakters, die verhindern, daß die Achtung des Schwächern
in Furcht und Haß ausarte.

In Europa liegt die Zukunft Deutschlands in der Erhaltung seiner Macht¬
stellung und in der Festhnltung aller Volksgenossen: zwei Aufgaben, die man
immer mehr als auf einer Linie stehend anerkennen wird; hier muß uns die
Verletzung unsrer Volksgrenze so empfindlich sein wie die kleinste Beschädigung
unsrer Staatsgrenzen. Ferner liegt es aber Deutschland vermöge seiner geo¬
graphischen Stellung ob, seine volle Kraft an den Zusammenschluß der mittel¬
europäischen Mächte zwischen den Weltmächten England, Rußland und Nord¬
amerika zu setzen. Und diese Aufgabe ist die wichtigste und vielleicht nicht die
schwerste von den dreien. Das sind Aufgaben, die so verschiedne, fast wider¬
strebende Kräfte zur Arbeit rufen, daß man mit den alten Regeln, die ans
der unendlich viel einfachern Geschichte der ältern Mächte Europas oder der
Kolonialgeschichte Hollands oder Englands oder gar der römischen, auf die
man uns auch noch hinweisen möchte, bei uns nicht auskommt. Unser Fall
liegt viel verwickelter als alle frühern, denn von der gemcineuropäischen Krank¬
heit der Völkerzerklüftung und Völkerverfeindung ist Mitteleuropa am schwersten
heimgesucht, und während wir sür die Welt draußen freien, weiten Blick und
große Auffassungen nötig haben, will uus der Hader der Nationalitüten, der
Konfessionen und der wirtschaftlichen Interessengruppen kleine Geister und enge
Herzen auerziehu, wozu die liebe Presse, die von der Dummheit und den
schlechten Neigungen ihrer Leser viel bequemer und einträglicher lebt als von
den guten, aus besten Kräften beiträgt.

Aus klein wird kleinlich. So geht es in der Sprache, und so geht es in
der Sache. Kleine Verhältnisse machen kleine Leute. Es gehört ein Geist von
einer gebirgsquellhaften Tiefe und Frische dazu, auf der Schusterbank Welt-
rütsel zu lösen, wie Jakob Böhme. Wie mußte Bismarck wachsen, um mit
fünfzig eine deutsche und mit siebzig Jahren eine Kolonialpolitik zu machen,
die beide er mit dreißig und vierzig noch gar nicht hätte begreifen können! So


Briefe eines Zurückgekehrten

treffend denselben Zielen znfluten. Darauf kommt es um also an, daß die
Deutschen im gedrängten Wettbewerb mit andern Völkern ihr Gedeihen finden,
wobei sich unfehlbar Unterschiede an Kraft des Schaffens und sogar des ein¬
fachen Beharrens herausstellen werden, die mit der Zeit ans dem Völker,
durcheinander ein Völkerübereinandcr machen müssen. Vielleicht ist die größte
Frage auf diesem Gebiet die der Zukunft des romanischen Amerikas. Wird es
dem immer mächtiger anschwellenden Strom italienischer Auswandrer gelingen,
in Südbrasilien und den La Plataländern die dort vorhandene, noch dünne roma¬
nische Bevölkerung zu erneuern? Wenn, wie wir glauben, nicht, so sorge Deutsch¬
land beizeiten, sich dort eine solche Summe von festgewurzelten Interessen zu
schaffen, daß der unverschämte Anspruch Nordamerikas, auch südlich vom Golf
von Mexiko zu herrschen, ohne weiteres zerschellt. Das kann freilich nur die
Tüchtigkeit der Deutschen als geschlossene Volkspersönlichkeit vom Gesandten bis
zum deutschen Rinderhirten im Gauchogewand schaffen; aber nicht bloß die
Tüchtigkeit der Herz- und Armmuskeln, sondern auch die liebenswerten Eigen¬
schaften eines Nationalcharakters, die verhindern, daß die Achtung des Schwächern
in Furcht und Haß ausarte.

In Europa liegt die Zukunft Deutschlands in der Erhaltung seiner Macht¬
stellung und in der Festhnltung aller Volksgenossen: zwei Aufgaben, die man
immer mehr als auf einer Linie stehend anerkennen wird; hier muß uns die
Verletzung unsrer Volksgrenze so empfindlich sein wie die kleinste Beschädigung
unsrer Staatsgrenzen. Ferner liegt es aber Deutschland vermöge seiner geo¬
graphischen Stellung ob, seine volle Kraft an den Zusammenschluß der mittel¬
europäischen Mächte zwischen den Weltmächten England, Rußland und Nord¬
amerika zu setzen. Und diese Aufgabe ist die wichtigste und vielleicht nicht die
schwerste von den dreien. Das sind Aufgaben, die so verschiedne, fast wider¬
strebende Kräfte zur Arbeit rufen, daß man mit den alten Regeln, die ans
der unendlich viel einfachern Geschichte der ältern Mächte Europas oder der
Kolonialgeschichte Hollands oder Englands oder gar der römischen, auf die
man uns auch noch hinweisen möchte, bei uns nicht auskommt. Unser Fall
liegt viel verwickelter als alle frühern, denn von der gemcineuropäischen Krank¬
heit der Völkerzerklüftung und Völkerverfeindung ist Mitteleuropa am schwersten
heimgesucht, und während wir sür die Welt draußen freien, weiten Blick und
große Auffassungen nötig haben, will uus der Hader der Nationalitüten, der
Konfessionen und der wirtschaftlichen Interessengruppen kleine Geister und enge
Herzen auerziehu, wozu die liebe Presse, die von der Dummheit und den
schlechten Neigungen ihrer Leser viel bequemer und einträglicher lebt als von
den guten, aus besten Kräften beiträgt.

Aus klein wird kleinlich. So geht es in der Sprache, und so geht es in
der Sache. Kleine Verhältnisse machen kleine Leute. Es gehört ein Geist von
einer gebirgsquellhaften Tiefe und Frische dazu, auf der Schusterbank Welt-
rütsel zu lösen, wie Jakob Böhme. Wie mußte Bismarck wachsen, um mit
fünfzig eine deutsche und mit siebzig Jahren eine Kolonialpolitik zu machen,
die beide er mit dreißig und vierzig noch gar nicht hätte begreifen können! So


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[0599] Briefe eines Zurückgekehrten treffend denselben Zielen znfluten. Darauf kommt es um also an, daß die Deutschen im gedrängten Wettbewerb mit andern Völkern ihr Gedeihen finden, wobei sich unfehlbar Unterschiede an Kraft des Schaffens und sogar des ein¬ fachen Beharrens herausstellen werden, die mit der Zeit ans dem Völker, durcheinander ein Völkerübereinandcr machen müssen. Vielleicht ist die größte Frage auf diesem Gebiet die der Zukunft des romanischen Amerikas. Wird es dem immer mächtiger anschwellenden Strom italienischer Auswandrer gelingen, in Südbrasilien und den La Plataländern die dort vorhandene, noch dünne roma¬ nische Bevölkerung zu erneuern? Wenn, wie wir glauben, nicht, so sorge Deutsch¬ land beizeiten, sich dort eine solche Summe von festgewurzelten Interessen zu schaffen, daß der unverschämte Anspruch Nordamerikas, auch südlich vom Golf von Mexiko zu herrschen, ohne weiteres zerschellt. Das kann freilich nur die Tüchtigkeit der Deutschen als geschlossene Volkspersönlichkeit vom Gesandten bis zum deutschen Rinderhirten im Gauchogewand schaffen; aber nicht bloß die Tüchtigkeit der Herz- und Armmuskeln, sondern auch die liebenswerten Eigen¬ schaften eines Nationalcharakters, die verhindern, daß die Achtung des Schwächern in Furcht und Haß ausarte. In Europa liegt die Zukunft Deutschlands in der Erhaltung seiner Macht¬ stellung und in der Festhnltung aller Volksgenossen: zwei Aufgaben, die man immer mehr als auf einer Linie stehend anerkennen wird; hier muß uns die Verletzung unsrer Volksgrenze so empfindlich sein wie die kleinste Beschädigung unsrer Staatsgrenzen. Ferner liegt es aber Deutschland vermöge seiner geo¬ graphischen Stellung ob, seine volle Kraft an den Zusammenschluß der mittel¬ europäischen Mächte zwischen den Weltmächten England, Rußland und Nord¬ amerika zu setzen. Und diese Aufgabe ist die wichtigste und vielleicht nicht die schwerste von den dreien. Das sind Aufgaben, die so verschiedne, fast wider¬ strebende Kräfte zur Arbeit rufen, daß man mit den alten Regeln, die ans der unendlich viel einfachern Geschichte der ältern Mächte Europas oder der Kolonialgeschichte Hollands oder Englands oder gar der römischen, auf die man uns auch noch hinweisen möchte, bei uns nicht auskommt. Unser Fall liegt viel verwickelter als alle frühern, denn von der gemcineuropäischen Krank¬ heit der Völkerzerklüftung und Völkerverfeindung ist Mitteleuropa am schwersten heimgesucht, und während wir sür die Welt draußen freien, weiten Blick und große Auffassungen nötig haben, will uus der Hader der Nationalitüten, der Konfessionen und der wirtschaftlichen Interessengruppen kleine Geister und enge Herzen auerziehu, wozu die liebe Presse, die von der Dummheit und den schlechten Neigungen ihrer Leser viel bequemer und einträglicher lebt als von den guten, aus besten Kräften beiträgt. Aus klein wird kleinlich. So geht es in der Sprache, und so geht es in der Sache. Kleine Verhältnisse machen kleine Leute. Es gehört ein Geist von einer gebirgsquellhaften Tiefe und Frische dazu, auf der Schusterbank Welt- rütsel zu lösen, wie Jakob Böhme. Wie mußte Bismarck wachsen, um mit fünfzig eine deutsche und mit siebzig Jahren eine Kolonialpolitik zu machen, die beide er mit dreißig und vierzig noch gar nicht hätte begreifen können! So

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/599>, abgerufen am 01.09.2024.