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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Der Staatsmann, dein die Sorge für das Ganze auf die Schultern gelegt
ist, hat es mit Notwendigkeiten zu thun, die hoch über die Forderungen hinaus¬
gehn, mit denen das bürgerliche Recht seine Paragraphen begründet. Diese
Gebundenheit liegt auf der einen Seite in den Rücksichten, die der Lenker des
Staats auf die Potenzen des eignen Gemeinwesens zu nehmen hat, und auf
der andern in denen, die ihm von dem Lebenswillen einer fremden Nationalität
aufgezwungen werden. Zwischen innern Gärungeu und von außen drohenden
Gefahren muß er das Staatsschiff, beladen mit den Interessen der Nation,
durchführen: neben der Stärke ist möglichste Beweglichkeit des Fahrzeugs das erste
Erfordernis, Darf sie ihm dadurch versteift werden, daß ihm in das Gangwerk
seines Steuerruders die Regeln einer unverrückbaren Moral gewunden werden?

Nicht, als ob ein Staatsmann nicht mit der Summe aller moralischen
Tugenden geschmückt sein dürfte, aber sie dürfen nur da nicht werkthätig ins
Spiel der Kräfte eingemischt werden, wo sie nicht am Platze sind. Im poli¬
tischen Leben, da wo es bloß materielle Interessen durchzusetzen gilt, hat die
Moral nur dann einigen Wert, wenn es darauf ankommt, den auf Grund des
gleichen Vorteils geschlossenen Verträgen die höhere Weihe zu geben. An und
für sich hat diese kein Gewicht, doch sie kann, solange die Interessen zweier
kontrahierender Mächte zusammengehn, die Stärke des Kiels, der die beiden
einigt, vermehren; geht aber die reale Grundlage in die Brüche, so flattert
anch die Idee von dannen. Freilich ist es eine Wahrheit, daß auch im Zu¬
sammenleben der einzelnen Menschen unter dem starken Drange die Notwendig¬
keit den Sieg über die Freiheit davonzutragen pflegt, aber es ist auch eine
Möglichkeit, und sie ist tausendmal Wirklichkeit geworden, daß die freie Selbst
Überwindung, statt den Tod zu geben, das eigne Leben wegwirft. Hier liegt der
Unterschied: der einzelne Mensch kann oder muß, wo er unter dem äußersten
Zwange die Wahl hat, das eigne Ich aufgeben, der Staat, der die Zusammen¬
fassung aller ist, darf es nicht.

Daß in den Kenn des Menschendaseins auch die Möglichkeit einer Sitt¬
lichkeit gelegt wurde, die über die Grenzen irdischer UnVollkommenheit zu Gott
führt, ist eine Thatsache, die kein denkender Mensch leugnet; aber es ist ein
Fehler, dieses moralische Vermögen als allem andern voraufgehendes Regulativ
in das Leben und in die Beziehungen der Völker zu einander stellen zu wollen.
Der Urheber des Christentums wendet sich mit seiner Predigt an den einzelnen
Menschen, aber Sokrates belehrte den Charikles und den Kritias und viele
andre, die es gern hörten, darüber, wie ungerecht und unmoralisch es vom
athenischen Staate gehandelt sei, durch die vou Jahr zu Jahr gesteigerte Ver¬
mehrung seiner Streitmittel die Ruhe seiner Nachbarn zu stören. Wie ver¬
hängnisvoll das für die Wohlfahrt nicht bloß des athenischen, sondern des
ganzen griechischen Volkes gewesen ist, das wird man allgemein erst dann
klarer erkennen, wenn sich unsre jetzige höhere Schule von den Vorurteilen
frei gemacht haben wird, in denen sie noch immer im Hinblick auf antikes
Leben befangen ist. Was hat die noch so fein ausgeklügelte Ethik, und wenn
es die des Sokrates ist, mit dem biologischen Gesetz des Jnteressenkainpfes zu


Der Staatsmann, dein die Sorge für das Ganze auf die Schultern gelegt
ist, hat es mit Notwendigkeiten zu thun, die hoch über die Forderungen hinaus¬
gehn, mit denen das bürgerliche Recht seine Paragraphen begründet. Diese
Gebundenheit liegt auf der einen Seite in den Rücksichten, die der Lenker des
Staats auf die Potenzen des eignen Gemeinwesens zu nehmen hat, und auf
der andern in denen, die ihm von dem Lebenswillen einer fremden Nationalität
aufgezwungen werden. Zwischen innern Gärungeu und von außen drohenden
Gefahren muß er das Staatsschiff, beladen mit den Interessen der Nation,
durchführen: neben der Stärke ist möglichste Beweglichkeit des Fahrzeugs das erste
Erfordernis, Darf sie ihm dadurch versteift werden, daß ihm in das Gangwerk
seines Steuerruders die Regeln einer unverrückbaren Moral gewunden werden?

Nicht, als ob ein Staatsmann nicht mit der Summe aller moralischen
Tugenden geschmückt sein dürfte, aber sie dürfen nur da nicht werkthätig ins
Spiel der Kräfte eingemischt werden, wo sie nicht am Platze sind. Im poli¬
tischen Leben, da wo es bloß materielle Interessen durchzusetzen gilt, hat die
Moral nur dann einigen Wert, wenn es darauf ankommt, den auf Grund des
gleichen Vorteils geschlossenen Verträgen die höhere Weihe zu geben. An und
für sich hat diese kein Gewicht, doch sie kann, solange die Interessen zweier
kontrahierender Mächte zusammengehn, die Stärke des Kiels, der die beiden
einigt, vermehren; geht aber die reale Grundlage in die Brüche, so flattert
anch die Idee von dannen. Freilich ist es eine Wahrheit, daß auch im Zu¬
sammenleben der einzelnen Menschen unter dem starken Drange die Notwendig¬
keit den Sieg über die Freiheit davonzutragen pflegt, aber es ist auch eine
Möglichkeit, und sie ist tausendmal Wirklichkeit geworden, daß die freie Selbst
Überwindung, statt den Tod zu geben, das eigne Leben wegwirft. Hier liegt der
Unterschied: der einzelne Mensch kann oder muß, wo er unter dem äußersten
Zwange die Wahl hat, das eigne Ich aufgeben, der Staat, der die Zusammen¬
fassung aller ist, darf es nicht.

Daß in den Kenn des Menschendaseins auch die Möglichkeit einer Sitt¬
lichkeit gelegt wurde, die über die Grenzen irdischer UnVollkommenheit zu Gott
führt, ist eine Thatsache, die kein denkender Mensch leugnet; aber es ist ein
Fehler, dieses moralische Vermögen als allem andern voraufgehendes Regulativ
in das Leben und in die Beziehungen der Völker zu einander stellen zu wollen.
Der Urheber des Christentums wendet sich mit seiner Predigt an den einzelnen
Menschen, aber Sokrates belehrte den Charikles und den Kritias und viele
andre, die es gern hörten, darüber, wie ungerecht und unmoralisch es vom
athenischen Staate gehandelt sei, durch die vou Jahr zu Jahr gesteigerte Ver¬
mehrung seiner Streitmittel die Ruhe seiner Nachbarn zu stören. Wie ver¬
hängnisvoll das für die Wohlfahrt nicht bloß des athenischen, sondern des
ganzen griechischen Volkes gewesen ist, das wird man allgemein erst dann
klarer erkennen, wenn sich unsre jetzige höhere Schule von den Vorurteilen
frei gemacht haben wird, in denen sie noch immer im Hinblick auf antikes
Leben befangen ist. Was hat die noch so fein ausgeklügelte Ethik, und wenn
es die des Sokrates ist, mit dem biologischen Gesetz des Jnteressenkainpfes zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/580>, abgerufen am 01.09.2024.