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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Moral und Politik

zuführen, die "Verschlinger von Formeln," die den Wein in neue Schläuche
fassen, die den Tempel abbrechen, aber ihn auch in wenig Tagen wieder
aufbauen können. Solcher hat die Menschheit von Zeit zu Zeit nötig, damit
nicht unter der Macht der alles bezwingender Gewohnheit das Leben stockig
und faul werde, damit nicht die Not in den Ställen des Augias über alles
andre hinauswachse. Wollt ihr auch diese Menschen unter den Zwang einer
Sittlichkeit stellen, die einmal Wert hatte, aber ihn verlieren mußte, weil das
Feuer ihres Innern nicht mehr durch die Rinde dringen konnte?

Besser, ihr thut es nicht, weil ihr euch an eine vergebliche Arbeit macheu
würdet. Gerade sie hat die Natur, oder der Weltwille, oder Gott, wie ihr
immerhin, sagen möget, aus vielen auserkoren, um ein neues Feuer in der
Welt anzuzünden. El" neues? Stein, sondern um die alte, bloß kalt ge-
wordne Glut durch Zuführung gleichartiger, aber feinerer Elemente neu zu
entfachen, daß sie helleres Licht und bessere Wärme unter die Meuscheu aus¬
strahle. Wenn ihr auch sie unter das alte Gesetz beugen wolltet, dann würdet
ihr Kreuze aufrichten müssen, um sie zu Tode zu martern, und Scheiterhaufen
entflammen, um ihre Leiber zu verbrennen, aber Wirkung würdet ihr keine
andre haben als die, daß von Scheiter- und Mnrterholz die Geister der Ge¬
töteten in noch hellerer Verklärung emporstiegen und zur Nachfolge ausriefen.
Laßt euch warnen durch die Kriege, die der Fanatismus wachrief, in denen
er Länder verwüstete und ihre Städte in Asche legte, in denen er das Blut von
Millionen nud aber Millionen vergoß und doch nichts andres erreichte, als
daß ans Schutt und Asche die neue Aussaat um so kräftiger in die Halme
und um so leuchtender in die Blüte schoß.

Für diese Heroen einer idealen Welt brauchte Nietzsche die Satzungen der
bürgerlichen Moral nicht zu zerreißen, denn sie kamen selbst und kommen immer
uoch auf höheres Gebot, nicht um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu
erfüllen. Ihrer erhabnen Weisheit gegenüber erklingt seine Umwertung der
Werte wie das Lallen eines unmündigen Knaben, und neben ihrem Handeln
ist die Nerküttdnng seiner Herrenmoral wie das Snbelrasseln eines >M<Z8
gluriosus. Aber auch für die Führer der Nationen auf deu realen Gebieten
des Lebens hätte es der Nictzschischen Anstrengung der Umwertung nicht be¬
durft, freie Bahn für ihr Wirken zu schaffen.

Vor allem sei auch hier daran erinnert, daß das Sittengesetz nicht dazu
da ist, als Prokrustesbett für die Glieder andrer zu dienen, sondern daß es
nur Wert hat in den stillen Abmachungen des Einzelnen mit sich selbst. In
den Ausstrahlungen des privaten Lebens giebt das die beste Deckung, und
soweit es nicht reicht, springt das Richteramt ein, das mit Drohung und
Strafe das Mit- und Gegeneinander der Menschen ausrichtet. Könnte das
individuelle Gewissen mit seinen Regungen und das öffentliche Recht mit seinen
Satzungen auch über die Grenzen des Einzellebetts hinausreichen, so wäre in
demselben Maße wie für die Sicherheit des privaten Daseins anch für die
der Allgemeinheit gesorgt. Aber es liegt auf der Hand, daß hier mit ganz
andern Voraussetzungen gerechnet werden muß.


Moral und Politik

zuführen, die „Verschlinger von Formeln," die den Wein in neue Schläuche
fassen, die den Tempel abbrechen, aber ihn auch in wenig Tagen wieder
aufbauen können. Solcher hat die Menschheit von Zeit zu Zeit nötig, damit
nicht unter der Macht der alles bezwingender Gewohnheit das Leben stockig
und faul werde, damit nicht die Not in den Ställen des Augias über alles
andre hinauswachse. Wollt ihr auch diese Menschen unter den Zwang einer
Sittlichkeit stellen, die einmal Wert hatte, aber ihn verlieren mußte, weil das
Feuer ihres Innern nicht mehr durch die Rinde dringen konnte?

Besser, ihr thut es nicht, weil ihr euch an eine vergebliche Arbeit macheu
würdet. Gerade sie hat die Natur, oder der Weltwille, oder Gott, wie ihr
immerhin, sagen möget, aus vielen auserkoren, um ein neues Feuer in der
Welt anzuzünden. El» neues? Stein, sondern um die alte, bloß kalt ge-
wordne Glut durch Zuführung gleichartiger, aber feinerer Elemente neu zu
entfachen, daß sie helleres Licht und bessere Wärme unter die Meuscheu aus¬
strahle. Wenn ihr auch sie unter das alte Gesetz beugen wolltet, dann würdet
ihr Kreuze aufrichten müssen, um sie zu Tode zu martern, und Scheiterhaufen
entflammen, um ihre Leiber zu verbrennen, aber Wirkung würdet ihr keine
andre haben als die, daß von Scheiter- und Mnrterholz die Geister der Ge¬
töteten in noch hellerer Verklärung emporstiegen und zur Nachfolge ausriefen.
Laßt euch warnen durch die Kriege, die der Fanatismus wachrief, in denen
er Länder verwüstete und ihre Städte in Asche legte, in denen er das Blut von
Millionen nud aber Millionen vergoß und doch nichts andres erreichte, als
daß ans Schutt und Asche die neue Aussaat um so kräftiger in die Halme
und um so leuchtender in die Blüte schoß.

Für diese Heroen einer idealen Welt brauchte Nietzsche die Satzungen der
bürgerlichen Moral nicht zu zerreißen, denn sie kamen selbst und kommen immer
uoch auf höheres Gebot, nicht um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu
erfüllen. Ihrer erhabnen Weisheit gegenüber erklingt seine Umwertung der
Werte wie das Lallen eines unmündigen Knaben, und neben ihrem Handeln
ist die Nerküttdnng seiner Herrenmoral wie das Snbelrasseln eines >M<Z8
gluriosus. Aber auch für die Führer der Nationen auf deu realen Gebieten
des Lebens hätte es der Nictzschischen Anstrengung der Umwertung nicht be¬
durft, freie Bahn für ihr Wirken zu schaffen.

Vor allem sei auch hier daran erinnert, daß das Sittengesetz nicht dazu
da ist, als Prokrustesbett für die Glieder andrer zu dienen, sondern daß es
nur Wert hat in den stillen Abmachungen des Einzelnen mit sich selbst. In
den Ausstrahlungen des privaten Lebens giebt das die beste Deckung, und
soweit es nicht reicht, springt das Richteramt ein, das mit Drohung und
Strafe das Mit- und Gegeneinander der Menschen ausrichtet. Könnte das
individuelle Gewissen mit seinen Regungen und das öffentliche Recht mit seinen
Satzungen auch über die Grenzen des Einzellebetts hinausreichen, so wäre in
demselben Maße wie für die Sicherheit des privaten Daseins anch für die
der Allgemeinheit gesorgt. Aber es liegt auf der Hand, daß hier mit ganz
andern Voraussetzungen gerechnet werden muß.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/579>, abgerufen am 01.09.2024.