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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Moral und Politik

wollte, so hat er dieses Unterfangen schwer büßen müssen. Das Sittengesetz
ist einmal mit dem Menschen geboren und soll ihm zur Richtschnur dienen;
nur darauf kommt es an, daß er es uicht nach außen, sondern nach innen,
daß er es nicht gegell andre, sondern gegen sich selber wendet. Richtet nicht,
auf daß ihr uicht gerichtet werdet. Damit ist nicht gesagt worden, daß alles
Urteilfällen vom Übel sei, sondern es soll mir dem einzelnen Menschen die
Handhabung einer Waffe entwunden werden, die zweischneidig den, der sie
führt, mit derselben Schürfe trifft wie den, ans den sie fallen soll.

Auch dahin geht nicht die Absicht, dem bürgerlichen Richter die ihm über¬
tragne Handhabung des öffentlichen Rechts vor willkürlichen Eingriffen zu
sichern, sondern der Verwirrung zu steuern, die entstehn muß, wenn der eine
sich zum moralischen Wegweiser des andern machen will. Glaubst du an die
Unfehlbarkeit des moralischen Prinzips, und bist du der Überzeugung, daß
seine allgemeine Befolgung die Ordnung und den Frieden unter den Mensche"
zur Folge habe, so wende seine Schürfe zuerst gegen dich selber, und dann
siehe zu, wie es kommt. Deinem Nachbar gegenüber, der mit dir auf dem¬
selben Wege ist, halte dich sein säuberlich jenseits von Gut und Böse, aber
in der Abrechnung mit dem eignen Ich stelle dich mitten hinein. Mit dem
Gewissen, das in dich hineingepflanzt wurde, ist dir ein Zeiger gegeben, der
unfehlbar den Unterschied zwischen dem einen und dem andern feststellt und
dich nie unsicher läßt, was dn zu thu" hast. Haudelst du hierin mit dem
nötigen Ernst, so wird dir eins klar: nach der Not, die du mit dein eignen
Leibe hast, verstummt die Lust, dich auch mit dem deines Nächsten zu befassen.

Das ist keine neue, sondern eine sehr alte Weisheit, deren festgeschlossene
und in sich zusammenhängende Sätze sich zu den Aphorismen Nietzsches ver¬
halten wie die starken Maschen eines Fischernetzes zu den grünen Fäden des
Spinngewebes. Die Spinne hatte es auf midres als auf Fliegen abgesehen,
aber trotzdem ging ihr nichts besseres ins Netz, und schließlich blieb sie selbst
drin hängen. Nichts für ungut; aber wenn man ein eisernes Gefüge zer¬
schlagen will, dann muß mau einen schweren Hammer und einen noch stärker"
Arm haben, sonst fliegt der Hammer zurück und zertrümmert den eignen
Schädel. Nietzsche wollte die bürgerliche Moral vernichten, die eine Wirklich¬
keit außer ihm ist und deshalb nicht zu töten war, und statt ihrer die Herren-
moral aufrichten, die nicht ins Leben eingeführt werden konnte, weil sie nur
in seinein Kopfe existierte. Übermenschen? Im Sinne Nietzsches hat es nie
solche gegeben, oder waren sie da, Gewaltmenschen, die nur ihren brutale"
Willen als Gesetz gelten lassen wollen, dann ist die Menschheit auf die eine
oder die andre Weise mit ihnen fertig geworden.

Wohl aber hat es zu allen Zeiten große Menschen gegeben, die die
Führer ihrer Völker waren, Männer, deren Schritte unter denen von ihres¬
gleichen hallten, aber deren Köpfe weit über die der größten hinausragten.
Das sind die Menschen, in deren Köpfen und Herzen sich alles zusammen¬
findet, was in andern nur vereinzelt Platz hat, Männer, die deshalb auch
das Zeug in sich haben, das Alte zu vernichten und das Neue herauf-


Moral und Politik

wollte, so hat er dieses Unterfangen schwer büßen müssen. Das Sittengesetz
ist einmal mit dem Menschen geboren und soll ihm zur Richtschnur dienen;
nur darauf kommt es an, daß er es uicht nach außen, sondern nach innen,
daß er es nicht gegell andre, sondern gegen sich selber wendet. Richtet nicht,
auf daß ihr uicht gerichtet werdet. Damit ist nicht gesagt worden, daß alles
Urteilfällen vom Übel sei, sondern es soll mir dem einzelnen Menschen die
Handhabung einer Waffe entwunden werden, die zweischneidig den, der sie
führt, mit derselben Schürfe trifft wie den, ans den sie fallen soll.

Auch dahin geht nicht die Absicht, dem bürgerlichen Richter die ihm über¬
tragne Handhabung des öffentlichen Rechts vor willkürlichen Eingriffen zu
sichern, sondern der Verwirrung zu steuern, die entstehn muß, wenn der eine
sich zum moralischen Wegweiser des andern machen will. Glaubst du an die
Unfehlbarkeit des moralischen Prinzips, und bist du der Überzeugung, daß
seine allgemeine Befolgung die Ordnung und den Frieden unter den Mensche»
zur Folge habe, so wende seine Schürfe zuerst gegen dich selber, und dann
siehe zu, wie es kommt. Deinem Nachbar gegenüber, der mit dir auf dem¬
selben Wege ist, halte dich sein säuberlich jenseits von Gut und Böse, aber
in der Abrechnung mit dem eignen Ich stelle dich mitten hinein. Mit dem
Gewissen, das in dich hineingepflanzt wurde, ist dir ein Zeiger gegeben, der
unfehlbar den Unterschied zwischen dem einen und dem andern feststellt und
dich nie unsicher läßt, was dn zu thu» hast. Haudelst du hierin mit dem
nötigen Ernst, so wird dir eins klar: nach der Not, die du mit dein eignen
Leibe hast, verstummt die Lust, dich auch mit dem deines Nächsten zu befassen.

Das ist keine neue, sondern eine sehr alte Weisheit, deren festgeschlossene
und in sich zusammenhängende Sätze sich zu den Aphorismen Nietzsches ver¬
halten wie die starken Maschen eines Fischernetzes zu den grünen Fäden des
Spinngewebes. Die Spinne hatte es auf midres als auf Fliegen abgesehen,
aber trotzdem ging ihr nichts besseres ins Netz, und schließlich blieb sie selbst
drin hängen. Nichts für ungut; aber wenn man ein eisernes Gefüge zer¬
schlagen will, dann muß mau einen schweren Hammer und einen noch stärker»
Arm haben, sonst fliegt der Hammer zurück und zertrümmert den eignen
Schädel. Nietzsche wollte die bürgerliche Moral vernichten, die eine Wirklich¬
keit außer ihm ist und deshalb nicht zu töten war, und statt ihrer die Herren-
moral aufrichten, die nicht ins Leben eingeführt werden konnte, weil sie nur
in seinein Kopfe existierte. Übermenschen? Im Sinne Nietzsches hat es nie
solche gegeben, oder waren sie da, Gewaltmenschen, die nur ihren brutale«
Willen als Gesetz gelten lassen wollen, dann ist die Menschheit auf die eine
oder die andre Weise mit ihnen fertig geworden.

Wohl aber hat es zu allen Zeiten große Menschen gegeben, die die
Führer ihrer Völker waren, Männer, deren Schritte unter denen von ihres¬
gleichen hallten, aber deren Köpfe weit über die der größten hinausragten.
Das sind die Menschen, in deren Köpfen und Herzen sich alles zusammen¬
findet, was in andern nur vereinzelt Platz hat, Männer, die deshalb auch
das Zeug in sich haben, das Alte zu vernichten und das Neue herauf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/578>, abgerufen am 09.11.2024.