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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Moral und Politik

is Friedrich Nietzsche zuerst mit seiner Forderung des "Jenseits
von Gut und Böse" an die Öffentlichkeit trat, hatte der Satz
dieselbe Wirkung wie jedes Schlagwort, das die Menschen durch
die Neuheit seiner Fassung verblüfft. Vor allem übersah man,
daß es in seiner allgemeinen Fassung von einer durchaus falschen
Voraussetzung ausging, und daß zweitens, wo es ans Wahrheit berichte, diese
früher schon viel besser gesagt worden war.

Der neuste Philosoph -- oder ist auch er schon überholt worden? - -
will beweisen, daß die Moral nicht bloß ihrer formalen Ausgestaltung, sondern
ihrem eigentlichen Wesen nach einer fortwährenden Veränderung unterworfen,
und daß sie deshalb als Maß für die Wertschätzung menschlichen Handelns
gar nicht zu verwerten sei. Wenn das der Fall wäre, müßte es um die Ent¬
wicklung der Menschheit sehr schlimm stehn. Denn diese würde dadurch der
Einheitlichkeit entkleidet werden, ohne die eine Evolution zu immer höhern
Daseinsformen undenkbar ist. Wie alle menschliche Erkenntnisthätigkeit, so ist
auch die Moral eine unteilbare Einheit, die nur aus sich heraus die feinere
und freiere Gestaltung ausbildet.

Nach Nietzsche ist allein die Furcht die Mutter der Ethik, mit deren
Wert sich derzeit noch die Menschheit so maßlos brüske. Aber mag der Ur-
keim, aus dem sie hervorging, noch viel roher und formloser sein, so nimmt
das doch den Thatbestand nicht hinweg, daß die Einheit ihrer Geburt für alle
Menschheit dieselbe ist, und daß, wenn hier und da Ausnahmen auftauchen,
diese nnr scheinbar find und in Wirklichkeit die Regel bestätigen. Wie denn
mich die Erscheinung der Farbenblindheit und der Umstand, daß sich der eine
oder der andre in die Logik des Einmaleins nicht fügen will, um der Wahr¬
heit des Monismus nichts ändern können.

Mit der Berechtigung oder vielmehr mit der Notwendigkeit der Moral
im Haushalt alles Menschentums hat es also seine volle Richtigkeit, und
wenn trotzdem Nietzsche andre Regulative in den Gang des Lebens einsetzen


Grenzboten IV 1901 7L


Moral und Politik

is Friedrich Nietzsche zuerst mit seiner Forderung des „Jenseits
von Gut und Böse" an die Öffentlichkeit trat, hatte der Satz
dieselbe Wirkung wie jedes Schlagwort, das die Menschen durch
die Neuheit seiner Fassung verblüfft. Vor allem übersah man,
daß es in seiner allgemeinen Fassung von einer durchaus falschen
Voraussetzung ausging, und daß zweitens, wo es ans Wahrheit berichte, diese
früher schon viel besser gesagt worden war.

Der neuste Philosoph — oder ist auch er schon überholt worden? - -
will beweisen, daß die Moral nicht bloß ihrer formalen Ausgestaltung, sondern
ihrem eigentlichen Wesen nach einer fortwährenden Veränderung unterworfen,
und daß sie deshalb als Maß für die Wertschätzung menschlichen Handelns
gar nicht zu verwerten sei. Wenn das der Fall wäre, müßte es um die Ent¬
wicklung der Menschheit sehr schlimm stehn. Denn diese würde dadurch der
Einheitlichkeit entkleidet werden, ohne die eine Evolution zu immer höhern
Daseinsformen undenkbar ist. Wie alle menschliche Erkenntnisthätigkeit, so ist
auch die Moral eine unteilbare Einheit, die nur aus sich heraus die feinere
und freiere Gestaltung ausbildet.

Nach Nietzsche ist allein die Furcht die Mutter der Ethik, mit deren
Wert sich derzeit noch die Menschheit so maßlos brüske. Aber mag der Ur-
keim, aus dem sie hervorging, noch viel roher und formloser sein, so nimmt
das doch den Thatbestand nicht hinweg, daß die Einheit ihrer Geburt für alle
Menschheit dieselbe ist, und daß, wenn hier und da Ausnahmen auftauchen,
diese nnr scheinbar find und in Wirklichkeit die Regel bestätigen. Wie denn
mich die Erscheinung der Farbenblindheit und der Umstand, daß sich der eine
oder der andre in die Logik des Einmaleins nicht fügen will, um der Wahr¬
heit des Monismus nichts ändern können.

Mit der Berechtigung oder vielmehr mit der Notwendigkeit der Moral
im Haushalt alles Menschentums hat es also seine volle Richtigkeit, und
wenn trotzdem Nietzsche andre Regulative in den Gang des Lebens einsetzen


Grenzboten IV 1901 7L
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[0577] [Abbildung] Moral und Politik is Friedrich Nietzsche zuerst mit seiner Forderung des „Jenseits von Gut und Böse" an die Öffentlichkeit trat, hatte der Satz dieselbe Wirkung wie jedes Schlagwort, das die Menschen durch die Neuheit seiner Fassung verblüfft. Vor allem übersah man, daß es in seiner allgemeinen Fassung von einer durchaus falschen Voraussetzung ausging, und daß zweitens, wo es ans Wahrheit berichte, diese früher schon viel besser gesagt worden war. Der neuste Philosoph — oder ist auch er schon überholt worden? - - will beweisen, daß die Moral nicht bloß ihrer formalen Ausgestaltung, sondern ihrem eigentlichen Wesen nach einer fortwährenden Veränderung unterworfen, und daß sie deshalb als Maß für die Wertschätzung menschlichen Handelns gar nicht zu verwerten sei. Wenn das der Fall wäre, müßte es um die Ent¬ wicklung der Menschheit sehr schlimm stehn. Denn diese würde dadurch der Einheitlichkeit entkleidet werden, ohne die eine Evolution zu immer höhern Daseinsformen undenkbar ist. Wie alle menschliche Erkenntnisthätigkeit, so ist auch die Moral eine unteilbare Einheit, die nur aus sich heraus die feinere und freiere Gestaltung ausbildet. Nach Nietzsche ist allein die Furcht die Mutter der Ethik, mit deren Wert sich derzeit noch die Menschheit so maßlos brüske. Aber mag der Ur- keim, aus dem sie hervorging, noch viel roher und formloser sein, so nimmt das doch den Thatbestand nicht hinweg, daß die Einheit ihrer Geburt für alle Menschheit dieselbe ist, und daß, wenn hier und da Ausnahmen auftauchen, diese nnr scheinbar find und in Wirklichkeit die Regel bestätigen. Wie denn mich die Erscheinung der Farbenblindheit und der Umstand, daß sich der eine oder der andre in die Logik des Einmaleins nicht fügen will, um der Wahr¬ heit des Monismus nichts ändern können. Mit der Berechtigung oder vielmehr mit der Notwendigkeit der Moral im Haushalt alles Menschentums hat es also seine volle Richtigkeit, und wenn trotzdem Nietzsche andre Regulative in den Gang des Lebens einsetzen Grenzboten IV 1901 7L

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/577>, abgerufen am 13.11.2024.