Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
England und Rußland

soll Nußland die Mandschurei und die Mongolei, England das Jangtsethal,
Japan Korea als seine "ausschließliche Einflußsphäre" behaupten, im türkisch¬
griechischen Orient soll Rußland den staws ano in Ägypten, also die englische
Okkupation, anerkennen, England dagegen den Russen in Kleinasien freie Hand
lassen; in Persien will England eine russische Eisenbahnlinie nach einem Hafen
des Persischen Golfs zulassen, unter der Bedingung, daß mich hier der staws
c>no nicht geändert werde. Das bedeutet also: eine friedliche Teilung Chinas
und der asiatischen Türkei zwischen England und Rußland und die thatsäch¬
liche Auslieferung Persiens an Nußland, mit Ausschluß jeder dritten Macht.
Ein Bündnis darüber hinaus ist nicht beabsichtigt, wohl aber soll bei einem
englisch-deutschen Kriege Rußland, bei einem russisch-deutschen Kriege England
neutral bleiben, jede der beiden Mächte also der andern in Europa freie Hand
lassen.

Es liegt eine gewisse Naivität in der Ansicht, ein so tiefer, welthistorischer
Gegensatz, wie er seit fast einem Jahrhundert zwischen England und Rußland
besteht, lasse sich durch einen Vertrag ans dem Wege räumen. Von einer
solchen Anschauung gingen auch die fürstlichen Damen aus, die in dem Ver¬
trage von Olmütz 1850 "ein glückliches Einvernehmen der Familien" sahen
und sich dann entsetzten, als 1866 das Schwert das Verhältnis ordnete, gründ¬
licher, dauerhafter als damals die Feder. Unendlich umfassender und tiefer
als damals der Gegensatz zwischen Preußen und Österreich ist heute der Gegen¬
satz zwischen England und Nußland, denn es handelt sich um nichts Geringeres,
als um die Herrschaft über Asien, um Sein und Nichtsein der britischen Welt¬
macht, die am Besitz Indiens hängt. Über einen solchen Preis verständigt
man sich nicht; man kann gezwungen -- auch ohne Krieg -- darauf ver¬
zichten, aber man giebt ihn nicht freiwillig aus der Hand. Und Rußland ist
hier von vornherein im Vorteil. Denn in Indien herrschen die Engländer
nur, sie kolonisieren nicht, sie stehn als eine herrschende Kaste, als Soldaten,
Beamte, Kaufleute, als eine dünne Schicht von ein paarmalhnndcrttauscud
Köpfen über den ungezählten Millionen der eingebornen Bevölkerung, ihnen
fremd in Sprache, Religion, Anschauung und Sitte, mit dem abweiseudeu
Stolz einer überlegnen Nasse. Sie haben unzweifelhaft deu Indern die beste
Regierung gegeben, die diese jemals gehabt haben, und unter fremder Herr¬
schaft hat die ungeheure Halbinsel fast immer gestanden; aber ebenso unzweifel¬
haft regieren die Engländer Indien doch nicht um Indiens mulier, sondern
um ihrer selbst willen, sie beuten den Reichtum des Landes, direkt und indirekt,
dnrch Steuern, Gehalte, Pensionen, Unternehmergewinn derart aus, daß der größte
Teil dessen, was es aufbringt, nach England abfließt. Die Folgen eines Ver¬
lustes von Indien wären also schon in finanzieller Hinsicht gar nicht auszu-
denken, aber eine Notwendigkeit, daß gerade die Engländer in Indien zur
Herrschaft gelangten, gab es nicht. Wäre im achtzehnten Jahrhundert das
Los der Waffen anders gefallen, so würde heute dort, wozu schou ein guter
Anfang gemacht war, ein französisch-indisches Reich bestehn; denn Indien und


England und Rußland

soll Nußland die Mandschurei und die Mongolei, England das Jangtsethal,
Japan Korea als seine „ausschließliche Einflußsphäre" behaupten, im türkisch¬
griechischen Orient soll Rußland den staws ano in Ägypten, also die englische
Okkupation, anerkennen, England dagegen den Russen in Kleinasien freie Hand
lassen; in Persien will England eine russische Eisenbahnlinie nach einem Hafen
des Persischen Golfs zulassen, unter der Bedingung, daß mich hier der staws
c>no nicht geändert werde. Das bedeutet also: eine friedliche Teilung Chinas
und der asiatischen Türkei zwischen England und Rußland und die thatsäch¬
liche Auslieferung Persiens an Nußland, mit Ausschluß jeder dritten Macht.
Ein Bündnis darüber hinaus ist nicht beabsichtigt, wohl aber soll bei einem
englisch-deutschen Kriege Rußland, bei einem russisch-deutschen Kriege England
neutral bleiben, jede der beiden Mächte also der andern in Europa freie Hand
lassen.

Es liegt eine gewisse Naivität in der Ansicht, ein so tiefer, welthistorischer
Gegensatz, wie er seit fast einem Jahrhundert zwischen England und Rußland
besteht, lasse sich durch einen Vertrag ans dem Wege räumen. Von einer
solchen Anschauung gingen auch die fürstlichen Damen aus, die in dem Ver¬
trage von Olmütz 1850 „ein glückliches Einvernehmen der Familien" sahen
und sich dann entsetzten, als 1866 das Schwert das Verhältnis ordnete, gründ¬
licher, dauerhafter als damals die Feder. Unendlich umfassender und tiefer
als damals der Gegensatz zwischen Preußen und Österreich ist heute der Gegen¬
satz zwischen England und Nußland, denn es handelt sich um nichts Geringeres,
als um die Herrschaft über Asien, um Sein und Nichtsein der britischen Welt¬
macht, die am Besitz Indiens hängt. Über einen solchen Preis verständigt
man sich nicht; man kann gezwungen — auch ohne Krieg — darauf ver¬
zichten, aber man giebt ihn nicht freiwillig aus der Hand. Und Rußland ist
hier von vornherein im Vorteil. Denn in Indien herrschen die Engländer
nur, sie kolonisieren nicht, sie stehn als eine herrschende Kaste, als Soldaten,
Beamte, Kaufleute, als eine dünne Schicht von ein paarmalhnndcrttauscud
Köpfen über den ungezählten Millionen der eingebornen Bevölkerung, ihnen
fremd in Sprache, Religion, Anschauung und Sitte, mit dem abweiseudeu
Stolz einer überlegnen Nasse. Sie haben unzweifelhaft deu Indern die beste
Regierung gegeben, die diese jemals gehabt haben, und unter fremder Herr¬
schaft hat die ungeheure Halbinsel fast immer gestanden; aber ebenso unzweifel¬
haft regieren die Engländer Indien doch nicht um Indiens mulier, sondern
um ihrer selbst willen, sie beuten den Reichtum des Landes, direkt und indirekt,
dnrch Steuern, Gehalte, Pensionen, Unternehmergewinn derart aus, daß der größte
Teil dessen, was es aufbringt, nach England abfließt. Die Folgen eines Ver¬
lustes von Indien wären also schon in finanzieller Hinsicht gar nicht auszu-
denken, aber eine Notwendigkeit, daß gerade die Engländer in Indien zur
Herrschaft gelangten, gab es nicht. Wäre im achtzehnten Jahrhundert das
Los der Waffen anders gefallen, so würde heute dort, wozu schou ein guter
Anfang gemacht war, ein französisch-indisches Reich bestehn; denn Indien und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0478" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236300"/>
          <fw type="header" place="top"> England und Rußland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1815" prev="#ID_1814"> soll Nußland die Mandschurei und die Mongolei, England das Jangtsethal,<lb/>
Japan Korea als seine &#x201E;ausschließliche Einflußsphäre" behaupten, im türkisch¬<lb/>
griechischen Orient soll Rußland den staws ano in Ägypten, also die englische<lb/>
Okkupation, anerkennen, England dagegen den Russen in Kleinasien freie Hand<lb/>
lassen; in Persien will England eine russische Eisenbahnlinie nach einem Hafen<lb/>
des Persischen Golfs zulassen, unter der Bedingung, daß mich hier der staws<lb/>
c&gt;no nicht geändert werde. Das bedeutet also: eine friedliche Teilung Chinas<lb/>
und der asiatischen Türkei zwischen England und Rußland und die thatsäch¬<lb/>
liche Auslieferung Persiens an Nußland, mit Ausschluß jeder dritten Macht.<lb/>
Ein Bündnis darüber hinaus ist nicht beabsichtigt, wohl aber soll bei einem<lb/>
englisch-deutschen Kriege Rußland, bei einem russisch-deutschen Kriege England<lb/>
neutral bleiben, jede der beiden Mächte also der andern in Europa freie Hand<lb/>
lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1816" next="#ID_1817"> Es liegt eine gewisse Naivität in der Ansicht, ein so tiefer, welthistorischer<lb/>
Gegensatz, wie er seit fast einem Jahrhundert zwischen England und Rußland<lb/>
besteht, lasse sich durch einen Vertrag ans dem Wege räumen. Von einer<lb/>
solchen Anschauung gingen auch die fürstlichen Damen aus, die in dem Ver¬<lb/>
trage von Olmütz 1850 &#x201E;ein glückliches Einvernehmen der Familien" sahen<lb/>
und sich dann entsetzten, als 1866 das Schwert das Verhältnis ordnete, gründ¬<lb/>
licher, dauerhafter als damals die Feder. Unendlich umfassender und tiefer<lb/>
als damals der Gegensatz zwischen Preußen und Österreich ist heute der Gegen¬<lb/>
satz zwischen England und Nußland, denn es handelt sich um nichts Geringeres,<lb/>
als um die Herrschaft über Asien, um Sein und Nichtsein der britischen Welt¬<lb/>
macht, die am Besitz Indiens hängt. Über einen solchen Preis verständigt<lb/>
man sich nicht; man kann gezwungen &#x2014; auch ohne Krieg &#x2014; darauf ver¬<lb/>
zichten, aber man giebt ihn nicht freiwillig aus der Hand. Und Rußland ist<lb/>
hier von vornherein im Vorteil. Denn in Indien herrschen die Engländer<lb/>
nur, sie kolonisieren nicht, sie stehn als eine herrschende Kaste, als Soldaten,<lb/>
Beamte, Kaufleute, als eine dünne Schicht von ein paarmalhnndcrttauscud<lb/>
Köpfen über den ungezählten Millionen der eingebornen Bevölkerung, ihnen<lb/>
fremd in Sprache, Religion, Anschauung und Sitte, mit dem abweiseudeu<lb/>
Stolz einer überlegnen Nasse. Sie haben unzweifelhaft deu Indern die beste<lb/>
Regierung gegeben, die diese jemals gehabt haben, und unter fremder Herr¬<lb/>
schaft hat die ungeheure Halbinsel fast immer gestanden; aber ebenso unzweifel¬<lb/>
haft regieren die Engländer Indien doch nicht um Indiens mulier, sondern<lb/>
um ihrer selbst willen, sie beuten den Reichtum des Landes, direkt und indirekt,<lb/>
dnrch Steuern, Gehalte, Pensionen, Unternehmergewinn derart aus, daß der größte<lb/>
Teil dessen, was es aufbringt, nach England abfließt. Die Folgen eines Ver¬<lb/>
lustes von Indien wären also schon in finanzieller Hinsicht gar nicht auszu-<lb/>
denken, aber eine Notwendigkeit, daß gerade die Engländer in Indien zur<lb/>
Herrschaft gelangten, gab es nicht. Wäre im achtzehnten Jahrhundert das<lb/>
Los der Waffen anders gefallen, so würde heute dort, wozu schou ein guter<lb/>
Anfang gemacht war, ein französisch-indisches Reich bestehn; denn Indien und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0478] England und Rußland soll Nußland die Mandschurei und die Mongolei, England das Jangtsethal, Japan Korea als seine „ausschließliche Einflußsphäre" behaupten, im türkisch¬ griechischen Orient soll Rußland den staws ano in Ägypten, also die englische Okkupation, anerkennen, England dagegen den Russen in Kleinasien freie Hand lassen; in Persien will England eine russische Eisenbahnlinie nach einem Hafen des Persischen Golfs zulassen, unter der Bedingung, daß mich hier der staws c>no nicht geändert werde. Das bedeutet also: eine friedliche Teilung Chinas und der asiatischen Türkei zwischen England und Rußland und die thatsäch¬ liche Auslieferung Persiens an Nußland, mit Ausschluß jeder dritten Macht. Ein Bündnis darüber hinaus ist nicht beabsichtigt, wohl aber soll bei einem englisch-deutschen Kriege Rußland, bei einem russisch-deutschen Kriege England neutral bleiben, jede der beiden Mächte also der andern in Europa freie Hand lassen. Es liegt eine gewisse Naivität in der Ansicht, ein so tiefer, welthistorischer Gegensatz, wie er seit fast einem Jahrhundert zwischen England und Rußland besteht, lasse sich durch einen Vertrag ans dem Wege räumen. Von einer solchen Anschauung gingen auch die fürstlichen Damen aus, die in dem Ver¬ trage von Olmütz 1850 „ein glückliches Einvernehmen der Familien" sahen und sich dann entsetzten, als 1866 das Schwert das Verhältnis ordnete, gründ¬ licher, dauerhafter als damals die Feder. Unendlich umfassender und tiefer als damals der Gegensatz zwischen Preußen und Österreich ist heute der Gegen¬ satz zwischen England und Nußland, denn es handelt sich um nichts Geringeres, als um die Herrschaft über Asien, um Sein und Nichtsein der britischen Welt¬ macht, die am Besitz Indiens hängt. Über einen solchen Preis verständigt man sich nicht; man kann gezwungen — auch ohne Krieg — darauf ver¬ zichten, aber man giebt ihn nicht freiwillig aus der Hand. Und Rußland ist hier von vornherein im Vorteil. Denn in Indien herrschen die Engländer nur, sie kolonisieren nicht, sie stehn als eine herrschende Kaste, als Soldaten, Beamte, Kaufleute, als eine dünne Schicht von ein paarmalhnndcrttauscud Köpfen über den ungezählten Millionen der eingebornen Bevölkerung, ihnen fremd in Sprache, Religion, Anschauung und Sitte, mit dem abweiseudeu Stolz einer überlegnen Nasse. Sie haben unzweifelhaft deu Indern die beste Regierung gegeben, die diese jemals gehabt haben, und unter fremder Herr¬ schaft hat die ungeheure Halbinsel fast immer gestanden; aber ebenso unzweifel¬ haft regieren die Engländer Indien doch nicht um Indiens mulier, sondern um ihrer selbst willen, sie beuten den Reichtum des Landes, direkt und indirekt, dnrch Steuern, Gehalte, Pensionen, Unternehmergewinn derart aus, daß der größte Teil dessen, was es aufbringt, nach England abfließt. Die Folgen eines Ver¬ lustes von Indien wären also schon in finanzieller Hinsicht gar nicht auszu- denken, aber eine Notwendigkeit, daß gerade die Engländer in Indien zur Herrschaft gelangten, gab es nicht. Wäre im achtzehnten Jahrhundert das Los der Waffen anders gefallen, so würde heute dort, wozu schou ein guter Anfang gemacht war, ein französisch-indisches Reich bestehn; denn Indien und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/478
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/478>, abgerufen am 27.07.2024.