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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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und daß sie die Herzensbedürfnisse eines der Familistercgcnossen nicht voll zu
befriedigen vermögen. Wir müssen es somit dahingestellt sein lassen, ob es
Godin gelungen ist, seine Angestellten und Arbeiter nach seiner Fayon glücklich
werden zu lassen."

Dieser resignierten Stimmung wird man sich anschließen müssen. Mag
vieles in der ausgetüftelten Form verfehlt, zu sehr uach der Schablone ge¬
arbeitet sein, manches also noch der Verbesserung Raum geben, in der ganze"
Einrichtung liegt so viel Erkältendes und Abstoßendes, daß wir ihr eine allgemeine
Anwendung nicht zutrauen und in ihr nicht die Tendenz der Zukunftsent¬
wicklung des Arbeitsverhältnisses und des Wohnungsproblems entdecken können.
Der Mietkaserne darf die Zukunft nicht gehören, wenn die Wohnung auch
Jndividualitütsbedürfnisse befriedigen soll; und ans der Patronage und der
Unmündigkeit muß sich die volle Selbstverantwortung und Selbstverwaltung der
Arbeiter entwickeln, die in der humanen, gerechten und verständigen Gesinnung
der Unternehmer die notwendige Ergänzung finden muß. Eine Menschenfnbrik
ist jedenfalls nicht das Zukunftsideal.




Briefe eines Zurückgekehrten
7

IM>u den beliebten Gesprächsgegenständen einer anglokcltischen Gesell¬
schaft gehören die Kirche und ihr Geistlicher. Natürlich uur, wenn
!die Gesellschaft aus Leuten besteht, die, wie die bezeichnende Rede
lautet, "sich selbst achten," d. h. sich in Obacht nehmen, daß sie
! nichts sagen, was andre für unzulässig erachten. Solche Gespräche
sind, wie ich merke, in Deutschland stark außer Übung gekommen; in meiner
Jugendzeit waren sie in manchen Kreisen noch beliebt. Aber da hatten sie
doch oft eine Neigung, sich zu vertiefen. Denn da es in deutschen Gesell¬
schaften immer Leute giebt, die sich so wenig achten, daß sie offen und ehrlich
heraussagen, was sie denken, so kam man ans Glauben und Unglauben, Himmel
und Hölle, Feuerbach und Strauß zu reden, und es wurden innige aus der
Tiefe des Herzens geschöpfte Bekenntnisse des Glaubens von schneidenden
Zweifeln durchbohrt, dabei aber wohl auch manche Schärfe des Zweifels
stumpf befunden. In Amerika fand ich es ganz anders. Da griffen die
Kirchen und die Sekten tief in das Leben der ganzen Gesellschaft ein, und so
wie es zu oberst methodistische Universitäten und presbyterianische Legislaturen
gab, unterhielt man sich weiter unten ans baptistischer Tanzkrünzchen oder
hochkirchlichen Picknicks. Trotz der ungeheuern Hohlheit und Langweile solcher
Veranstaltungen in den Händen halbgebildeter Eiferer waren Missionsstunden
die beliebtesten Versammlungsorte der Jugend beiderlei Geschlechts. Die Frage


und daß sie die Herzensbedürfnisse eines der Familistercgcnossen nicht voll zu
befriedigen vermögen. Wir müssen es somit dahingestellt sein lassen, ob es
Godin gelungen ist, seine Angestellten und Arbeiter nach seiner Fayon glücklich
werden zu lassen."

Dieser resignierten Stimmung wird man sich anschließen müssen. Mag
vieles in der ausgetüftelten Form verfehlt, zu sehr uach der Schablone ge¬
arbeitet sein, manches also noch der Verbesserung Raum geben, in der ganze»
Einrichtung liegt so viel Erkältendes und Abstoßendes, daß wir ihr eine allgemeine
Anwendung nicht zutrauen und in ihr nicht die Tendenz der Zukunftsent¬
wicklung des Arbeitsverhältnisses und des Wohnungsproblems entdecken können.
Der Mietkaserne darf die Zukunft nicht gehören, wenn die Wohnung auch
Jndividualitütsbedürfnisse befriedigen soll; und ans der Patronage und der
Unmündigkeit muß sich die volle Selbstverantwortung und Selbstverwaltung der
Arbeiter entwickeln, die in der humanen, gerechten und verständigen Gesinnung
der Unternehmer die notwendige Ergänzung finden muß. Eine Menschenfnbrik
ist jedenfalls nicht das Zukunftsideal.




Briefe eines Zurückgekehrten
7

IM>u den beliebten Gesprächsgegenständen einer anglokcltischen Gesell¬
schaft gehören die Kirche und ihr Geistlicher. Natürlich uur, wenn
!die Gesellschaft aus Leuten besteht, die, wie die bezeichnende Rede
lautet, „sich selbst achten," d. h. sich in Obacht nehmen, daß sie
! nichts sagen, was andre für unzulässig erachten. Solche Gespräche
sind, wie ich merke, in Deutschland stark außer Übung gekommen; in meiner
Jugendzeit waren sie in manchen Kreisen noch beliebt. Aber da hatten sie
doch oft eine Neigung, sich zu vertiefen. Denn da es in deutschen Gesell¬
schaften immer Leute giebt, die sich so wenig achten, daß sie offen und ehrlich
heraussagen, was sie denken, so kam man ans Glauben und Unglauben, Himmel
und Hölle, Feuerbach und Strauß zu reden, und es wurden innige aus der
Tiefe des Herzens geschöpfte Bekenntnisse des Glaubens von schneidenden
Zweifeln durchbohrt, dabei aber wohl auch manche Schärfe des Zweifels
stumpf befunden. In Amerika fand ich es ganz anders. Da griffen die
Kirchen und die Sekten tief in das Leben der ganzen Gesellschaft ein, und so
wie es zu oberst methodistische Universitäten und presbyterianische Legislaturen
gab, unterhielt man sich weiter unten ans baptistischer Tanzkrünzchen oder
hochkirchlichen Picknicks. Trotz der ungeheuern Hohlheit und Langweile solcher
Veranstaltungen in den Händen halbgebildeter Eiferer waren Missionsstunden
die beliebtesten Versammlungsorte der Jugend beiderlei Geschlechts. Die Frage


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/442>, abgerufen am 01.09.2024.