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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Aus der Heimat Miquels

nusgraben könnte wenn ich nicht bloß ein diesen alten Häusern vorüberzöge,
sondern auch an ihre Thüren pochte und die Menschen drin zum Sprechen
brächte. Es mußte doch immer noch den einen oder den andern geben, der
Johannes Miguel persönlich gelaunt hatte lind mir erzählte, was er wußte.
Wirklich, so war es, und gleich die erste Erkundigung, die ich einzog, gab mir
die Gewißheit, daß außer einem mir bekannten Kaufmanne, der einmal Bürger¬
meister von Neuenhaus gewesen war, noch ein biedrer Buchbindermeister und
ein ebenso wackrer Schneidermeister lebten, die auf meine Fragen gern Rede
und Antwort stehn würden.

Es waren Männer von bewährten Charakter, zu denen mich am andern
Morgen mein erster Weg führte, und sie standen in ihrer kleinen Welt in
allgemeiner Achtung. Da mir außerdem persönliche Bekanntschaft den wünschens¬
werten Rückhalt gewährte, so trat ich meinen Rundgang mit so viel Zuversicht
an, wie nur jemals einem Interviewer Stärkung verliehen hat. Wenn ich
nur eins vorher bedacht hätte! Es wäre mir dann eine Enttäuschung erspart
geblieben, die eigentlich gar keine war. Woher sollten denn diese einfache"
Männer die Menge von Dingen wisse", die ich zu hören wünschte? Ja,
wenn ein großer Mann schon in seiner Kindheit den Stempel der Berühmt¬
heit an sich trüge, dann würden die Leute den Knaben auf Schritt und Tritt
beobachten und ihre Wahrnehmungen fein säuberlich geordnet und registriert
auf die Nachwelt bringen.

Die erste Jugend eines hervorragenden Menschen ist gleich der Quelle
des großen Stroms. Wer, der sein Wasser aus der Rinde der Erde hervor¬
brechen sieht, hat eine Ahnung, daß es einmal die großen Seeschiffe tragen
und in weiter Mündung ins Weltmeer ausströmen wird? Ohne Zweifel trug
schon in den Tagen der Kindheit Johannes Miquel die Spuren seiner spätern
Bedeutung an sich, aber keiner in seiner Umgebung und besonders niemand
von denen, die mit ihm auf der Straße gespielt und Flur und Feld durch¬
schweift hatten, hatte die Augen gehabt, sie als solche zu erkennen. Man darf
das nicht bedauern. Die frühzeitige Erkenntnis würde uns zwar eine Menge
Material auf den Tisch bringen, aber auch viel Arbeit, den Weizen von der
Spreu zu sondern. Denn die Subjektivität ist für das Erkennen ein gefähr¬
liches Ding und häufig schlimmer als die völlige Unbewußtheit.

Anstatt mich also enttäuscht zu sehen, hatte ich alle Ursache, mich zu
freuen, daß ich es nur mit Unbewußtheit und Vergessenheit zu thun hatte.
Was mir zuerst gesagt wurde, war etwas, was ich schon von Hause her wußte,
daß sich bis zu seinein zwölften Jahre die Begabung Miguels keineswegs als
hervorragend herausgestellt habe. Im Vergleich mit seinen Brüdern eher daS
Gegenteil. Auf die Klagen einer Nachbarin, daß es mit ihrem Jungen in
der Schule gar nicht vorwärts wolle, habe die Frau Hofmedikus mehr als
einmal tröstend erwidert: Lassen Sie es gut sein, meine Liebe, und denken
Sie an unsern Johannes, der wollte anfangs auch uicht recht in Tritt kommen,
bis ihm in seinem dreizehnten Jahre das Licht aufging.

Oder ob das wohl nur eine Tröstung war, die absichtlich das Licht des


Aus der Heimat Miquels

nusgraben könnte wenn ich nicht bloß ein diesen alten Häusern vorüberzöge,
sondern auch an ihre Thüren pochte und die Menschen drin zum Sprechen
brächte. Es mußte doch immer noch den einen oder den andern geben, der
Johannes Miguel persönlich gelaunt hatte lind mir erzählte, was er wußte.
Wirklich, so war es, und gleich die erste Erkundigung, die ich einzog, gab mir
die Gewißheit, daß außer einem mir bekannten Kaufmanne, der einmal Bürger¬
meister von Neuenhaus gewesen war, noch ein biedrer Buchbindermeister und
ein ebenso wackrer Schneidermeister lebten, die auf meine Fragen gern Rede
und Antwort stehn würden.

Es waren Männer von bewährten Charakter, zu denen mich am andern
Morgen mein erster Weg führte, und sie standen in ihrer kleinen Welt in
allgemeiner Achtung. Da mir außerdem persönliche Bekanntschaft den wünschens¬
werten Rückhalt gewährte, so trat ich meinen Rundgang mit so viel Zuversicht
an, wie nur jemals einem Interviewer Stärkung verliehen hat. Wenn ich
nur eins vorher bedacht hätte! Es wäre mir dann eine Enttäuschung erspart
geblieben, die eigentlich gar keine war. Woher sollten denn diese einfache»
Männer die Menge von Dingen wisse», die ich zu hören wünschte? Ja,
wenn ein großer Mann schon in seiner Kindheit den Stempel der Berühmt¬
heit an sich trüge, dann würden die Leute den Knaben auf Schritt und Tritt
beobachten und ihre Wahrnehmungen fein säuberlich geordnet und registriert
auf die Nachwelt bringen.

Die erste Jugend eines hervorragenden Menschen ist gleich der Quelle
des großen Stroms. Wer, der sein Wasser aus der Rinde der Erde hervor¬
brechen sieht, hat eine Ahnung, daß es einmal die großen Seeschiffe tragen
und in weiter Mündung ins Weltmeer ausströmen wird? Ohne Zweifel trug
schon in den Tagen der Kindheit Johannes Miquel die Spuren seiner spätern
Bedeutung an sich, aber keiner in seiner Umgebung und besonders niemand
von denen, die mit ihm auf der Straße gespielt und Flur und Feld durch¬
schweift hatten, hatte die Augen gehabt, sie als solche zu erkennen. Man darf
das nicht bedauern. Die frühzeitige Erkenntnis würde uns zwar eine Menge
Material auf den Tisch bringen, aber auch viel Arbeit, den Weizen von der
Spreu zu sondern. Denn die Subjektivität ist für das Erkennen ein gefähr¬
liches Ding und häufig schlimmer als die völlige Unbewußtheit.

Anstatt mich also enttäuscht zu sehen, hatte ich alle Ursache, mich zu
freuen, daß ich es nur mit Unbewußtheit und Vergessenheit zu thun hatte.
Was mir zuerst gesagt wurde, war etwas, was ich schon von Hause her wußte,
daß sich bis zu seinein zwölften Jahre die Begabung Miguels keineswegs als
hervorragend herausgestellt habe. Im Vergleich mit seinen Brüdern eher daS
Gegenteil. Auf die Klagen einer Nachbarin, daß es mit ihrem Jungen in
der Schule gar nicht vorwärts wolle, habe die Frau Hofmedikus mehr als
einmal tröstend erwidert: Lassen Sie es gut sein, meine Liebe, und denken
Sie an unsern Johannes, der wollte anfangs auch uicht recht in Tritt kommen,
bis ihm in seinem dreizehnten Jahre das Licht aufging.

Oder ob das wohl nur eine Tröstung war, die absichtlich das Licht des


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[0396] Aus der Heimat Miquels nusgraben könnte wenn ich nicht bloß ein diesen alten Häusern vorüberzöge, sondern auch an ihre Thüren pochte und die Menschen drin zum Sprechen brächte. Es mußte doch immer noch den einen oder den andern geben, der Johannes Miguel persönlich gelaunt hatte lind mir erzählte, was er wußte. Wirklich, so war es, und gleich die erste Erkundigung, die ich einzog, gab mir die Gewißheit, daß außer einem mir bekannten Kaufmanne, der einmal Bürger¬ meister von Neuenhaus gewesen war, noch ein biedrer Buchbindermeister und ein ebenso wackrer Schneidermeister lebten, die auf meine Fragen gern Rede und Antwort stehn würden. Es waren Männer von bewährten Charakter, zu denen mich am andern Morgen mein erster Weg führte, und sie standen in ihrer kleinen Welt in allgemeiner Achtung. Da mir außerdem persönliche Bekanntschaft den wünschens¬ werten Rückhalt gewährte, so trat ich meinen Rundgang mit so viel Zuversicht an, wie nur jemals einem Interviewer Stärkung verliehen hat. Wenn ich nur eins vorher bedacht hätte! Es wäre mir dann eine Enttäuschung erspart geblieben, die eigentlich gar keine war. Woher sollten denn diese einfache» Männer die Menge von Dingen wisse», die ich zu hören wünschte? Ja, wenn ein großer Mann schon in seiner Kindheit den Stempel der Berühmt¬ heit an sich trüge, dann würden die Leute den Knaben auf Schritt und Tritt beobachten und ihre Wahrnehmungen fein säuberlich geordnet und registriert auf die Nachwelt bringen. Die erste Jugend eines hervorragenden Menschen ist gleich der Quelle des großen Stroms. Wer, der sein Wasser aus der Rinde der Erde hervor¬ brechen sieht, hat eine Ahnung, daß es einmal die großen Seeschiffe tragen und in weiter Mündung ins Weltmeer ausströmen wird? Ohne Zweifel trug schon in den Tagen der Kindheit Johannes Miquel die Spuren seiner spätern Bedeutung an sich, aber keiner in seiner Umgebung und besonders niemand von denen, die mit ihm auf der Straße gespielt und Flur und Feld durch¬ schweift hatten, hatte die Augen gehabt, sie als solche zu erkennen. Man darf das nicht bedauern. Die frühzeitige Erkenntnis würde uns zwar eine Menge Material auf den Tisch bringen, aber auch viel Arbeit, den Weizen von der Spreu zu sondern. Denn die Subjektivität ist für das Erkennen ein gefähr¬ liches Ding und häufig schlimmer als die völlige Unbewußtheit. Anstatt mich also enttäuscht zu sehen, hatte ich alle Ursache, mich zu freuen, daß ich es nur mit Unbewußtheit und Vergessenheit zu thun hatte. Was mir zuerst gesagt wurde, war etwas, was ich schon von Hause her wußte, daß sich bis zu seinein zwölften Jahre die Begabung Miguels keineswegs als hervorragend herausgestellt habe. Im Vergleich mit seinen Brüdern eher daS Gegenteil. Auf die Klagen einer Nachbarin, daß es mit ihrem Jungen in der Schule gar nicht vorwärts wolle, habe die Frau Hofmedikus mehr als einmal tröstend erwidert: Lassen Sie es gut sein, meine Liebe, und denken Sie an unsern Johannes, der wollte anfangs auch uicht recht in Tritt kommen, bis ihm in seinem dreizehnten Jahre das Licht aufging. Oder ob das wohl nur eine Tröstung war, die absichtlich das Licht des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/396>, abgerufen am 01.09.2024.