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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

jemand diese Entwicklung fordern und beschleunigen will, dann aus; er die Nntiouen
und Regierungen zu allererst kennen, um sie richtig beeinflussen zu können. Novieow
ist niber von der richtigen Schätzung der Hauptpersonen des Weltdramas sehr weit
entfernt. So viel Schlimmes Frankreich auch -- das gesteht er zu -- früher
verübt haben mag, Preußen gegenüber ist es ihm das unschuldige Opferlamm,
Bismarck hingegen der böse Dämon, der aus Eroberungssucht eine auf Jahrhunderte
hin fortwirkende Kriegsgefahr geschaffen und das der echten Kultur schon so nahe
Europa aufs neue in die Barbarei zurückgestoßen Hut. -- Im einzelnen findet man,
wie sich das bei einem dicken Buche eines geistreichen Mannes von selbst versteht,
viel Wahres, viel Falsches und viel Geistreiches. Zu dem Falschen gehört, daß
Eroberungskriege nnter allen Umständen beide Parteien schädigen. Daß der be¬
ständige Ausgleich zwischen übervölkerten und untervölkerten Ländern eine Not¬
wendigkeit ist, leugnet auch Novieow nicht. Wenn uun ein übervölkertes Land um
ein untervolkertes grenzt, dessen Bewohner noch dazu so trag oder so unwissend
und ungeschickt sind, daß sie auf dem fruchtbarsten Boden verhungern, wenn das
zweite Land den wirtschaftlich tüchtigen Bewohnern des ersten die friedliche Ein¬
wanderung verwehrt und diese sich den Zugang durch einen Eroberungskrieg er¬
zwingen, so gewinnen zweifellos beide Nationen, und zwar die besiegte am meisten.
Zu den Wahrheiten rechnen wir, daß die Erschwerung des Warenaustausches durch
Zölle in deu meisten Fällen schadet. Aber Novieow hätte klüger gethan, bet seiner
frühern Bezeichnung solcher Schädigungen als AasMaKvs zu bleiben; jetzt charak¬
terisiert er sie als Raub und gemeinen Diebstahl, und das erbittert zu sehr, als
daß es wirken könnte. Von den vielen geistreichen Einfällen des Verfassers führen
wir zwei an, die zusammengenommen den Theologen eine harte Nuß zu knacken
geben. "Alle, die an die tierische Abstammung des Menschen glauben, sind un¬
versöhnliche Gegner des Kriegs. Alle dagegen, die den Menschen für einen ans
dem Paradiese verstoßenen Engel halten, sind Freunde des Kriegs. Jene glauben,
daß wir uns, nachdem wir Tiere gewesen sind, in der Richtung nach dem Engel-
tnm hin bewegen, diese, daß wir ans Engeln Tiere geworden und ewig Tiere zu
bleiben verurteilt sind" (S. 196). "Die Gegner sagen, es würde keinen Krieg
mehr geben, wenn alle Menschen Engel wären. Mit dem Engel meint man ein
geistig und sittlich vollkommnes Wesen; also sind die Menschen, wenn sie Krieg
führen, unvollkommen, also entweder Narren oder Verbrecher. Wenn demnach
Moltke behauptet, Gott habe den Krieg eingesetzt, so heißt das, er hat den Wahn¬
sinn und das Verbrechen eingesetzt" (S. 289). Zum Schluß bemerken wir, daß
der Verfasser den reichen Inhalt'seines 738 Seiten klein Oktav starken Buchs in
vier Hauptabschnitte gliedert: Die Vorteile der Föderation, die Hindernisse, die be¬
günstigenden Faktoren, die Verwirklichung, und das Rundschreiben des Grafen
Murawiew sFriedensmanifest des Zaren) als Anhang beifügt.


Über das Fluchen.

Die Kirche bekämpft nicht alle Sünden mit demselben
Eifer. Gegen manche, die uns gering erscheinen, eifert sie unablässig und rügt sie
mit Strenge, wogegen sie gegen andre weit schwerere, die aufs äußerste bekämpft
werden sollten, nachsichtig, jn gleichgiltig ist. Mir weites Thema! Eine Sünde
giebt es, gegen die die Kirche von jeher geeifert hat: das Fluchen. Diese Gewohn¬
heit hat die verschiedensten Veranlassungen. Ein Bösewicht flucht, wenn ihm sein
verbrecherisches Vorhaben mißlungen ist, und zeigt damit seine Nichtswürdigkeit.
Ein schlechter Mensch flucht gegen sein Weib und seine Kinder, das ist schändlich.
Wenn aber der Borgesetzte flucht über Faulheit, Liederlichkeit, Unordnung seiner
Untergebnen, so begeht er wohl keine Sünde, er thut vielmehr seine Pflicht und
brnncht dazu ein nnter Umständen ganz zweckdienliches Mittel. Als im Jahre 1813
Blücher bei Warteuburg über die Elbe ging und an der Brücke hielt, marschierte
mich ein Landwehrbataillon über die Brücke in sehr nachlässiger und schlechter


Maßgebliches und Unmaßgebliches

jemand diese Entwicklung fordern und beschleunigen will, dann aus; er die Nntiouen
und Regierungen zu allererst kennen, um sie richtig beeinflussen zu können. Novieow
ist niber von der richtigen Schätzung der Hauptpersonen des Weltdramas sehr weit
entfernt. So viel Schlimmes Frankreich auch — das gesteht er zu — früher
verübt haben mag, Preußen gegenüber ist es ihm das unschuldige Opferlamm,
Bismarck hingegen der böse Dämon, der aus Eroberungssucht eine auf Jahrhunderte
hin fortwirkende Kriegsgefahr geschaffen und das der echten Kultur schon so nahe
Europa aufs neue in die Barbarei zurückgestoßen Hut. — Im einzelnen findet man,
wie sich das bei einem dicken Buche eines geistreichen Mannes von selbst versteht,
viel Wahres, viel Falsches und viel Geistreiches. Zu dem Falschen gehört, daß
Eroberungskriege nnter allen Umständen beide Parteien schädigen. Daß der be¬
ständige Ausgleich zwischen übervölkerten und untervölkerten Ländern eine Not¬
wendigkeit ist, leugnet auch Novieow nicht. Wenn uun ein übervölkertes Land um
ein untervolkertes grenzt, dessen Bewohner noch dazu so trag oder so unwissend
und ungeschickt sind, daß sie auf dem fruchtbarsten Boden verhungern, wenn das
zweite Land den wirtschaftlich tüchtigen Bewohnern des ersten die friedliche Ein¬
wanderung verwehrt und diese sich den Zugang durch einen Eroberungskrieg er¬
zwingen, so gewinnen zweifellos beide Nationen, und zwar die besiegte am meisten.
Zu den Wahrheiten rechnen wir, daß die Erschwerung des Warenaustausches durch
Zölle in deu meisten Fällen schadet. Aber Novieow hätte klüger gethan, bet seiner
frühern Bezeichnung solcher Schädigungen als AasMaKvs zu bleiben; jetzt charak¬
terisiert er sie als Raub und gemeinen Diebstahl, und das erbittert zu sehr, als
daß es wirken könnte. Von den vielen geistreichen Einfällen des Verfassers führen
wir zwei an, die zusammengenommen den Theologen eine harte Nuß zu knacken
geben. „Alle, die an die tierische Abstammung des Menschen glauben, sind un¬
versöhnliche Gegner des Kriegs. Alle dagegen, die den Menschen für einen ans
dem Paradiese verstoßenen Engel halten, sind Freunde des Kriegs. Jene glauben,
daß wir uns, nachdem wir Tiere gewesen sind, in der Richtung nach dem Engel-
tnm hin bewegen, diese, daß wir ans Engeln Tiere geworden und ewig Tiere zu
bleiben verurteilt sind" (S. 196). „Die Gegner sagen, es würde keinen Krieg
mehr geben, wenn alle Menschen Engel wären. Mit dem Engel meint man ein
geistig und sittlich vollkommnes Wesen; also sind die Menschen, wenn sie Krieg
führen, unvollkommen, also entweder Narren oder Verbrecher. Wenn demnach
Moltke behauptet, Gott habe den Krieg eingesetzt, so heißt das, er hat den Wahn¬
sinn und das Verbrechen eingesetzt" (S. 289). Zum Schluß bemerken wir, daß
der Verfasser den reichen Inhalt'seines 738 Seiten klein Oktav starken Buchs in
vier Hauptabschnitte gliedert: Die Vorteile der Föderation, die Hindernisse, die be¬
günstigenden Faktoren, die Verwirklichung, und das Rundschreiben des Grafen
Murawiew sFriedensmanifest des Zaren) als Anhang beifügt.


Über das Fluchen.

Die Kirche bekämpft nicht alle Sünden mit demselben
Eifer. Gegen manche, die uns gering erscheinen, eifert sie unablässig und rügt sie
mit Strenge, wogegen sie gegen andre weit schwerere, die aufs äußerste bekämpft
werden sollten, nachsichtig, jn gleichgiltig ist. Mir weites Thema! Eine Sünde
giebt es, gegen die die Kirche von jeher geeifert hat: das Fluchen. Diese Gewohn¬
heit hat die verschiedensten Veranlassungen. Ein Bösewicht flucht, wenn ihm sein
verbrecherisches Vorhaben mißlungen ist, und zeigt damit seine Nichtswürdigkeit.
Ein schlechter Mensch flucht gegen sein Weib und seine Kinder, das ist schändlich.
Wenn aber der Borgesetzte flucht über Faulheit, Liederlichkeit, Unordnung seiner
Untergebnen, so begeht er wohl keine Sünde, er thut vielmehr seine Pflicht und
brnncht dazu ein nnter Umständen ganz zweckdienliches Mittel. Als im Jahre 1813
Blücher bei Warteuburg über die Elbe ging und an der Brücke hielt, marschierte
mich ein Landwehrbataillon über die Brücke in sehr nachlässiger und schlechter


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[0367] Maßgebliches und Unmaßgebliches jemand diese Entwicklung fordern und beschleunigen will, dann aus; er die Nntiouen und Regierungen zu allererst kennen, um sie richtig beeinflussen zu können. Novieow ist niber von der richtigen Schätzung der Hauptpersonen des Weltdramas sehr weit entfernt. So viel Schlimmes Frankreich auch — das gesteht er zu — früher verübt haben mag, Preußen gegenüber ist es ihm das unschuldige Opferlamm, Bismarck hingegen der böse Dämon, der aus Eroberungssucht eine auf Jahrhunderte hin fortwirkende Kriegsgefahr geschaffen und das der echten Kultur schon so nahe Europa aufs neue in die Barbarei zurückgestoßen Hut. — Im einzelnen findet man, wie sich das bei einem dicken Buche eines geistreichen Mannes von selbst versteht, viel Wahres, viel Falsches und viel Geistreiches. Zu dem Falschen gehört, daß Eroberungskriege nnter allen Umständen beide Parteien schädigen. Daß der be¬ ständige Ausgleich zwischen übervölkerten und untervölkerten Ländern eine Not¬ wendigkeit ist, leugnet auch Novieow nicht. Wenn uun ein übervölkertes Land um ein untervolkertes grenzt, dessen Bewohner noch dazu so trag oder so unwissend und ungeschickt sind, daß sie auf dem fruchtbarsten Boden verhungern, wenn das zweite Land den wirtschaftlich tüchtigen Bewohnern des ersten die friedliche Ein¬ wanderung verwehrt und diese sich den Zugang durch einen Eroberungskrieg er¬ zwingen, so gewinnen zweifellos beide Nationen, und zwar die besiegte am meisten. Zu den Wahrheiten rechnen wir, daß die Erschwerung des Warenaustausches durch Zölle in deu meisten Fällen schadet. Aber Novieow hätte klüger gethan, bet seiner frühern Bezeichnung solcher Schädigungen als AasMaKvs zu bleiben; jetzt charak¬ terisiert er sie als Raub und gemeinen Diebstahl, und das erbittert zu sehr, als daß es wirken könnte. Von den vielen geistreichen Einfällen des Verfassers führen wir zwei an, die zusammengenommen den Theologen eine harte Nuß zu knacken geben. „Alle, die an die tierische Abstammung des Menschen glauben, sind un¬ versöhnliche Gegner des Kriegs. Alle dagegen, die den Menschen für einen ans dem Paradiese verstoßenen Engel halten, sind Freunde des Kriegs. Jene glauben, daß wir uns, nachdem wir Tiere gewesen sind, in der Richtung nach dem Engel- tnm hin bewegen, diese, daß wir ans Engeln Tiere geworden und ewig Tiere zu bleiben verurteilt sind" (S. 196). „Die Gegner sagen, es würde keinen Krieg mehr geben, wenn alle Menschen Engel wären. Mit dem Engel meint man ein geistig und sittlich vollkommnes Wesen; also sind die Menschen, wenn sie Krieg führen, unvollkommen, also entweder Narren oder Verbrecher. Wenn demnach Moltke behauptet, Gott habe den Krieg eingesetzt, so heißt das, er hat den Wahn¬ sinn und das Verbrechen eingesetzt" (S. 289). Zum Schluß bemerken wir, daß der Verfasser den reichen Inhalt'seines 738 Seiten klein Oktav starken Buchs in vier Hauptabschnitte gliedert: Die Vorteile der Föderation, die Hindernisse, die be¬ günstigenden Faktoren, die Verwirklichung, und das Rundschreiben des Grafen Murawiew sFriedensmanifest des Zaren) als Anhang beifügt. Über das Fluchen. Die Kirche bekämpft nicht alle Sünden mit demselben Eifer. Gegen manche, die uns gering erscheinen, eifert sie unablässig und rügt sie mit Strenge, wogegen sie gegen andre weit schwerere, die aufs äußerste bekämpft werden sollten, nachsichtig, jn gleichgiltig ist. Mir weites Thema! Eine Sünde giebt es, gegen die die Kirche von jeher geeifert hat: das Fluchen. Diese Gewohn¬ heit hat die verschiedensten Veranlassungen. Ein Bösewicht flucht, wenn ihm sein verbrecherisches Vorhaben mißlungen ist, und zeigt damit seine Nichtswürdigkeit. Ein schlechter Mensch flucht gegen sein Weib und seine Kinder, das ist schändlich. Wenn aber der Borgesetzte flucht über Faulheit, Liederlichkeit, Unordnung seiner Untergebnen, so begeht er wohl keine Sünde, er thut vielmehr seine Pflicht und brnncht dazu ein nnter Umständen ganz zweckdienliches Mittel. Als im Jahre 1813 Blücher bei Warteuburg über die Elbe ging und an der Brücke hielt, marschierte mich ein Landwehrbataillon über die Brücke in sehr nachlässiger und schlechter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/367>, abgerufen am 13.11.2024.