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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus Paris und Spanien von Llara Bitter

zu haben. Die hier zusammengebrachten Indizien hätte vor dreihundert Jahren
vielleicht der nach der Carolina Recht sprechende Richter für eine "genugsame An¬
zeigung" gehalten, daß er auf Anwendung der "peinlichen Frage" erkannte. Ohne
Geständnis des Angeklagten Hütte er auf sie hin niemals auf schuldig zu erkennen
gewagt. Wir haben die "peinliche Frage," d, h, Daumschranbe und Streck¬
bett, nicht mehr, und wir wallen sie nicht wieder haben. Aber noch weniger
haben die Richter jetzt das Recht, auf Grund zweifelhafter Indizien ohne
weiteres das Schuldig auszusprechen. Die Abschaffung der Folter hatte nicht
den Zweck, den Angeschuldigten ans dem Regen unter die Traufe zu bringen.

Eine ganz unbegreifliche Thorheit ist es, wegen des Falls Krosigk und
des Lärms darüber von neuem gegen die Öffentlichkeit des Militärgerichts-
verfnhreus zu eifern, wie das manche für den Ausdruck einer ganz besonders
altpreußischen konservativen Gesinnung zu halten scheinen. Wir haben niemals
nach der Öffentlichkeit besonders dringend verlangt, aber hauptsächlich doch
deshalb, weil wir überzeugt waren, die Militärgerichte brauchten die Öffentlichkeit
nicht zu scheuen. Wenn man aber nach den Gumbinner Vorgängen die Wieder-
abschafsung der Öffentlichkeit verlangt, so provoziert man doch geradezu die
entgegengesetzte Überzeugung. Sollte in höhern Offizierskreisen eine andre
Nuffasfung herrschen, so müßte das sehr bedauert werden.

Auch das liegt jetzt in der Luft, daß man ein ganzer Mann zu sein ver¬
meint, wenn man die Verurteilung ohne Beweis, wenn sie im Interesse des
"Ganzen" zu liegen scheint, für eine Bagatelle, ja wohl für selbstverständlich
erklärt. Man spricht dann von Staatsraison. Die Blutrichter der französischen
Revolution, die wir als Königsmörder verabscheuen, waren auch stolz darauf,
solche ganze Männer zu sein. Man hüte sich im kleinen zu üben, was im
großen fluchwürdige Unthat ist. Wie die entsetzliche Sache, von der wir hier
reden, liegt, würde dem Interesse des Ganzen eine endgiltige Verurteilung ohne
hinreichenden Beweis, auch wenn die Verurteilten, was Gott weiß, die Schul¬
digen sind, zu unabsehbar schwerem, dauerndem Schaden gereichen.




Briefe aus Paris und Spanien von (Llara Viller

H
SM^^^i räulein Clara Bitter, eine begabte und strebsame junge Dame,
die der Tod ihren Angehörigen, einem weiten Freundeskreise
und der Kunst leider zu früh entrissen hat, war im Mai 1864
von England nach Paris übergesiedelt, um sich in den Ateliers
I dortiger Künstler als Malerin weiter auszubilden. Sie stammte
zwar, wenn wir recht verstanden haben, aus preußisch Schlesien und scheint
wie die ganze sympathische und feingebildete Familie in ihrem Wesen deutsch


Briefe aus Paris und Spanien von Llara Bitter

zu haben. Die hier zusammengebrachten Indizien hätte vor dreihundert Jahren
vielleicht der nach der Carolina Recht sprechende Richter für eine „genugsame An¬
zeigung" gehalten, daß er auf Anwendung der „peinlichen Frage" erkannte. Ohne
Geständnis des Angeklagten Hütte er auf sie hin niemals auf schuldig zu erkennen
gewagt. Wir haben die „peinliche Frage," d, h, Daumschranbe und Streck¬
bett, nicht mehr, und wir wallen sie nicht wieder haben. Aber noch weniger
haben die Richter jetzt das Recht, auf Grund zweifelhafter Indizien ohne
weiteres das Schuldig auszusprechen. Die Abschaffung der Folter hatte nicht
den Zweck, den Angeschuldigten ans dem Regen unter die Traufe zu bringen.

Eine ganz unbegreifliche Thorheit ist es, wegen des Falls Krosigk und
des Lärms darüber von neuem gegen die Öffentlichkeit des Militärgerichts-
verfnhreus zu eifern, wie das manche für den Ausdruck einer ganz besonders
altpreußischen konservativen Gesinnung zu halten scheinen. Wir haben niemals
nach der Öffentlichkeit besonders dringend verlangt, aber hauptsächlich doch
deshalb, weil wir überzeugt waren, die Militärgerichte brauchten die Öffentlichkeit
nicht zu scheuen. Wenn man aber nach den Gumbinner Vorgängen die Wieder-
abschafsung der Öffentlichkeit verlangt, so provoziert man doch geradezu die
entgegengesetzte Überzeugung. Sollte in höhern Offizierskreisen eine andre
Nuffasfung herrschen, so müßte das sehr bedauert werden.

Auch das liegt jetzt in der Luft, daß man ein ganzer Mann zu sein ver¬
meint, wenn man die Verurteilung ohne Beweis, wenn sie im Interesse des
„Ganzen" zu liegen scheint, für eine Bagatelle, ja wohl für selbstverständlich
erklärt. Man spricht dann von Staatsraison. Die Blutrichter der französischen
Revolution, die wir als Königsmörder verabscheuen, waren auch stolz darauf,
solche ganze Männer zu sein. Man hüte sich im kleinen zu üben, was im
großen fluchwürdige Unthat ist. Wie die entsetzliche Sache, von der wir hier
reden, liegt, würde dem Interesse des Ganzen eine endgiltige Verurteilung ohne
hinreichenden Beweis, auch wenn die Verurteilten, was Gott weiß, die Schul¬
digen sind, zu unabsehbar schwerem, dauerndem Schaden gereichen.




Briefe aus Paris und Spanien von (Llara Viller

H
SM^^^i räulein Clara Bitter, eine begabte und strebsame junge Dame,
die der Tod ihren Angehörigen, einem weiten Freundeskreise
und der Kunst leider zu früh entrissen hat, war im Mai 1864
von England nach Paris übergesiedelt, um sich in den Ateliers
I dortiger Künstler als Malerin weiter auszubilden. Sie stammte
zwar, wenn wir recht verstanden haben, aus preußisch Schlesien und scheint
wie die ganze sympathische und feingebildete Familie in ihrem Wesen deutsch


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[0036] Briefe aus Paris und Spanien von Llara Bitter zu haben. Die hier zusammengebrachten Indizien hätte vor dreihundert Jahren vielleicht der nach der Carolina Recht sprechende Richter für eine „genugsame An¬ zeigung" gehalten, daß er auf Anwendung der „peinlichen Frage" erkannte. Ohne Geständnis des Angeklagten Hütte er auf sie hin niemals auf schuldig zu erkennen gewagt. Wir haben die „peinliche Frage," d, h, Daumschranbe und Streck¬ bett, nicht mehr, und wir wallen sie nicht wieder haben. Aber noch weniger haben die Richter jetzt das Recht, auf Grund zweifelhafter Indizien ohne weiteres das Schuldig auszusprechen. Die Abschaffung der Folter hatte nicht den Zweck, den Angeschuldigten ans dem Regen unter die Traufe zu bringen. Eine ganz unbegreifliche Thorheit ist es, wegen des Falls Krosigk und des Lärms darüber von neuem gegen die Öffentlichkeit des Militärgerichts- verfnhreus zu eifern, wie das manche für den Ausdruck einer ganz besonders altpreußischen konservativen Gesinnung zu halten scheinen. Wir haben niemals nach der Öffentlichkeit besonders dringend verlangt, aber hauptsächlich doch deshalb, weil wir überzeugt waren, die Militärgerichte brauchten die Öffentlichkeit nicht zu scheuen. Wenn man aber nach den Gumbinner Vorgängen die Wieder- abschafsung der Öffentlichkeit verlangt, so provoziert man doch geradezu die entgegengesetzte Überzeugung. Sollte in höhern Offizierskreisen eine andre Nuffasfung herrschen, so müßte das sehr bedauert werden. Auch das liegt jetzt in der Luft, daß man ein ganzer Mann zu sein ver¬ meint, wenn man die Verurteilung ohne Beweis, wenn sie im Interesse des „Ganzen" zu liegen scheint, für eine Bagatelle, ja wohl für selbstverständlich erklärt. Man spricht dann von Staatsraison. Die Blutrichter der französischen Revolution, die wir als Königsmörder verabscheuen, waren auch stolz darauf, solche ganze Männer zu sein. Man hüte sich im kleinen zu üben, was im großen fluchwürdige Unthat ist. Wie die entsetzliche Sache, von der wir hier reden, liegt, würde dem Interesse des Ganzen eine endgiltige Verurteilung ohne hinreichenden Beweis, auch wenn die Verurteilten, was Gott weiß, die Schul¬ digen sind, zu unabsehbar schwerem, dauerndem Schaden gereichen. Briefe aus Paris und Spanien von (Llara Viller H SM^^^i räulein Clara Bitter, eine begabte und strebsame junge Dame, die der Tod ihren Angehörigen, einem weiten Freundeskreise und der Kunst leider zu früh entrissen hat, war im Mai 1864 von England nach Paris übergesiedelt, um sich in den Ateliers I dortiger Künstler als Malerin weiter auszubilden. Sie stammte zwar, wenn wir recht verstanden haben, aus preußisch Schlesien und scheint wie die ganze sympathische und feingebildete Familie in ihrem Wesen deutsch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/36>, abgerufen am 13.11.2024.