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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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uung manchmal vorgekommen sein mich, verschleiert. Es giebt bei ihm kein
langes Leiden und keine lebende" Verstümmelten, Fleischwnnden werden rasch
vom Arzte geheilt, sodaß die Verwundeten schon am andern Tage wieder in
den Kampf ziehn können. Wird einer schlver verwundet, so trägt ihn entweder
ein Gott aus der Schlacht und stellt ihn vollkommen wieder her, oder er stirbt
augenblicklich, sogar wenn ihm nur ein Arm abgehauen worden ist. Die
Schlacht gewährt Lust als ein gefährliches Kampfspiel , worin der Held seine
Kraft und Geschicklichkeit erprobt, Ruhm und Beute gewinnt, und in der
Muskel- und Willensspannuug, im betäubenden Tumult und Getöse ein er¬
höhtes Lebensgefühl genießt, aber das Morden, Verwunde" und Verstümmeln
bereitet ihm kein Vergnügen, und mich ans das, was der Krieg an angenehmer
Aufregung, an Ruhm und Beute bietet, würden alle gern verzichten, wenn
sie nur mit Ehren beizuziehn konnte". Bald ja, meint Odysseus, stelle sich
im Schlachtgetümmel Übersättigung ein; Achäer und Troer freuen sich gleicher¬
weise, als ein Zweikampf zwischen Alexander und Menelaus deu "jammervollen"
Krieg zu beendigen verspricht, und der Letztgenannte schilt die Troer übermütig,
weil sie die Schlacht nicht satt bekommen; bekomme man doch den Schlaf und
die Liebe, Musik und Tanz satt, was alles viel begehrenswerter sei als der
Krieg, Eben der Überdruß am Krieg und seine lange Dauer machen die
Griechen so wild, daß Agamemnon einmal um Gnade flehende Jünglinge mordet
und das Kind im Mutterleibe nicht zu schonen droht, wenn man Troja endlich
haben werde, Giftpfeile mag aus Furcht vor dem Zorne der Götter nicht
jeder gebrauchen.

Entscheidend für die Abschätzung des sittlichen Gehalts der Homerischen
Welt ist ihr Familien- und Gemeindeleben. Der Liebesgenuß wird als höchstes
Erdenglück gefeiert, das Geschlechtsleben aber als etwas Heiliges mit der
äußersten Zartheit behandelt. Die Männer sind schamhaft, auch wenn sie unter
sich und sonst übermütig sind (Ob. 18, 76). Die Jünglinge werden von den
Eltern beizeiten vermählt,") und es findet sich keine Spur, daß vor der Ver¬
mählung illegitimen Umgang zu pflegen gebilligte Sitte gewesen wäre. Das
Treiben der Freier mit zwölfen von den fünfzig Mägden des Odhsseus wird
als ein Frevel angesehen, und Telemach knüpft die leichtfertigen Frauenzimmer
ans, weil sie auf sein und der Mutter Haupt Unehre gehäuft hätten und des¬
halb eines reinen Todes nicht wert seien. Für die Gattin versteht sich flecken¬
lose Treue von selbst, Helena wird als Werkzeug eines Götterbcschlnsses mit
der Verblendung durch Aphrodite entschuldigt, Klytämnestra aber erfährt un¬
eingeschränkte und mitleidlose Verurteilung, Penelopen würde die Sitte erlaubt
haben, ihren Gemahl für verschollen zu erklären und sich wieder zu vermählen,
oder sich von ihren Eltern wieder vermählen zu lassen, und ihr Sohn Hütte
das Recht gehabt, sie nach Hause zu schicken und sich so der Schmarotzer zu



Allein von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt, empfehlen Hesiod und Solon den
Männern, sich um das dreißigste Jahr zu vereheliche",

uung manchmal vorgekommen sein mich, verschleiert. Es giebt bei ihm kein
langes Leiden und keine lebende» Verstümmelten, Fleischwnnden werden rasch
vom Arzte geheilt, sodaß die Verwundeten schon am andern Tage wieder in
den Kampf ziehn können. Wird einer schlver verwundet, so trägt ihn entweder
ein Gott aus der Schlacht und stellt ihn vollkommen wieder her, oder er stirbt
augenblicklich, sogar wenn ihm nur ein Arm abgehauen worden ist. Die
Schlacht gewährt Lust als ein gefährliches Kampfspiel , worin der Held seine
Kraft und Geschicklichkeit erprobt, Ruhm und Beute gewinnt, und in der
Muskel- und Willensspannuug, im betäubenden Tumult und Getöse ein er¬
höhtes Lebensgefühl genießt, aber das Morden, Verwunde« und Verstümmeln
bereitet ihm kein Vergnügen, und mich ans das, was der Krieg an angenehmer
Aufregung, an Ruhm und Beute bietet, würden alle gern verzichten, wenn
sie nur mit Ehren beizuziehn konnte». Bald ja, meint Odysseus, stelle sich
im Schlachtgetümmel Übersättigung ein; Achäer und Troer freuen sich gleicher¬
weise, als ein Zweikampf zwischen Alexander und Menelaus deu „jammervollen"
Krieg zu beendigen verspricht, und der Letztgenannte schilt die Troer übermütig,
weil sie die Schlacht nicht satt bekommen; bekomme man doch den Schlaf und
die Liebe, Musik und Tanz satt, was alles viel begehrenswerter sei als der
Krieg, Eben der Überdruß am Krieg und seine lange Dauer machen die
Griechen so wild, daß Agamemnon einmal um Gnade flehende Jünglinge mordet
und das Kind im Mutterleibe nicht zu schonen droht, wenn man Troja endlich
haben werde, Giftpfeile mag aus Furcht vor dem Zorne der Götter nicht
jeder gebrauchen.

Entscheidend für die Abschätzung des sittlichen Gehalts der Homerischen
Welt ist ihr Familien- und Gemeindeleben. Der Liebesgenuß wird als höchstes
Erdenglück gefeiert, das Geschlechtsleben aber als etwas Heiliges mit der
äußersten Zartheit behandelt. Die Männer sind schamhaft, auch wenn sie unter
sich und sonst übermütig sind (Ob. 18, 76). Die Jünglinge werden von den
Eltern beizeiten vermählt,") und es findet sich keine Spur, daß vor der Ver¬
mählung illegitimen Umgang zu pflegen gebilligte Sitte gewesen wäre. Das
Treiben der Freier mit zwölfen von den fünfzig Mägden des Odhsseus wird
als ein Frevel angesehen, und Telemach knüpft die leichtfertigen Frauenzimmer
ans, weil sie auf sein und der Mutter Haupt Unehre gehäuft hätten und des¬
halb eines reinen Todes nicht wert seien. Für die Gattin versteht sich flecken¬
lose Treue von selbst, Helena wird als Werkzeug eines Götterbcschlnsses mit
der Verblendung durch Aphrodite entschuldigt, Klytämnestra aber erfährt un¬
eingeschränkte und mitleidlose Verurteilung, Penelopen würde die Sitte erlaubt
haben, ihren Gemahl für verschollen zu erklären und sich wieder zu vermählen,
oder sich von ihren Eltern wieder vermählen zu lassen, und ihr Sohn Hütte
das Recht gehabt, sie nach Hause zu schicken und sich so der Schmarotzer zu



Allein von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt, empfehlen Hesiod und Solon den
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[0351] uung manchmal vorgekommen sein mich, verschleiert. Es giebt bei ihm kein langes Leiden und keine lebende» Verstümmelten, Fleischwnnden werden rasch vom Arzte geheilt, sodaß die Verwundeten schon am andern Tage wieder in den Kampf ziehn können. Wird einer schlver verwundet, so trägt ihn entweder ein Gott aus der Schlacht und stellt ihn vollkommen wieder her, oder er stirbt augenblicklich, sogar wenn ihm nur ein Arm abgehauen worden ist. Die Schlacht gewährt Lust als ein gefährliches Kampfspiel , worin der Held seine Kraft und Geschicklichkeit erprobt, Ruhm und Beute gewinnt, und in der Muskel- und Willensspannuug, im betäubenden Tumult und Getöse ein er¬ höhtes Lebensgefühl genießt, aber das Morden, Verwunde« und Verstümmeln bereitet ihm kein Vergnügen, und mich ans das, was der Krieg an angenehmer Aufregung, an Ruhm und Beute bietet, würden alle gern verzichten, wenn sie nur mit Ehren beizuziehn konnte». Bald ja, meint Odysseus, stelle sich im Schlachtgetümmel Übersättigung ein; Achäer und Troer freuen sich gleicher¬ weise, als ein Zweikampf zwischen Alexander und Menelaus deu „jammervollen" Krieg zu beendigen verspricht, und der Letztgenannte schilt die Troer übermütig, weil sie die Schlacht nicht satt bekommen; bekomme man doch den Schlaf und die Liebe, Musik und Tanz satt, was alles viel begehrenswerter sei als der Krieg, Eben der Überdruß am Krieg und seine lange Dauer machen die Griechen so wild, daß Agamemnon einmal um Gnade flehende Jünglinge mordet und das Kind im Mutterleibe nicht zu schonen droht, wenn man Troja endlich haben werde, Giftpfeile mag aus Furcht vor dem Zorne der Götter nicht jeder gebrauchen. Entscheidend für die Abschätzung des sittlichen Gehalts der Homerischen Welt ist ihr Familien- und Gemeindeleben. Der Liebesgenuß wird als höchstes Erdenglück gefeiert, das Geschlechtsleben aber als etwas Heiliges mit der äußersten Zartheit behandelt. Die Männer sind schamhaft, auch wenn sie unter sich und sonst übermütig sind (Ob. 18, 76). Die Jünglinge werden von den Eltern beizeiten vermählt,") und es findet sich keine Spur, daß vor der Ver¬ mählung illegitimen Umgang zu pflegen gebilligte Sitte gewesen wäre. Das Treiben der Freier mit zwölfen von den fünfzig Mägden des Odhsseus wird als ein Frevel angesehen, und Telemach knüpft die leichtfertigen Frauenzimmer ans, weil sie auf sein und der Mutter Haupt Unehre gehäuft hätten und des¬ halb eines reinen Todes nicht wert seien. Für die Gattin versteht sich flecken¬ lose Treue von selbst, Helena wird als Werkzeug eines Götterbcschlnsses mit der Verblendung durch Aphrodite entschuldigt, Klytämnestra aber erfährt un¬ eingeschränkte und mitleidlose Verurteilung, Penelopen würde die Sitte erlaubt haben, ihren Gemahl für verschollen zu erklären und sich wieder zu vermählen, oder sich von ihren Eltern wieder vermählen zu lassen, und ihr Sohn Hütte das Recht gehabt, sie nach Hause zu schicken und sich so der Schmarotzer zu Allein von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt, empfehlen Hesiod und Solon den Männern, sich um das dreißigste Jahr zu vereheliche»,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/351>, abgerufen am 01.09.2024.