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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Daseinszweck wäre. Sobald der Mensch "achzudenken anfängt, findet er unter
andern:, daß er sich mit seinen leiblichen und geistigen Eigenschaften und
Kräften nicht selbst gemacht hat, und dann findet er weiter, daß der Geist mit
seinen Ideen unmöglich das Erzeugnis eines brodelnden Chaos von mate¬
riellen Stoffen sein könne, daß es also eine höhere und eine höchste Vernunft
geben müsse, von der die seine ein Teil, ein Strahl oder ein Geschöpf ist.
Nicht den höchsten Geist, von dem der Mensch selbst ein Geschöpf ist, hat die
griechische Phantasie geschaffen, sondern nur die kindliche Form, in der sie sich
ihn vorstellt. Als natürliche Offenbarung hat die christliche Theologie und
Philosophie von Paulus bis Kant diese Vernunftthätigkeit des hellenischen
Geistes anerkannt. Ein übrigens sehr wohlwollender Rezensent der "Drei
Spaziergänge" (vorjährige Ur. 139a. der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung,
Beilage) hält die Schlüsse, die ich aus deu Tragikern auf die ätherische
Volksmoral gezogen habe, für unzulässig; die Weltanschauung der Tragiker
sei uuvolkstümlich gewesen, ihr Ursprung in Dunkel gehüllt, sie stamme aber
wahrscheinlich aus dem Orient. Was ans dem Orient stammt, davon wird
noch die Rede sein; gerade die Moral ist es am wenigsten, abgesehen von
solchen Erscheinungen wie dem asketischen und vegetarischen Hippolhtus des
Euripides. Vorläufig frage ich nur' Wo gehörte denn blenden, verstümmeln,
Pfählen, lebendig verbrennen, zersägen und schinden zur Praxis der Strafjustiz,
des Kultus und des Kriegs, in Hellas oder im Orient? Wo findet man auf
hellenische" Denkmälern Marterszenen abgebildet und dem Könige Köpfe vor¬
zählende Hauptleute wie auf de" assyrischen, und wo findet man unter den
morgenländischen Darstellungen ein freundliches "ut liebliches Tieridyll wie
auf der Gemme, die Milchhöfer Seite 38 wiedergiebt? (Zwei Kühe, die ihre
säugenden Kälbchen belecken.) Und wo herrscht ein geordnetes Familienleben
und ein heiliger Ehebund, am Herd der griechischen Heroen oder in den Harems
der assyrischen, der jüdischen und der persischen Sultane?

Das dem griechischen Bolksgemüt im Unterschied vom orientalischen
Eigentümliche bleibt nun einmal die Humanität, und sie offenbart sich
gleich in den homerischen Gedichten mit solcher Kraft und so deutlich, daß
damit ihre Ursprün glich keit hinreichend bewiesen ist. Man denke nur an
den Abschied Hektors von Andromnche, an das Wiedersehen von Odysseus
""d Penelope, an das Wiedersehen von Odysseus und Laertes, an Alkinoos
und Arete, an Nausikaa und ihre Brüder (als Folie nehme man die Familien¬
geschichten im Hause Davids und die der persischen Könige hinzu), an den
Bestich Priams bei Achill, an die Zärtlichkeit, mit der der treue Phönix den
kleinen Achill gepflegt hat, an die Stellung, die Eumcius und Eurykleia im
Haushalt ihrer Herrschaft einnehmen, an die Begrüßung des Telemach durch
Eumäus, nu die Hochherzigkeit "ud Zartheit, mit der die Gastfreundschaft geübt
wird, und an die Behandlung der Bettler (sogar die übermütigen Freier ent-
heben sich, als Autiuoos den Odysseus mit dem Schemel wirft, und dieser die
Götter und die Erinyen der Bettler anruft: denn diese gehöre" doch dem Zeus,


H>?lie>u'neuen und Christentum

Daseinszweck wäre. Sobald der Mensch »achzudenken anfängt, findet er unter
andern:, daß er sich mit seinen leiblichen und geistigen Eigenschaften und
Kräften nicht selbst gemacht hat, und dann findet er weiter, daß der Geist mit
seinen Ideen unmöglich das Erzeugnis eines brodelnden Chaos von mate¬
riellen Stoffen sein könne, daß es also eine höhere und eine höchste Vernunft
geben müsse, von der die seine ein Teil, ein Strahl oder ein Geschöpf ist.
Nicht den höchsten Geist, von dem der Mensch selbst ein Geschöpf ist, hat die
griechische Phantasie geschaffen, sondern nur die kindliche Form, in der sie sich
ihn vorstellt. Als natürliche Offenbarung hat die christliche Theologie und
Philosophie von Paulus bis Kant diese Vernunftthätigkeit des hellenischen
Geistes anerkannt. Ein übrigens sehr wohlwollender Rezensent der „Drei
Spaziergänge" (vorjährige Ur. 139a. der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung,
Beilage) hält die Schlüsse, die ich aus deu Tragikern auf die ätherische
Volksmoral gezogen habe, für unzulässig; die Weltanschauung der Tragiker
sei uuvolkstümlich gewesen, ihr Ursprung in Dunkel gehüllt, sie stamme aber
wahrscheinlich aus dem Orient. Was ans dem Orient stammt, davon wird
noch die Rede sein; gerade die Moral ist es am wenigsten, abgesehen von
solchen Erscheinungen wie dem asketischen und vegetarischen Hippolhtus des
Euripides. Vorläufig frage ich nur' Wo gehörte denn blenden, verstümmeln,
Pfählen, lebendig verbrennen, zersägen und schinden zur Praxis der Strafjustiz,
des Kultus und des Kriegs, in Hellas oder im Orient? Wo findet man auf
hellenische» Denkmälern Marterszenen abgebildet und dem Könige Köpfe vor¬
zählende Hauptleute wie auf de» assyrischen, und wo findet man unter den
morgenländischen Darstellungen ein freundliches »ut liebliches Tieridyll wie
auf der Gemme, die Milchhöfer Seite 38 wiedergiebt? (Zwei Kühe, die ihre
säugenden Kälbchen belecken.) Und wo herrscht ein geordnetes Familienleben
und ein heiliger Ehebund, am Herd der griechischen Heroen oder in den Harems
der assyrischen, der jüdischen und der persischen Sultane?

Das dem griechischen Bolksgemüt im Unterschied vom orientalischen
Eigentümliche bleibt nun einmal die Humanität, und sie offenbart sich
gleich in den homerischen Gedichten mit solcher Kraft und so deutlich, daß
damit ihre Ursprün glich keit hinreichend bewiesen ist. Man denke nur an
den Abschied Hektors von Andromnche, an das Wiedersehen von Odysseus
"»d Penelope, an das Wiedersehen von Odysseus und Laertes, an Alkinoos
und Arete, an Nausikaa und ihre Brüder (als Folie nehme man die Familien¬
geschichten im Hause Davids und die der persischen Könige hinzu), an den
Bestich Priams bei Achill, an die Zärtlichkeit, mit der der treue Phönix den
kleinen Achill gepflegt hat, an die Stellung, die Eumcius und Eurykleia im
Haushalt ihrer Herrschaft einnehmen, an die Begrüßung des Telemach durch
Eumäus, nu die Hochherzigkeit »ud Zartheit, mit der die Gastfreundschaft geübt
wird, und an die Behandlung der Bettler (sogar die übermütigen Freier ent-
heben sich, als Autiuoos den Odysseus mit dem Schemel wirft, und dieser die
Götter und die Erinyen der Bettler anruft: denn diese gehöre» doch dem Zeus,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/347>, abgerufen am 01.09.2024.