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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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-- einige Kassen thun es ja schon jetzt --, und je mehr sich der Kranke dem
Ende dieser Zeit nähert, "in so weniger darf er gesund werden: denn schon
winkt die Invalidenrente! Es ist ziemlich umständlich, die Rente zu erlangen,
es ist noch umständlicher, sie wieder los zu werde". Wenn der Renten¬
empfänger auch etwas arbeitet, so liegt die Gefahr, daß er seine Rente wieder
los wird, ziemlich fern; er gilt ja als gegen ein Drittel erwerbsfähig. Soll
es doch geschehn, so geht ein erbitterter Kampf los. Denn jeder sicht gern
für sein Recht, wenn es anch etwas zweifelhaft ist. Man will vor allem
nicht zu kurz kommen; das ist nicht bloß bei der Arbeiterversicheruug so,
sondern ebenso bei der privaten Unfallversicherung. Ein gesunder tüchtiger
Arbeiter findet natürlich hierbei seiue Rechnung nicht; dazu ist die Invaliden¬
rente zu gering. Immerhin tritt anch an ihn die Versuchung heran; aber die
große Zahl der körperlich lind moralisch Schwachen wird Rentenempfänger,
sobald irgend eine vielleicht recht ungefährliche Krankheit sie bis in die Nähe
der sechsundzwanzigsten Woche der Erwerbsunfähigkeit bringt.

Es giebt ungezählte alte Weiber, die offne Beine haben. Im Bürger-
und Beamteustnnde kostet es die größten Überredungskünste, die Frauen zu
wochenlangem Liegen zu bringen, was nötig ist, sie zu heilen. Die Frauen
haben keine Zeit, sie haben wichtigere Pflichten, und much die, die es könnten,
thun es nicht; sie stellen zu viel Ansprüche an den Inhalt des Lebens, als daß
sie sich wegen ihres Leidens einen Monat ins Bett legten, wohl gar mehrmals
im Jahre. Frauen aus dein Volk liegen, sobald die Kinder alle vierzehnjährig
sind, mit ihren Beinleiden drei Monate im Krankenhaus, wenn sie es haben
können auch sechs, und die Rente ist ihnen sicher. Wenn jemand nach Ab¬
lauf der sechsundzwanzigsten Woche noch ärztlich behandelt werden muß, so
ist er erwerbsunfähig, anch wenn das Leiden sehr geringfügig ist. Denn die
Kur verlangt in den meisten Fällen, daß der .Kranke nicht arbeitet. Weil er
arbeitsunfähig ist, muß er Rente haben. Hat er Rente, so muß er erst recht
behandelt werden. Denn das ist ja der einzige Weg, auf dem er kontrolliert
werden kann, damit er die Rente einmal wieder los wird. So kann man
auch mit einem juckenden Hautausschlag, mit Stichen nach einem alten Nippen-
brnch, mit dem Rheumatismus der Alkoholiker und ähnlichen schwer zu be¬
weisenden und schwer zu leuguenden Krankheiten Rentenempfänger werden, ja
man muß es sogar, man hat ja doch ein Recht darauf; man hat so lange
geklebt und null nun endlich einmal sehen, ob es wahr ist, daß man von dem
Gelde wieder etwas zu sehen kriegt. Man muß nur einen Arzt finden, der
erklärt, die .Krankheit sei da und müsse weiter behandelt werden, damit die Er¬
werbsfähigkeit des Kranken erhalten bleibe. Denn die Arbeitsunfähigkeit ist in
den meisten Fällen durch die Art der Kur gegeben, also ist der Renten-
fall da.

Es beweist ein recht schmeichelhaftes Vertrauen in die Tüchtigkeit des
ärztlichen Standes, daß man von ihn, verlangt, er solle an Stelle der Not
der strenge Richter sein, der die Unberechtigten zurückweist. Ein undankbares


— einige Kassen thun es ja schon jetzt —, und je mehr sich der Kranke dem
Ende dieser Zeit nähert, »in so weniger darf er gesund werden: denn schon
winkt die Invalidenrente! Es ist ziemlich umständlich, die Rente zu erlangen,
es ist noch umständlicher, sie wieder los zu werde». Wenn der Renten¬
empfänger auch etwas arbeitet, so liegt die Gefahr, daß er seine Rente wieder
los wird, ziemlich fern; er gilt ja als gegen ein Drittel erwerbsfähig. Soll
es doch geschehn, so geht ein erbitterter Kampf los. Denn jeder sicht gern
für sein Recht, wenn es anch etwas zweifelhaft ist. Man will vor allem
nicht zu kurz kommen; das ist nicht bloß bei der Arbeiterversicheruug so,
sondern ebenso bei der privaten Unfallversicherung. Ein gesunder tüchtiger
Arbeiter findet natürlich hierbei seiue Rechnung nicht; dazu ist die Invaliden¬
rente zu gering. Immerhin tritt anch an ihn die Versuchung heran; aber die
große Zahl der körperlich lind moralisch Schwachen wird Rentenempfänger,
sobald irgend eine vielleicht recht ungefährliche Krankheit sie bis in die Nähe
der sechsundzwanzigsten Woche der Erwerbsunfähigkeit bringt.

Es giebt ungezählte alte Weiber, die offne Beine haben. Im Bürger-
und Beamteustnnde kostet es die größten Überredungskünste, die Frauen zu
wochenlangem Liegen zu bringen, was nötig ist, sie zu heilen. Die Frauen
haben keine Zeit, sie haben wichtigere Pflichten, und much die, die es könnten,
thun es nicht; sie stellen zu viel Ansprüche an den Inhalt des Lebens, als daß
sie sich wegen ihres Leidens einen Monat ins Bett legten, wohl gar mehrmals
im Jahre. Frauen aus dein Volk liegen, sobald die Kinder alle vierzehnjährig
sind, mit ihren Beinleiden drei Monate im Krankenhaus, wenn sie es haben
können auch sechs, und die Rente ist ihnen sicher. Wenn jemand nach Ab¬
lauf der sechsundzwanzigsten Woche noch ärztlich behandelt werden muß, so
ist er erwerbsunfähig, anch wenn das Leiden sehr geringfügig ist. Denn die
Kur verlangt in den meisten Fällen, daß der .Kranke nicht arbeitet. Weil er
arbeitsunfähig ist, muß er Rente haben. Hat er Rente, so muß er erst recht
behandelt werden. Denn das ist ja der einzige Weg, auf dem er kontrolliert
werden kann, damit er die Rente einmal wieder los wird. So kann man
auch mit einem juckenden Hautausschlag, mit Stichen nach einem alten Nippen-
brnch, mit dem Rheumatismus der Alkoholiker und ähnlichen schwer zu be¬
weisenden und schwer zu leuguenden Krankheiten Rentenempfänger werden, ja
man muß es sogar, man hat ja doch ein Recht darauf; man hat so lange
geklebt und null nun endlich einmal sehen, ob es wahr ist, daß man von dem
Gelde wieder etwas zu sehen kriegt. Man muß nur einen Arzt finden, der
erklärt, die .Krankheit sei da und müsse weiter behandelt werden, damit die Er¬
werbsfähigkeit des Kranken erhalten bleibe. Denn die Arbeitsunfähigkeit ist in
den meisten Fällen durch die Art der Kur gegeben, also ist der Renten-
fall da.

Es beweist ein recht schmeichelhaftes Vertrauen in die Tüchtigkeit des
ärztlichen Standes, daß man von ihn, verlangt, er solle an Stelle der Not
der strenge Richter sein, der die Unberechtigten zurückweist. Ein undankbares


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[0344] — einige Kassen thun es ja schon jetzt —, und je mehr sich der Kranke dem Ende dieser Zeit nähert, »in so weniger darf er gesund werden: denn schon winkt die Invalidenrente! Es ist ziemlich umständlich, die Rente zu erlangen, es ist noch umständlicher, sie wieder los zu werde». Wenn der Renten¬ empfänger auch etwas arbeitet, so liegt die Gefahr, daß er seine Rente wieder los wird, ziemlich fern; er gilt ja als gegen ein Drittel erwerbsfähig. Soll es doch geschehn, so geht ein erbitterter Kampf los. Denn jeder sicht gern für sein Recht, wenn es anch etwas zweifelhaft ist. Man will vor allem nicht zu kurz kommen; das ist nicht bloß bei der Arbeiterversicheruug so, sondern ebenso bei der privaten Unfallversicherung. Ein gesunder tüchtiger Arbeiter findet natürlich hierbei seiue Rechnung nicht; dazu ist die Invaliden¬ rente zu gering. Immerhin tritt anch an ihn die Versuchung heran; aber die große Zahl der körperlich lind moralisch Schwachen wird Rentenempfänger, sobald irgend eine vielleicht recht ungefährliche Krankheit sie bis in die Nähe der sechsundzwanzigsten Woche der Erwerbsunfähigkeit bringt. Es giebt ungezählte alte Weiber, die offne Beine haben. Im Bürger- und Beamteustnnde kostet es die größten Überredungskünste, die Frauen zu wochenlangem Liegen zu bringen, was nötig ist, sie zu heilen. Die Frauen haben keine Zeit, sie haben wichtigere Pflichten, und much die, die es könnten, thun es nicht; sie stellen zu viel Ansprüche an den Inhalt des Lebens, als daß sie sich wegen ihres Leidens einen Monat ins Bett legten, wohl gar mehrmals im Jahre. Frauen aus dein Volk liegen, sobald die Kinder alle vierzehnjährig sind, mit ihren Beinleiden drei Monate im Krankenhaus, wenn sie es haben können auch sechs, und die Rente ist ihnen sicher. Wenn jemand nach Ab¬ lauf der sechsundzwanzigsten Woche noch ärztlich behandelt werden muß, so ist er erwerbsunfähig, anch wenn das Leiden sehr geringfügig ist. Denn die Kur verlangt in den meisten Fällen, daß der .Kranke nicht arbeitet. Weil er arbeitsunfähig ist, muß er Rente haben. Hat er Rente, so muß er erst recht behandelt werden. Denn das ist ja der einzige Weg, auf dem er kontrolliert werden kann, damit er die Rente einmal wieder los wird. So kann man auch mit einem juckenden Hautausschlag, mit Stichen nach einem alten Nippen- brnch, mit dem Rheumatismus der Alkoholiker und ähnlichen schwer zu be¬ weisenden und schwer zu leuguenden Krankheiten Rentenempfänger werden, ja man muß es sogar, man hat ja doch ein Recht darauf; man hat so lange geklebt und null nun endlich einmal sehen, ob es wahr ist, daß man von dem Gelde wieder etwas zu sehen kriegt. Man muß nur einen Arzt finden, der erklärt, die .Krankheit sei da und müsse weiter behandelt werden, damit die Er¬ werbsfähigkeit des Kranken erhalten bleibe. Denn die Arbeitsunfähigkeit ist in den meisten Fällen durch die Art der Kur gegeben, also ist der Renten- fall da. Es beweist ein recht schmeichelhaftes Vertrauen in die Tüchtigkeit des ärztlichen Standes, daß man von ihn, verlangt, er solle an Stelle der Not der strenge Richter sein, der die Unberechtigten zurückweist. Ein undankbares

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/344>, abgerufen am 27.07.2024.