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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Bei der Verwirklichung dieser Vorschläge würden zwei wesentliche Forde¬
rungen der Elsaß-Lothringer -- Stimmrecht im Bundesrat und Ausschluß des
Bundesrath von der Lnndesgesetzgebung -- erfüllt, zugleich würden aber die
nationalen Interessen dnrch die Erhaltung der unbeschränkten Reichskompetenz
in allen Angelegenheiten der Reichsprovinz Elsaß-Lothringen gesichert.




Über das Krankenversicherungsgesetz
(Fortsetzung)

kämpfen. Aber sobald der Versicherungsfall eingetreten ist, entsteht der Gegen¬
satz zwischen der .Kasse und dem Versicherten. Dieser nämlich hat jetzt ein
Recht gegen die Kasse. Er will vor allem "licht zu kurz kommen. Die
Interessen der Gesamtheit sind ihm in diesem Augenblick gleich. Die Kasse
aber will vor allein nicht zu viel zahlen. Damit ist der Kampf eröffnet, und
von dem Stand der Ehrlichkeit oder der Rechthaberei auf beiden Seiten hängt
es ab, wie lange er dauert. Je großer die Kasse oder die Anstalt ist, um so
ferner liegt dem Berechtigten der Gedanke an die Interessen der Allgemeinheit.
Es ist dann der große Beutel, worein er so lange gezahlt hat, der nun endlich
einmal bezahlen soll. Sieht dieser Beutel ans der Ferne gesehen dem Ge-
meindefiskus oder gar dem Staatsfiskus ähnlich, so wird die jahrhundertelang
geübte Moral des kleinen Mannes wieder lebendig, die lehrt, daß wer ordentlich
und sparsam sein will, den Fiskus zu betrügen sucht, wo er kann! Ich will
aber, um ehrlich zu sein, erwähnen, daß es noch eine andre Moral im Volke
giebt, die lehrt, daß wer Armenunterstützung braucht, ehrlos wird. Das Volk
ist immer geneigt, besonders die Gemeindekrankenversicherung und die Renten
der Jnvaliditätsversichernug als Armenunterstützung anzusehen, um die man
betteln muß, wenn man sie sicher erhalten Null. Ich habe alte, anständige
Leute weinen sehen und sagen hören, sie hätten jahrzehntelang in die .Kasse
gesteuert, ohne sie zu brauchen, und nun müßte es ihnen doch noch passieren,
daß sie Hilfe annehmen müßten. Sie glaubten sich dadurch in ihrer Ehre ge¬
kränkt. Aber diese Anschauungsweise ist selten und entspricht auch nicht der
Absicht des Gesetzes.

Je kleiner die Kasse ist, je mehr der Versicherte teil an der Verwaltung


Bei der Verwirklichung dieser Vorschläge würden zwei wesentliche Forde¬
rungen der Elsaß-Lothringer — Stimmrecht im Bundesrat und Ausschluß des
Bundesrath von der Lnndesgesetzgebung — erfüllt, zugleich würden aber die
nationalen Interessen dnrch die Erhaltung der unbeschränkten Reichskompetenz
in allen Angelegenheiten der Reichsprovinz Elsaß-Lothringen gesichert.




Über das Krankenversicherungsgesetz
(Fortsetzung)

kämpfen. Aber sobald der Versicherungsfall eingetreten ist, entsteht der Gegen¬
satz zwischen der .Kasse und dem Versicherten. Dieser nämlich hat jetzt ein
Recht gegen die Kasse. Er will vor allem »licht zu kurz kommen. Die
Interessen der Gesamtheit sind ihm in diesem Augenblick gleich. Die Kasse
aber will vor allein nicht zu viel zahlen. Damit ist der Kampf eröffnet, und
von dem Stand der Ehrlichkeit oder der Rechthaberei auf beiden Seiten hängt
es ab, wie lange er dauert. Je großer die Kasse oder die Anstalt ist, um so
ferner liegt dem Berechtigten der Gedanke an die Interessen der Allgemeinheit.
Es ist dann der große Beutel, worein er so lange gezahlt hat, der nun endlich
einmal bezahlen soll. Sieht dieser Beutel ans der Ferne gesehen dem Ge-
meindefiskus oder gar dem Staatsfiskus ähnlich, so wird die jahrhundertelang
geübte Moral des kleinen Mannes wieder lebendig, die lehrt, daß wer ordentlich
und sparsam sein will, den Fiskus zu betrügen sucht, wo er kann! Ich will
aber, um ehrlich zu sein, erwähnen, daß es noch eine andre Moral im Volke
giebt, die lehrt, daß wer Armenunterstützung braucht, ehrlos wird. Das Volk
ist immer geneigt, besonders die Gemeindekrankenversicherung und die Renten
der Jnvaliditätsversichernug als Armenunterstützung anzusehen, um die man
betteln muß, wenn man sie sicher erhalten Null. Ich habe alte, anständige
Leute weinen sehen und sagen hören, sie hätten jahrzehntelang in die .Kasse
gesteuert, ohne sie zu brauchen, und nun müßte es ihnen doch noch passieren,
daß sie Hilfe annehmen müßten. Sie glaubten sich dadurch in ihrer Ehre ge¬
kränkt. Aber diese Anschauungsweise ist selten und entspricht auch nicht der
Absicht des Gesetzes.

Je kleiner die Kasse ist, je mehr der Versicherte teil an der Verwaltung


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[0336] Bei der Verwirklichung dieser Vorschläge würden zwei wesentliche Forde¬ rungen der Elsaß-Lothringer — Stimmrecht im Bundesrat und Ausschluß des Bundesrath von der Lnndesgesetzgebung — erfüllt, zugleich würden aber die nationalen Interessen dnrch die Erhaltung der unbeschränkten Reichskompetenz in allen Angelegenheiten der Reichsprovinz Elsaß-Lothringen gesichert. Über das Krankenversicherungsgesetz (Fortsetzung) kämpfen. Aber sobald der Versicherungsfall eingetreten ist, entsteht der Gegen¬ satz zwischen der .Kasse und dem Versicherten. Dieser nämlich hat jetzt ein Recht gegen die Kasse. Er will vor allem »licht zu kurz kommen. Die Interessen der Gesamtheit sind ihm in diesem Augenblick gleich. Die Kasse aber will vor allein nicht zu viel zahlen. Damit ist der Kampf eröffnet, und von dem Stand der Ehrlichkeit oder der Rechthaberei auf beiden Seiten hängt es ab, wie lange er dauert. Je großer die Kasse oder die Anstalt ist, um so ferner liegt dem Berechtigten der Gedanke an die Interessen der Allgemeinheit. Es ist dann der große Beutel, worein er so lange gezahlt hat, der nun endlich einmal bezahlen soll. Sieht dieser Beutel ans der Ferne gesehen dem Ge- meindefiskus oder gar dem Staatsfiskus ähnlich, so wird die jahrhundertelang geübte Moral des kleinen Mannes wieder lebendig, die lehrt, daß wer ordentlich und sparsam sein will, den Fiskus zu betrügen sucht, wo er kann! Ich will aber, um ehrlich zu sein, erwähnen, daß es noch eine andre Moral im Volke giebt, die lehrt, daß wer Armenunterstützung braucht, ehrlos wird. Das Volk ist immer geneigt, besonders die Gemeindekrankenversicherung und die Renten der Jnvaliditätsversichernug als Armenunterstützung anzusehen, um die man betteln muß, wenn man sie sicher erhalten Null. Ich habe alte, anständige Leute weinen sehen und sagen hören, sie hätten jahrzehntelang in die .Kasse gesteuert, ohne sie zu brauchen, und nun müßte es ihnen doch noch passieren, daß sie Hilfe annehmen müßten. Sie glaubten sich dadurch in ihrer Ehre ge¬ kränkt. Aber diese Anschauungsweise ist selten und entspricht auch nicht der Absicht des Gesetzes. Je kleiner die Kasse ist, je mehr der Versicherte teil an der Verwaltung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/336>, abgerufen am 28.07.2024.