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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Das Reich und das Reichsland

gehörige verschiedener Departements zur Pflege provinzieller Sonderausgaben
vereinigt haben.

Die elsässischen Sonderbestrebungen waren bis zum Jahre 1870 durchaus
unpolitisch; erst seit der Annexion haben sie eine politische Bedeutung gewonnen.
Seit dem gennnuten Zeitpunkt ist die zarte Pflanze des elsässischen Partiku¬
larismus mit allen Mitteln gepflegt worden und zu einem mächtigen Baume
erstarkt. Es ist aber ein großer Fehler, diesen elsässischen Partikularismus
mit dein bayrischen, dem württembergischen oder dem sächsischen Partikularismus
auf dieselbe Stufe zu stellen. Dieser steht auf nationalem Boden; er ist eine
Spezies des deutschen Nationalgefühls, ein deutsches Nationalgefühl mit lokaler
oder dynastischer Färbung. Der elsässische Partikularismus steht nicht auf
nationalem Boden; er ist nicht eine Spezies des deutschen Nationalgefühls,
sondern ein ganz andres Genus. Die elsässischen Partikularisten suhlen sich
als dritte selbständige Nation neben den "Welschen" -- den Franzosen --
und neben den "Schwobeu" -- den Deutschen. Der bayrische, der württem¬
bergische und der sächsische Partikularismus ist ferner verbunden mit einer
kräftigen deutschen Staatsgesinnnug. Der bayrische, der württembergische und
der sächsische Partikularist fühlt sich mit Stolz als Glied des mächtige"
Deutschen Reichs, wenn er anch darin seine besondre Eigenart bewahren Null.
Diese deutsche Staatsgesinnung fehlt dein Elsüsser Partikularisten gänzlich. Er
steht innerlich dem Deutschen Reiche ebenso fremd und gleichgiltig gegenüber
wie der deutsche Schweizer und der deutsche Luxemburger. Zum Beweise für
diese Behauptung sei wiederum Heinrich Schneegans angeführt, der in seinem
schon erwähnten Aufsatz hervorhebt, daß die Gesinnung der meisten Elsüsser
"weder protestlerisch französisch noch offen reichsdentsch, sondern streng parti-
kularistisch" sei.

Ein weiterer Beweis für die Richtigkeit dieser Darstellung ist das Ver¬
halten der elsässischen Reichstagsabgeordneten, die zu der sogenannten "clsaß-
lothringischen Gruppe" im deutschen Reichstag gehören. Sie können sich
heute -- dreißig Jahre nach der Annexion -- noch nicht entschließen, einer
deutschen Fraktion als Mitglieder beizutreten. Mit einer einzigen Ausnahme
sind sie klerikal; die größere Hälfte unter ihnen -- vier von sieben -- besteht
aus katholischen Geistlichen; ein Unterschied ihres Programms von dem des
Zentrums ist nicht zu erkennen. Trotzdem halten sie sich vom Zentrum fern
und ziehn es vor, mit ihren lothrüuu'schen Nachbarn eine besondre Landsmann¬
schaft -- gleich den Polen -- zu bilden. Dem Liebeswerben des katholischen
Volksvereius wird von vielen elsässischen Katholiken gleichfalls ein zäher passiver
Widerstand entgegengesetzt, wie eine kompetente Persönlichkeit -- Professor
Müller vom Straßburger Pnesterseminar -- auf der Straßburger Versamm¬
lung des genannten Vereins am 22. Juni 1901 offen ausgesprochen hat.

Ein geradezu klassisches Beispiel für den Gegensatz zwischen deutscher und
elsässischer Gesinnung bieten die Verhandlungen des Landesnusschusses vom
5. und 6. Februar 1901. In der ersten dieser Sitzungen äußerte der Ab-


Das Reich und das Reichsland

gehörige verschiedener Departements zur Pflege provinzieller Sonderausgaben
vereinigt haben.

Die elsässischen Sonderbestrebungen waren bis zum Jahre 1870 durchaus
unpolitisch; erst seit der Annexion haben sie eine politische Bedeutung gewonnen.
Seit dem gennnuten Zeitpunkt ist die zarte Pflanze des elsässischen Partiku¬
larismus mit allen Mitteln gepflegt worden und zu einem mächtigen Baume
erstarkt. Es ist aber ein großer Fehler, diesen elsässischen Partikularismus
mit dein bayrischen, dem württembergischen oder dem sächsischen Partikularismus
auf dieselbe Stufe zu stellen. Dieser steht auf nationalem Boden; er ist eine
Spezies des deutschen Nationalgefühls, ein deutsches Nationalgefühl mit lokaler
oder dynastischer Färbung. Der elsässische Partikularismus steht nicht auf
nationalem Boden; er ist nicht eine Spezies des deutschen Nationalgefühls,
sondern ein ganz andres Genus. Die elsässischen Partikularisten suhlen sich
als dritte selbständige Nation neben den „Welschen" — den Franzosen —
und neben den „Schwobeu" — den Deutschen. Der bayrische, der württem¬
bergische und der sächsische Partikularismus ist ferner verbunden mit einer
kräftigen deutschen Staatsgesinnnug. Der bayrische, der württembergische und
der sächsische Partikularist fühlt sich mit Stolz als Glied des mächtige»
Deutschen Reichs, wenn er anch darin seine besondre Eigenart bewahren Null.
Diese deutsche Staatsgesinnung fehlt dein Elsüsser Partikularisten gänzlich. Er
steht innerlich dem Deutschen Reiche ebenso fremd und gleichgiltig gegenüber
wie der deutsche Schweizer und der deutsche Luxemburger. Zum Beweise für
diese Behauptung sei wiederum Heinrich Schneegans angeführt, der in seinem
schon erwähnten Aufsatz hervorhebt, daß die Gesinnung der meisten Elsüsser
„weder protestlerisch französisch noch offen reichsdentsch, sondern streng parti-
kularistisch" sei.

Ein weiterer Beweis für die Richtigkeit dieser Darstellung ist das Ver¬
halten der elsässischen Reichstagsabgeordneten, die zu der sogenannten „clsaß-
lothringischen Gruppe" im deutschen Reichstag gehören. Sie können sich
heute — dreißig Jahre nach der Annexion — noch nicht entschließen, einer
deutschen Fraktion als Mitglieder beizutreten. Mit einer einzigen Ausnahme
sind sie klerikal; die größere Hälfte unter ihnen — vier von sieben — besteht
aus katholischen Geistlichen; ein Unterschied ihres Programms von dem des
Zentrums ist nicht zu erkennen. Trotzdem halten sie sich vom Zentrum fern
und ziehn es vor, mit ihren lothrüuu'schen Nachbarn eine besondre Landsmann¬
schaft — gleich den Polen — zu bilden. Dem Liebeswerben des katholischen
Volksvereius wird von vielen elsässischen Katholiken gleichfalls ein zäher passiver
Widerstand entgegengesetzt, wie eine kompetente Persönlichkeit — Professor
Müller vom Straßburger Pnesterseminar — auf der Straßburger Versamm¬
lung des genannten Vereins am 22. Juni 1901 offen ausgesprochen hat.

Ein geradezu klassisches Beispiel für den Gegensatz zwischen deutscher und
elsässischer Gesinnung bieten die Verhandlungen des Landesnusschusses vom
5. und 6. Februar 1901. In der ersten dieser Sitzungen äußerte der Ab-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/332>, abgerufen am 27.07.2024.