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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Disziplin und Sozicildemokrcitie

Geistliche sind ja offen zu der Partei übergetreten --, aber man vergißt oder
übersieht dann, daß die Interessen des arbeitenden und des notleidenden Volks,
als dessen alleinige Vertreter sich die Führer der Sozialdemokraten aufspielen,
genau ebenso, wenn nicht mehr und besser, von andern Kreisen gewahrt und
gepflegt werden, und daß bei den Sozialdemokraten meist ganz andre Ten¬
denzen zu Grunde liegen, als wirkliche Sorge für den bedürftigen Mitmenschen.
Wir können nicht umhin, in dem mächtig anschwellenden Wachstum der Sozial-
demokratie, in ihrem Eindringen in immer neue Schichten der Gesellschaft,
namentlich aber in die Reihen der Armee, eine Gefahr zu sehen, wie sie größer
gar nicht gedacht werden kann. Da der Siegeszug innerhalb der Arbeiter¬
bevölkerung zur That geworden ist, innerhalb der ländlichen Bevölkerung aber
zur Zeit noch als verfrüht, teilweise aussichtslos betrachtet wird, ist die Armee
das Objekt geworden, das "in Bearbeitung" genommen wird. Es wird dies
in den höhern Regierungskrisen ebenso wie an den höhern Konnnandostellen
nicht oder nur wenig empfunden, da sieht man in der Armee noch immer
den rovlrsr as vrou?6; aber man frage einmal die jüngern Offiziere, nament¬
lich die an der Spitze der Kompagnien und Schwadronen stehenden, die in
täglicher unmittelbarer Fühlung mit der Truppe sind, welche Veränderungen
der "militärische Geist," der Geist der Anhänglichkeit an Fürst und Vaterland,
der Sinn für Disziplin, für unbedingtes Vertrauen zum Vorgesetzten erlitten
hat! An seine Stelle ist, Hand in Hand mit der kurzen Dienstzeit und mit
der zunehmenden Halbbildung, ein Geist der Kritik getreten, der unverträglich
ist mit dem militärischen Gehorsam. Hier muß Wandel geschafft werden,
wenn man überhaupt noch Wert auf die bisherige Staatsform, auf Gehorsam
gegen die Gesetze und auf ein diszipliniertes Heer legt.

Diese Überzeugung führt uns zur Beantwortung unsrer zweiten Frage:
"Wie hat sich die vorgesetzte Behörde den Erscheinungen der Jndisziplin gegen¬
über zu verhalten?" Wir sehen von einer Besprechung gesetzlicher Maßnahmen
(von Ansncchmegesetzen u. dergl.) hier ab, da uns das zu weit führen würde, und
wir uns auch nicht für kompetent dazu erachten; aber der militärische Vor¬
gesetzte muß die Pflicht und sollte das Recht und die Machtvollkommenheit
haben, mit der größten Energie und nötigenfalls mit äußerster Strenge gegen
Agitation und gegen Erfolge der Agitation einzuschreiten; er soll vor allein
die Sache bei dem rechten Namen nennen und nicht in seinem eignen Interesse
oder in dem des guten Rufs seiner Truppe Vorkommnisse beschönigen, die
die strengste Verurteilung erheischen. Wir verweisen zur Erläuterung dieser
Forderung wieder auf die eben berichteten Vorgänge in Frankreich und in der
Schweiz. Der Kommandeur des 38. französischen Infanterieregiments, das
sich diese unerhörten aufrührerischen Ausschreitungen zu Schulden kommen
ließ, Oberst d'Aubigny, hat beim Einrücken des Regiments in die Garnison
Se. Etienne nach dem Manöver einen Tagesbefehl erlassen, worin es heißt:
"Am Vorabend des Einrückens in die Garnison ist der Oberst glücklich, den
Herren Offizieren, Unteroffizieren, Korporaleu und Soldaten des aktiven


Disziplin und Sozicildemokrcitie

Geistliche sind ja offen zu der Partei übergetreten —, aber man vergißt oder
übersieht dann, daß die Interessen des arbeitenden und des notleidenden Volks,
als dessen alleinige Vertreter sich die Führer der Sozialdemokraten aufspielen,
genau ebenso, wenn nicht mehr und besser, von andern Kreisen gewahrt und
gepflegt werden, und daß bei den Sozialdemokraten meist ganz andre Ten¬
denzen zu Grunde liegen, als wirkliche Sorge für den bedürftigen Mitmenschen.
Wir können nicht umhin, in dem mächtig anschwellenden Wachstum der Sozial-
demokratie, in ihrem Eindringen in immer neue Schichten der Gesellschaft,
namentlich aber in die Reihen der Armee, eine Gefahr zu sehen, wie sie größer
gar nicht gedacht werden kann. Da der Siegeszug innerhalb der Arbeiter¬
bevölkerung zur That geworden ist, innerhalb der ländlichen Bevölkerung aber
zur Zeit noch als verfrüht, teilweise aussichtslos betrachtet wird, ist die Armee
das Objekt geworden, das „in Bearbeitung" genommen wird. Es wird dies
in den höhern Regierungskrisen ebenso wie an den höhern Konnnandostellen
nicht oder nur wenig empfunden, da sieht man in der Armee noch immer
den rovlrsr as vrou?6; aber man frage einmal die jüngern Offiziere, nament¬
lich die an der Spitze der Kompagnien und Schwadronen stehenden, die in
täglicher unmittelbarer Fühlung mit der Truppe sind, welche Veränderungen
der „militärische Geist," der Geist der Anhänglichkeit an Fürst und Vaterland,
der Sinn für Disziplin, für unbedingtes Vertrauen zum Vorgesetzten erlitten
hat! An seine Stelle ist, Hand in Hand mit der kurzen Dienstzeit und mit
der zunehmenden Halbbildung, ein Geist der Kritik getreten, der unverträglich
ist mit dem militärischen Gehorsam. Hier muß Wandel geschafft werden,
wenn man überhaupt noch Wert auf die bisherige Staatsform, auf Gehorsam
gegen die Gesetze und auf ein diszipliniertes Heer legt.

Diese Überzeugung führt uns zur Beantwortung unsrer zweiten Frage:
„Wie hat sich die vorgesetzte Behörde den Erscheinungen der Jndisziplin gegen¬
über zu verhalten?" Wir sehen von einer Besprechung gesetzlicher Maßnahmen
(von Ansncchmegesetzen u. dergl.) hier ab, da uns das zu weit führen würde, und
wir uns auch nicht für kompetent dazu erachten; aber der militärische Vor¬
gesetzte muß die Pflicht und sollte das Recht und die Machtvollkommenheit
haben, mit der größten Energie und nötigenfalls mit äußerster Strenge gegen
Agitation und gegen Erfolge der Agitation einzuschreiten; er soll vor allein
die Sache bei dem rechten Namen nennen und nicht in seinem eignen Interesse
oder in dem des guten Rufs seiner Truppe Vorkommnisse beschönigen, die
die strengste Verurteilung erheischen. Wir verweisen zur Erläuterung dieser
Forderung wieder auf die eben berichteten Vorgänge in Frankreich und in der
Schweiz. Der Kommandeur des 38. französischen Infanterieregiments, das
sich diese unerhörten aufrührerischen Ausschreitungen zu Schulden kommen
ließ, Oberst d'Aubigny, hat beim Einrücken des Regiments in die Garnison
Se. Etienne nach dem Manöver einen Tagesbefehl erlassen, worin es heißt:
„Am Vorabend des Einrückens in die Garnison ist der Oberst glücklich, den
Herren Offizieren, Unteroffizieren, Korporaleu und Soldaten des aktiven


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[0324] Disziplin und Sozicildemokrcitie Geistliche sind ja offen zu der Partei übergetreten —, aber man vergißt oder übersieht dann, daß die Interessen des arbeitenden und des notleidenden Volks, als dessen alleinige Vertreter sich die Führer der Sozialdemokraten aufspielen, genau ebenso, wenn nicht mehr und besser, von andern Kreisen gewahrt und gepflegt werden, und daß bei den Sozialdemokraten meist ganz andre Ten¬ denzen zu Grunde liegen, als wirkliche Sorge für den bedürftigen Mitmenschen. Wir können nicht umhin, in dem mächtig anschwellenden Wachstum der Sozial- demokratie, in ihrem Eindringen in immer neue Schichten der Gesellschaft, namentlich aber in die Reihen der Armee, eine Gefahr zu sehen, wie sie größer gar nicht gedacht werden kann. Da der Siegeszug innerhalb der Arbeiter¬ bevölkerung zur That geworden ist, innerhalb der ländlichen Bevölkerung aber zur Zeit noch als verfrüht, teilweise aussichtslos betrachtet wird, ist die Armee das Objekt geworden, das „in Bearbeitung" genommen wird. Es wird dies in den höhern Regierungskrisen ebenso wie an den höhern Konnnandostellen nicht oder nur wenig empfunden, da sieht man in der Armee noch immer den rovlrsr as vrou?6; aber man frage einmal die jüngern Offiziere, nament¬ lich die an der Spitze der Kompagnien und Schwadronen stehenden, die in täglicher unmittelbarer Fühlung mit der Truppe sind, welche Veränderungen der „militärische Geist," der Geist der Anhänglichkeit an Fürst und Vaterland, der Sinn für Disziplin, für unbedingtes Vertrauen zum Vorgesetzten erlitten hat! An seine Stelle ist, Hand in Hand mit der kurzen Dienstzeit und mit der zunehmenden Halbbildung, ein Geist der Kritik getreten, der unverträglich ist mit dem militärischen Gehorsam. Hier muß Wandel geschafft werden, wenn man überhaupt noch Wert auf die bisherige Staatsform, auf Gehorsam gegen die Gesetze und auf ein diszipliniertes Heer legt. Diese Überzeugung führt uns zur Beantwortung unsrer zweiten Frage: „Wie hat sich die vorgesetzte Behörde den Erscheinungen der Jndisziplin gegen¬ über zu verhalten?" Wir sehen von einer Besprechung gesetzlicher Maßnahmen (von Ansncchmegesetzen u. dergl.) hier ab, da uns das zu weit führen würde, und wir uns auch nicht für kompetent dazu erachten; aber der militärische Vor¬ gesetzte muß die Pflicht und sollte das Recht und die Machtvollkommenheit haben, mit der größten Energie und nötigenfalls mit äußerster Strenge gegen Agitation und gegen Erfolge der Agitation einzuschreiten; er soll vor allein die Sache bei dem rechten Namen nennen und nicht in seinem eignen Interesse oder in dem des guten Rufs seiner Truppe Vorkommnisse beschönigen, die die strengste Verurteilung erheischen. Wir verweisen zur Erläuterung dieser Forderung wieder auf die eben berichteten Vorgänge in Frankreich und in der Schweiz. Der Kommandeur des 38. französischen Infanterieregiments, das sich diese unerhörten aufrührerischen Ausschreitungen zu Schulden kommen ließ, Oberst d'Aubigny, hat beim Einrücken des Regiments in die Garnison Se. Etienne nach dem Manöver einen Tagesbefehl erlassen, worin es heißt: „Am Vorabend des Einrückens in die Garnison ist der Oberst glücklich, den Herren Offizieren, Unteroffizieren, Korporaleu und Soldaten des aktiven

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/324>, abgerufen am 01.09.2024.