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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Hellenentum und Christentum

Verlängerte Helena, den ehebrecherischen Verkehr mit Alexandros fortzusetzen.
Doch tritt in solchen Fällen die Naturbedeutung der unmoralisch handelnden
Götter deutlich hervor. Poseidon ist eben das Meer, dem die Weltordnung
Gewalt giebt, Schiffe und Menschenleben zu vernichten, sodaß die Schiffban¬
kunst der Phnaken, die die Ausübung dieser Gewalt vereitelt, als ein Eingriff
in seine Rechte erscheint; Aphrodite aber ist der blinde und mächtige Geschlechts¬
trieb, der sich um Gesetz und Sitte nicht kümmert. Im allgemeinen verfahren
die Götter gerecht, hegen Erbarmen für die Leidenden und halten sowohl in
ihrem Gvttcrstaat wie bei den Menschen die Familienordnung aufrecht. "Böse
Werke gedeihen nicht, sagen die Götter untereinander beim Anblick des von
Hephästus gefesselten Ares; sogar ein Ladiner fängt den schnellfüßigen Ehe¬
brecher, und nun büßt dieser die verdiente Strafe ab." Mit Zeus zusammen
wird öfter die Themis genannt. Die Grundbestandteile dessen, was wir mit
dem nicht sehr glücklichen Worte Sittlichkeit zu bezeichnen pflegen, finden sich
also in den Olympiern und zumal in Zeus und Here. Insbesondre die Zer¬
störung Jlions, das ein ehebrecherisches Paar beherbergt, ist das Werk der
Beschützerin des Ehebundes.

Die Vermenschlichung der Götter, die Individualisierung und Personifi¬
zierung der einzelnen göttlichen Eigenschaften und Thätigkeiten bringt es mit
sich, daß Here ihren Willen gegen den ihres ehebrecherischen Gemahls durch¬
zusetzen scheint, nud dennoch ist sie, wie wir gelegentlich erfahren, auch dabei
im Grunde genommen nur Vollstrcckerin der Beschlüsse des Zeus. Die Er¬
örterung der theologischen Frage, ob eine Uroffenbarung den ersten Menschen
den einen wahren Gott bekannt gemacht habe, gehört nicht hierher, weil es
für ihre Beantwortung kein wissenschaftlich brauchbares Material giebt. Wohl
aber darf auf die Neste der alten Sprach- und Kunstdenkmäler hingewiesen
werden, die zu der Vermutung berechtigen, daß den Völkern schon sehr früh
eine Ahnung der Einheit Gottes aufgegangen sei. Milchhvfer hat Beweise
dafür gesammelt, daß die vorhomerischen Griechen, die Pelasger, nur einen
Gott, den bildlosen Zeus von Dodona, verehrt, daneben allerdings an eine
Schar von Dämonen geglaubt haben, von denen im Laufe der Zeit immer
mehrere Namen bekamen und zu Göttern erhoben wurden. Bei Homer sieht
man ganz deutlich, daß Zeus nicht ein Dämon gleich den übrigen Dämonen,
nicht eine einzelne Naturkraft, sondern der Jubegriff aller Naturkräfte und
alles Geistigen ist; so hat er ja Pallas Athene, die ihrer Naturseite nach
Gewittergöttin, in ihrer geistigen Bedeutung aber die Vernunft selbst ist, aus
seinem Haupte entlassen. Niemals erscheint er, gleich den übrigen Göttern,
den Menschen in Menschengestalt, um ihnen Dienste zu erweisen oder Götter¬
schlüsse zu verkünde", uur einzelne" menschlichen Weibern ist er genaht, zur Be¬
friedigung seines Schaffensdranges, und um der Erde Heroen zu schenken. Die
Dienste und Botschaften besorgen die übrigen Götter. Diese sind also nur
Offenbarungen seiner einzelnen Kräfte, gleich dein Engel des Herrn im Alten
Testament, der sich auch erst nach und nach in mehrere verschiedne Person-


Hellenentum und Christentum

Verlängerte Helena, den ehebrecherischen Verkehr mit Alexandros fortzusetzen.
Doch tritt in solchen Fällen die Naturbedeutung der unmoralisch handelnden
Götter deutlich hervor. Poseidon ist eben das Meer, dem die Weltordnung
Gewalt giebt, Schiffe und Menschenleben zu vernichten, sodaß die Schiffban¬
kunst der Phnaken, die die Ausübung dieser Gewalt vereitelt, als ein Eingriff
in seine Rechte erscheint; Aphrodite aber ist der blinde und mächtige Geschlechts¬
trieb, der sich um Gesetz und Sitte nicht kümmert. Im allgemeinen verfahren
die Götter gerecht, hegen Erbarmen für die Leidenden und halten sowohl in
ihrem Gvttcrstaat wie bei den Menschen die Familienordnung aufrecht. „Böse
Werke gedeihen nicht, sagen die Götter untereinander beim Anblick des von
Hephästus gefesselten Ares; sogar ein Ladiner fängt den schnellfüßigen Ehe¬
brecher, und nun büßt dieser die verdiente Strafe ab." Mit Zeus zusammen
wird öfter die Themis genannt. Die Grundbestandteile dessen, was wir mit
dem nicht sehr glücklichen Worte Sittlichkeit zu bezeichnen pflegen, finden sich
also in den Olympiern und zumal in Zeus und Here. Insbesondre die Zer¬
störung Jlions, das ein ehebrecherisches Paar beherbergt, ist das Werk der
Beschützerin des Ehebundes.

Die Vermenschlichung der Götter, die Individualisierung und Personifi¬
zierung der einzelnen göttlichen Eigenschaften und Thätigkeiten bringt es mit
sich, daß Here ihren Willen gegen den ihres ehebrecherischen Gemahls durch¬
zusetzen scheint, nud dennoch ist sie, wie wir gelegentlich erfahren, auch dabei
im Grunde genommen nur Vollstrcckerin der Beschlüsse des Zeus. Die Er¬
örterung der theologischen Frage, ob eine Uroffenbarung den ersten Menschen
den einen wahren Gott bekannt gemacht habe, gehört nicht hierher, weil es
für ihre Beantwortung kein wissenschaftlich brauchbares Material giebt. Wohl
aber darf auf die Neste der alten Sprach- und Kunstdenkmäler hingewiesen
werden, die zu der Vermutung berechtigen, daß den Völkern schon sehr früh
eine Ahnung der Einheit Gottes aufgegangen sei. Milchhvfer hat Beweise
dafür gesammelt, daß die vorhomerischen Griechen, die Pelasger, nur einen
Gott, den bildlosen Zeus von Dodona, verehrt, daneben allerdings an eine
Schar von Dämonen geglaubt haben, von denen im Laufe der Zeit immer
mehrere Namen bekamen und zu Göttern erhoben wurden. Bei Homer sieht
man ganz deutlich, daß Zeus nicht ein Dämon gleich den übrigen Dämonen,
nicht eine einzelne Naturkraft, sondern der Jubegriff aller Naturkräfte und
alles Geistigen ist; so hat er ja Pallas Athene, die ihrer Naturseite nach
Gewittergöttin, in ihrer geistigen Bedeutung aber die Vernunft selbst ist, aus
seinem Haupte entlassen. Niemals erscheint er, gleich den übrigen Göttern,
den Menschen in Menschengestalt, um ihnen Dienste zu erweisen oder Götter¬
schlüsse zu verkünde«, uur einzelne» menschlichen Weibern ist er genaht, zur Be¬
friedigung seines Schaffensdranges, und um der Erde Heroen zu schenken. Die
Dienste und Botschaften besorgen die übrigen Götter. Diese sind also nur
Offenbarungen seiner einzelnen Kräfte, gleich dein Engel des Herrn im Alten
Testament, der sich auch erst nach und nach in mehrere verschiedne Person-


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[0304] Hellenentum und Christentum Verlängerte Helena, den ehebrecherischen Verkehr mit Alexandros fortzusetzen. Doch tritt in solchen Fällen die Naturbedeutung der unmoralisch handelnden Götter deutlich hervor. Poseidon ist eben das Meer, dem die Weltordnung Gewalt giebt, Schiffe und Menschenleben zu vernichten, sodaß die Schiffban¬ kunst der Phnaken, die die Ausübung dieser Gewalt vereitelt, als ein Eingriff in seine Rechte erscheint; Aphrodite aber ist der blinde und mächtige Geschlechts¬ trieb, der sich um Gesetz und Sitte nicht kümmert. Im allgemeinen verfahren die Götter gerecht, hegen Erbarmen für die Leidenden und halten sowohl in ihrem Gvttcrstaat wie bei den Menschen die Familienordnung aufrecht. „Böse Werke gedeihen nicht, sagen die Götter untereinander beim Anblick des von Hephästus gefesselten Ares; sogar ein Ladiner fängt den schnellfüßigen Ehe¬ brecher, und nun büßt dieser die verdiente Strafe ab." Mit Zeus zusammen wird öfter die Themis genannt. Die Grundbestandteile dessen, was wir mit dem nicht sehr glücklichen Worte Sittlichkeit zu bezeichnen pflegen, finden sich also in den Olympiern und zumal in Zeus und Here. Insbesondre die Zer¬ störung Jlions, das ein ehebrecherisches Paar beherbergt, ist das Werk der Beschützerin des Ehebundes. Die Vermenschlichung der Götter, die Individualisierung und Personifi¬ zierung der einzelnen göttlichen Eigenschaften und Thätigkeiten bringt es mit sich, daß Here ihren Willen gegen den ihres ehebrecherischen Gemahls durch¬ zusetzen scheint, nud dennoch ist sie, wie wir gelegentlich erfahren, auch dabei im Grunde genommen nur Vollstrcckerin der Beschlüsse des Zeus. Die Er¬ örterung der theologischen Frage, ob eine Uroffenbarung den ersten Menschen den einen wahren Gott bekannt gemacht habe, gehört nicht hierher, weil es für ihre Beantwortung kein wissenschaftlich brauchbares Material giebt. Wohl aber darf auf die Neste der alten Sprach- und Kunstdenkmäler hingewiesen werden, die zu der Vermutung berechtigen, daß den Völkern schon sehr früh eine Ahnung der Einheit Gottes aufgegangen sei. Milchhvfer hat Beweise dafür gesammelt, daß die vorhomerischen Griechen, die Pelasger, nur einen Gott, den bildlosen Zeus von Dodona, verehrt, daneben allerdings an eine Schar von Dämonen geglaubt haben, von denen im Laufe der Zeit immer mehrere Namen bekamen und zu Göttern erhoben wurden. Bei Homer sieht man ganz deutlich, daß Zeus nicht ein Dämon gleich den übrigen Dämonen, nicht eine einzelne Naturkraft, sondern der Jubegriff aller Naturkräfte und alles Geistigen ist; so hat er ja Pallas Athene, die ihrer Naturseite nach Gewittergöttin, in ihrer geistigen Bedeutung aber die Vernunft selbst ist, aus seinem Haupte entlassen. Niemals erscheint er, gleich den übrigen Göttern, den Menschen in Menschengestalt, um ihnen Dienste zu erweisen oder Götter¬ schlüsse zu verkünde«, uur einzelne» menschlichen Weibern ist er genaht, zur Be¬ friedigung seines Schaffensdranges, und um der Erde Heroen zu schenken. Die Dienste und Botschaften besorgen die übrigen Götter. Diese sind also nur Offenbarungen seiner einzelnen Kräfte, gleich dein Engel des Herrn im Alten Testament, der sich auch erst nach und nach in mehrere verschiedne Person-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/304>, abgerufen am 01.09.2024.