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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Helleiientum und Lhristentum

bestimmten Augenblick eintretende Tod selbst. So lange der Wirrwarr dauert,
und die Entscheidung nicht sichtbar wird, beschuldigen die Götter und Menschen
einander gegenseitig. Diese nennen die Götter Anstifter von allem Unheil,
das sie durch Verblendung der Menschen und Erregung schlimmer Leidenschaften
bewirken; so namentlich Agamemnon und Achill, die sich selbst ganz rein waschen
und alle Schuld ihres Zwists auf die Götter schieben. Diese hinwiederum
klagen, daß sie von den Menschen ungerechterweise beschuldigt würden, so oft
diese sich sogar gegen den Götterwillen durch Unverstand und Frevel selbst
ins Verderben gestürzt hätten. Sind wir heute auch nur einen Schritt weiter
als Homer? Klagen nicht immer noch Millionen in allen Landen mit dem
Harfner über die bösen himmlischen Mächte, wenn sie auch gar nicht wissen,
daß Goethe die Klage in schöne Verse gebracht hat? Erfahrner und gelehrter
sind wir ja. Wir haben eine Theologie und Bibliotheken voll Abhandlungen
über Prüdestination, Pelagiauismus und Jansenismns. Wir haben andre
Bücherhaufcn, die der Streit zwischen Deterministen und Voluntaristen erzeugt
hat, wir haben die Individualisten und ihre den Gang der Weltgeschichte be¬
stimmende" Heroen, und die Sozialsten mit ihrem alles beherrschenden Milieu,
und wir verfolgen die Natnrkansalität auf ihren geheimsten Wegen in den
Prozessen der Zeugung und Vererbung. Aber was nur nicht haben, und
wovon wir heute trotz allein heuchelnden Gelehrtenbrimborium uoch genau so
weit entfernt sind wie Homer, das ist die Gewißheit, die Entscheidung der
großen Streitfrage, auf welcher Seite nun eigentlich die Wahrheit liege, oder
ob sie irgendwo in der Mitte liege. Nur so viel wisse" wir, und das wissen
und bekennen anch alle Menschen Homers: wir sind es, die da handeln, aber
wir handeln nicht unabhängig von der unserm Forschen unzugängliche" Macht,
die das Weltall ordnet.

Sittliche Wesen sind die homerischen Götter, soweit sie es als höhere
Menschen sein können und müssen. Sie sind zunächst auf ihren eignen Vor¬
teil bedacht und deshalb solchen Menschen, Städten und Völkern gewogen,
die ihnen fleißig opfern. (Das Opfern geschieht, nebenbei bemerkt, immer im
Freien. Einige Tempel werden erwähnt, aber, mit Ausnahme Trojas, nicht
auf deu Schauplätzen der Ereignisse; woraus zu schließen ist, daß es noch
nicht viele gab. Dagegen scheinen an jedem bewohnten Ort Altäre gestanden
zu haben. Auch Priester werdeu erwähnt, aber selten, öfter begegnen uns
Seher; die Opfer vollzieht immer der Hausvater, im Kriege ein Heerführer.)
Versäumnis des schuldigen Götterdienstes, Verunehrnng oder Raub der Per¬
sonen, Tiere und Gegenstände, die einem Gott gehören, wird streng bestraft.
Aber auch Frevel gegen Menschen, namentlich Mord, Ehebruch und Verletzung
des Gnstrechts ziehen schwere Strafen nach sich, und Wohlthaten, die den
Menschen erwiesen werden, trage" Lob" el". Nicht immer freilich handeln
die Götter gerecht. Poseidon straft mit Zustimmung des Zeus die Phäaken,
die auf ihren wunderbaren Schiffen herumirrende Fremde reich beschenkt in
die Heimat bringen, und Aphrodite zwingt die nach ihrem rechtmäßigen Gatten


Helleiientum und Lhristentum

bestimmten Augenblick eintretende Tod selbst. So lange der Wirrwarr dauert,
und die Entscheidung nicht sichtbar wird, beschuldigen die Götter und Menschen
einander gegenseitig. Diese nennen die Götter Anstifter von allem Unheil,
das sie durch Verblendung der Menschen und Erregung schlimmer Leidenschaften
bewirken; so namentlich Agamemnon und Achill, die sich selbst ganz rein waschen
und alle Schuld ihres Zwists auf die Götter schieben. Diese hinwiederum
klagen, daß sie von den Menschen ungerechterweise beschuldigt würden, so oft
diese sich sogar gegen den Götterwillen durch Unverstand und Frevel selbst
ins Verderben gestürzt hätten. Sind wir heute auch nur einen Schritt weiter
als Homer? Klagen nicht immer noch Millionen in allen Landen mit dem
Harfner über die bösen himmlischen Mächte, wenn sie auch gar nicht wissen,
daß Goethe die Klage in schöne Verse gebracht hat? Erfahrner und gelehrter
sind wir ja. Wir haben eine Theologie und Bibliotheken voll Abhandlungen
über Prüdestination, Pelagiauismus und Jansenismns. Wir haben andre
Bücherhaufcn, die der Streit zwischen Deterministen und Voluntaristen erzeugt
hat, wir haben die Individualisten und ihre den Gang der Weltgeschichte be¬
stimmende» Heroen, und die Sozialsten mit ihrem alles beherrschenden Milieu,
und wir verfolgen die Natnrkansalität auf ihren geheimsten Wegen in den
Prozessen der Zeugung und Vererbung. Aber was nur nicht haben, und
wovon wir heute trotz allein heuchelnden Gelehrtenbrimborium uoch genau so
weit entfernt sind wie Homer, das ist die Gewißheit, die Entscheidung der
großen Streitfrage, auf welcher Seite nun eigentlich die Wahrheit liege, oder
ob sie irgendwo in der Mitte liege. Nur so viel wisse» wir, und das wissen
und bekennen anch alle Menschen Homers: wir sind es, die da handeln, aber
wir handeln nicht unabhängig von der unserm Forschen unzugängliche» Macht,
die das Weltall ordnet.

Sittliche Wesen sind die homerischen Götter, soweit sie es als höhere
Menschen sein können und müssen. Sie sind zunächst auf ihren eignen Vor¬
teil bedacht und deshalb solchen Menschen, Städten und Völkern gewogen,
die ihnen fleißig opfern. (Das Opfern geschieht, nebenbei bemerkt, immer im
Freien. Einige Tempel werden erwähnt, aber, mit Ausnahme Trojas, nicht
auf deu Schauplätzen der Ereignisse; woraus zu schließen ist, daß es noch
nicht viele gab. Dagegen scheinen an jedem bewohnten Ort Altäre gestanden
zu haben. Auch Priester werdeu erwähnt, aber selten, öfter begegnen uns
Seher; die Opfer vollzieht immer der Hausvater, im Kriege ein Heerführer.)
Versäumnis des schuldigen Götterdienstes, Verunehrnng oder Raub der Per¬
sonen, Tiere und Gegenstände, die einem Gott gehören, wird streng bestraft.
Aber auch Frevel gegen Menschen, namentlich Mord, Ehebruch und Verletzung
des Gnstrechts ziehen schwere Strafen nach sich, und Wohlthaten, die den
Menschen erwiesen werden, trage» Lob» el». Nicht immer freilich handeln
die Götter gerecht. Poseidon straft mit Zustimmung des Zeus die Phäaken,
die auf ihren wunderbaren Schiffen herumirrende Fremde reich beschenkt in
die Heimat bringen, und Aphrodite zwingt die nach ihrem rechtmäßigen Gatten


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[0303] Helleiientum und Lhristentum bestimmten Augenblick eintretende Tod selbst. So lange der Wirrwarr dauert, und die Entscheidung nicht sichtbar wird, beschuldigen die Götter und Menschen einander gegenseitig. Diese nennen die Götter Anstifter von allem Unheil, das sie durch Verblendung der Menschen und Erregung schlimmer Leidenschaften bewirken; so namentlich Agamemnon und Achill, die sich selbst ganz rein waschen und alle Schuld ihres Zwists auf die Götter schieben. Diese hinwiederum klagen, daß sie von den Menschen ungerechterweise beschuldigt würden, so oft diese sich sogar gegen den Götterwillen durch Unverstand und Frevel selbst ins Verderben gestürzt hätten. Sind wir heute auch nur einen Schritt weiter als Homer? Klagen nicht immer noch Millionen in allen Landen mit dem Harfner über die bösen himmlischen Mächte, wenn sie auch gar nicht wissen, daß Goethe die Klage in schöne Verse gebracht hat? Erfahrner und gelehrter sind wir ja. Wir haben eine Theologie und Bibliotheken voll Abhandlungen über Prüdestination, Pelagiauismus und Jansenismns. Wir haben andre Bücherhaufcn, die der Streit zwischen Deterministen und Voluntaristen erzeugt hat, wir haben die Individualisten und ihre den Gang der Weltgeschichte be¬ stimmende» Heroen, und die Sozialsten mit ihrem alles beherrschenden Milieu, und wir verfolgen die Natnrkansalität auf ihren geheimsten Wegen in den Prozessen der Zeugung und Vererbung. Aber was nur nicht haben, und wovon wir heute trotz allein heuchelnden Gelehrtenbrimborium uoch genau so weit entfernt sind wie Homer, das ist die Gewißheit, die Entscheidung der großen Streitfrage, auf welcher Seite nun eigentlich die Wahrheit liege, oder ob sie irgendwo in der Mitte liege. Nur so viel wisse» wir, und das wissen und bekennen anch alle Menschen Homers: wir sind es, die da handeln, aber wir handeln nicht unabhängig von der unserm Forschen unzugängliche» Macht, die das Weltall ordnet. Sittliche Wesen sind die homerischen Götter, soweit sie es als höhere Menschen sein können und müssen. Sie sind zunächst auf ihren eignen Vor¬ teil bedacht und deshalb solchen Menschen, Städten und Völkern gewogen, die ihnen fleißig opfern. (Das Opfern geschieht, nebenbei bemerkt, immer im Freien. Einige Tempel werden erwähnt, aber, mit Ausnahme Trojas, nicht auf deu Schauplätzen der Ereignisse; woraus zu schließen ist, daß es noch nicht viele gab. Dagegen scheinen an jedem bewohnten Ort Altäre gestanden zu haben. Auch Priester werdeu erwähnt, aber selten, öfter begegnen uns Seher; die Opfer vollzieht immer der Hausvater, im Kriege ein Heerführer.) Versäumnis des schuldigen Götterdienstes, Verunehrnng oder Raub der Per¬ sonen, Tiere und Gegenstände, die einem Gott gehören, wird streng bestraft. Aber auch Frevel gegen Menschen, namentlich Mord, Ehebruch und Verletzung des Gnstrechts ziehen schwere Strafen nach sich, und Wohlthaten, die den Menschen erwiesen werden, trage» Lob» el». Nicht immer freilich handeln die Götter gerecht. Poseidon straft mit Zustimmung des Zeus die Phäaken, die auf ihren wunderbaren Schiffen herumirrende Fremde reich beschenkt in die Heimat bringen, und Aphrodite zwingt die nach ihrem rechtmäßigen Gatten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/303>, abgerufen am 01.09.2024.