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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Hellenentum und Christentum

Achill stehend diesen zur Selbstbeherrschung mahnt, oder wenn sich Odhsseus
mit ihr darüber berät, was nun zu thun sei, Sie tadelt sein vorsichtiges
Mißtrauen und seine Lügenmärchen, aber lächelnd und den Tadel in Lob
sullent; dann leitet sie die Wendung des Gesprächs mit den Worten ein:
"Aber genug davon! Versteh" wir uns doch beide auf List; du unter den
Sterblichen der tüchtigste in klugem Rat und Rede, ich vor alle" Göttern ob
meiner Klugheit gepriesen." Odhsseus ist die irdische Verkörperung einer gött¬
liche" Eigenschaft, die Göttin das himmlische Spiegelbild deS Menschen
Odhssens,

Obwohl nun die homerischen Götter die Geschicke der Menschen leiten,
so kann doch von einer göttlichen Weltregierung im Sinne der spätern Philo¬
sophen und des Christentums schon aus dem Grunde nicht die Rede sein, weil
das Volk Homers einen Weltzweck, dem die Geschicke und Thaten der einzelnen
zu dienen Hütten, nicht kennt.*) Der einzelne Mensch, die einzelne Familie,
die einzelne Stadt, die erstreben, jedes für sich, Besitz, Ehre, Genuß und
Behagen, darüber hinaus reicht keines Gedanke oder Streben. Demgemäß
sorgen auch die Götter jeder für seine Lieblinge unter den Menschen, Fa¬
milien und Städten. Was ihre Befähigung dazu betrifft, so fehlt es ihnen
weder an Wissen und Klugheit noch an Macht. Freilich, unbeschränkt, un¬
endlich, absolut ist keins von beiden. Wenn sie schlafen, und sie legen sich
jede Nacht zu Bett (was sie nicht hindert, Menschen im Traume zu erscheinen
oder sonstwie auf Erden thätig zu sein), so sehen und hören sie nicht, was in
der Welt vorgeht. Auch wenn sie bei den unsträflichen Äthiopen weilen, um
dort einen Opferschmaus zu genießen, kann in ihrer Abwesenheit und hinter
ihrem Rücken um den Berg Jda herum und im Mittelmeer allerlei passieren,
was ihnen bei der Rückkehr unangenehme Überraschungen bereitet. (Man er¬
innere sich daran, wie Elias die Baalspriester verspottet: Ruft lauter, vielleicht
schläft Bank, oder ist auf Reisen oder im Gespräch mit jemand! 1. Könige
18, 27.) Alles schauend, aber natürlich nur bei Tage, wird Helios gedacht und
darum bei Eidschwüren neben der Erde und den Göttern der Unterwelt als
Zeuge angerufen. Begangne Verbrechen verrät er den Geschädigten: die Sonne
bringt es an den Tag. Wie weit die Sehkraft und das Gehör der andern
Götter eigentlich reichen, darüber ist man sich nicht klar, aber man hofft
wenigstens, daß jedes Gebet zu ihnen dringen werde. "Herrscher, vernimm,
betet der verwundete Glaukos, magst dn nun in Lullen oder in Troja weilen;
du kannst ja wohl an jeglichem Ort den Leidenden hören." Sehr eigentümlich
sehen die Machtverhältnisse der Götter aus. Schöpfer sind sie nicht, wie schon
bemerkt worden ist; aber zeugen sie nach Menschenart Menschen, so teilen sie
diesen von ihrer höhern Kraft, Schönheit und Weisheit etwas mit. Doch auch



") Ahnung einer allgemeinen Teleologie liegt in den Worten des Minoos: Die Götter
hätten über die um Ilion kämpfenden Helden den Untergang verhängt, "daß er sei ein Gesang
auch spätern Geschlechtern."
Hellenentum und Christentum

Achill stehend diesen zur Selbstbeherrschung mahnt, oder wenn sich Odhsseus
mit ihr darüber berät, was nun zu thun sei, Sie tadelt sein vorsichtiges
Mißtrauen und seine Lügenmärchen, aber lächelnd und den Tadel in Lob
sullent; dann leitet sie die Wendung des Gesprächs mit den Worten ein:
„Aber genug davon! Versteh» wir uns doch beide auf List; du unter den
Sterblichen der tüchtigste in klugem Rat und Rede, ich vor alle» Göttern ob
meiner Klugheit gepriesen." Odhsseus ist die irdische Verkörperung einer gött¬
liche» Eigenschaft, die Göttin das himmlische Spiegelbild deS Menschen
Odhssens,

Obwohl nun die homerischen Götter die Geschicke der Menschen leiten,
so kann doch von einer göttlichen Weltregierung im Sinne der spätern Philo¬
sophen und des Christentums schon aus dem Grunde nicht die Rede sein, weil
das Volk Homers einen Weltzweck, dem die Geschicke und Thaten der einzelnen
zu dienen Hütten, nicht kennt.*) Der einzelne Mensch, die einzelne Familie,
die einzelne Stadt, die erstreben, jedes für sich, Besitz, Ehre, Genuß und
Behagen, darüber hinaus reicht keines Gedanke oder Streben. Demgemäß
sorgen auch die Götter jeder für seine Lieblinge unter den Menschen, Fa¬
milien und Städten. Was ihre Befähigung dazu betrifft, so fehlt es ihnen
weder an Wissen und Klugheit noch an Macht. Freilich, unbeschränkt, un¬
endlich, absolut ist keins von beiden. Wenn sie schlafen, und sie legen sich
jede Nacht zu Bett (was sie nicht hindert, Menschen im Traume zu erscheinen
oder sonstwie auf Erden thätig zu sein), so sehen und hören sie nicht, was in
der Welt vorgeht. Auch wenn sie bei den unsträflichen Äthiopen weilen, um
dort einen Opferschmaus zu genießen, kann in ihrer Abwesenheit und hinter
ihrem Rücken um den Berg Jda herum und im Mittelmeer allerlei passieren,
was ihnen bei der Rückkehr unangenehme Überraschungen bereitet. (Man er¬
innere sich daran, wie Elias die Baalspriester verspottet: Ruft lauter, vielleicht
schläft Bank, oder ist auf Reisen oder im Gespräch mit jemand! 1. Könige
18, 27.) Alles schauend, aber natürlich nur bei Tage, wird Helios gedacht und
darum bei Eidschwüren neben der Erde und den Göttern der Unterwelt als
Zeuge angerufen. Begangne Verbrechen verrät er den Geschädigten: die Sonne
bringt es an den Tag. Wie weit die Sehkraft und das Gehör der andern
Götter eigentlich reichen, darüber ist man sich nicht klar, aber man hofft
wenigstens, daß jedes Gebet zu ihnen dringen werde. „Herrscher, vernimm,
betet der verwundete Glaukos, magst dn nun in Lullen oder in Troja weilen;
du kannst ja wohl an jeglichem Ort den Leidenden hören." Sehr eigentümlich
sehen die Machtverhältnisse der Götter aus. Schöpfer sind sie nicht, wie schon
bemerkt worden ist; aber zeugen sie nach Menschenart Menschen, so teilen sie
diesen von ihrer höhern Kraft, Schönheit und Weisheit etwas mit. Doch auch



») Ahnung einer allgemeinen Teleologie liegt in den Worten des Minoos: Die Götter
hätten über die um Ilion kämpfenden Helden den Untergang verhängt, „daß er sei ein Gesang
auch spätern Geschlechtern."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/301>, abgerufen am 01.09.2024.