Arbeitgeber hinausgehn. Es giebt Vetriebskrankenkassen, die ein Jahr lang Krmikenunterstützung geivühren und die mannigfachsten außergewöhnlichen Zu¬ wendungen zu machen imstande sind.
Wenn dem fürsorglichen Arbeiter die Kassenleistnngen zu gering erscheinen, und sein Verdienst es ihm erlaubt, so versichert er sich noch einmal in einer der freien Hilfskassen, die häufig mit den Gewerkschaften zusammenhängen. Es kommt häufig vor, daß, während die Zwangskasse mit der dreizehnten Woche ihre Leistungen einstellt, die Hilfskasse noch bis zur sechsundzwanzigsten Woche Krankengeld zahlt. In Halle an der Saale giebt es einundzwanzig Orts- krcinkenkassen, dreizehn Vetriebskrankenkassen, drei Innungkrankenkassen und einunddreißig freie Kranken-, Begräbnis- und Unterstützungskassen irgend¬ welcher Art.
3. Die Fehler der Zwangsversicherung
Der Leser wird vielleicht mit mir die Überzeugung gewonnen haben, daß die Organisationen des Krankenversichernngsgesetzes sich auf eine bewundernswerte Weise gegenseitig ergänzen und ersetzen, und daß man ein glückliches Gleich¬ gewicht der Rechte und Pflichten hergestellt hat, das immerhin so weit als irgend möglich zu Gunsten der Arbeiter verschoben ist. Aber alle Dinge auf Erden haben auch ihre schlechten Seiten. So hat auch das Krankenvcrsiche- rnngsgcsetz seine vielleicht unvermeidlichen Fehler und Schäden.
Hatte früher ein Arbeiter etwas Reißen oder etwas entzündete Haut oder eine kleine Verstopfung, so ging er zum Kaufmann oder schickte ein Kind und ließ für zehn Pfennige Arnikaspiritus oder Salbe oder Sennesblütter holen. Jetzt muß er zur Kasse gehn und sich einen Kassenschein holen, geht dann in die Sprechstunde zum Arzt und wartet da mit zwanzig andern. Der Arzt muß ihn untersuche,:, ob er auch krank ist und die Kassenhilfe wirklich nötig hat, muß ihm aufschreiben, was er braucht. Damit geht der Kranke zum Apotheker und läßt sich die Arznei geben. Er fragt häufig den Apotheker, was die Medizin kostet. Ist sie sehr billig, so ist er der Überzeugung, daß der Arzt ihm nicht wohlwollend gesinnt ist und für die Kasse hat Geld schinden wollen, und er ist überzeugt, für alle seine Wege eigentlich nichts er¬ halten zu haben. In tausend Fällen wird dieser Umweg vermieden, und man holt für sein eignes Geld, was man braucht. In ebenso vielen Fällen wird er aber begangen, und das bedeutet einen ungeheuern Aufwand an Zeit, Geld und Arbeit, der in keinem Verhältnis zu dem geleistete": steht. Unumgänglich ist der Weg, wenn die Krankheit so ist, daß der Arbeiter vier Tage die Arbeit versäumen muß, z. B. bei einem kleinen Schnupfenfieber, einer Halsentzündung, einem Sommerdurchfall, einer leichten Zehenquetschung. In diesem Fall ist der Mann gezwungen, das Kassenbureau, den Arzt und den Apotheker in Be¬ wegung zu setzen, weil er ja sonst, wie er sich auszudrücken pflegt, die paar Pfennige Krankengeld verliert. Das Ganze ist aber ein Aufwand, der auch in den Augen des Arbeiters dem Objekt gar nicht entspricht.
Aber das Arankenversicherungsgesetz
Arbeitgeber hinausgehn. Es giebt Vetriebskrankenkassen, die ein Jahr lang Krmikenunterstützung geivühren und die mannigfachsten außergewöhnlichen Zu¬ wendungen zu machen imstande sind.
Wenn dem fürsorglichen Arbeiter die Kassenleistnngen zu gering erscheinen, und sein Verdienst es ihm erlaubt, so versichert er sich noch einmal in einer der freien Hilfskassen, die häufig mit den Gewerkschaften zusammenhängen. Es kommt häufig vor, daß, während die Zwangskasse mit der dreizehnten Woche ihre Leistungen einstellt, die Hilfskasse noch bis zur sechsundzwanzigsten Woche Krankengeld zahlt. In Halle an der Saale giebt es einundzwanzig Orts- krcinkenkassen, dreizehn Vetriebskrankenkassen, drei Innungkrankenkassen und einunddreißig freie Kranken-, Begräbnis- und Unterstützungskassen irgend¬ welcher Art.
3. Die Fehler der Zwangsversicherung
Der Leser wird vielleicht mit mir die Überzeugung gewonnen haben, daß die Organisationen des Krankenversichernngsgesetzes sich auf eine bewundernswerte Weise gegenseitig ergänzen und ersetzen, und daß man ein glückliches Gleich¬ gewicht der Rechte und Pflichten hergestellt hat, das immerhin so weit als irgend möglich zu Gunsten der Arbeiter verschoben ist. Aber alle Dinge auf Erden haben auch ihre schlechten Seiten. So hat auch das Krankenvcrsiche- rnngsgcsetz seine vielleicht unvermeidlichen Fehler und Schäden.
Hatte früher ein Arbeiter etwas Reißen oder etwas entzündete Haut oder eine kleine Verstopfung, so ging er zum Kaufmann oder schickte ein Kind und ließ für zehn Pfennige Arnikaspiritus oder Salbe oder Sennesblütter holen. Jetzt muß er zur Kasse gehn und sich einen Kassenschein holen, geht dann in die Sprechstunde zum Arzt und wartet da mit zwanzig andern. Der Arzt muß ihn untersuche,:, ob er auch krank ist und die Kassenhilfe wirklich nötig hat, muß ihm aufschreiben, was er braucht. Damit geht der Kranke zum Apotheker und läßt sich die Arznei geben. Er fragt häufig den Apotheker, was die Medizin kostet. Ist sie sehr billig, so ist er der Überzeugung, daß der Arzt ihm nicht wohlwollend gesinnt ist und für die Kasse hat Geld schinden wollen, und er ist überzeugt, für alle seine Wege eigentlich nichts er¬ halten zu haben. In tausend Fällen wird dieser Umweg vermieden, und man holt für sein eignes Geld, was man braucht. In ebenso vielen Fällen wird er aber begangen, und das bedeutet einen ungeheuern Aufwand an Zeit, Geld und Arbeit, der in keinem Verhältnis zu dem geleistete»: steht. Unumgänglich ist der Weg, wenn die Krankheit so ist, daß der Arbeiter vier Tage die Arbeit versäumen muß, z. B. bei einem kleinen Schnupfenfieber, einer Halsentzündung, einem Sommerdurchfall, einer leichten Zehenquetschung. In diesem Fall ist der Mann gezwungen, das Kassenbureau, den Arzt und den Apotheker in Be¬ wegung zu setzen, weil er ja sonst, wie er sich auszudrücken pflegt, die paar Pfennige Krankengeld verliert. Das Ganze ist aber ein Aufwand, der auch in den Augen des Arbeiters dem Objekt gar nicht entspricht.
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Aber das Arankenversicherungsgesetz
Arbeitgeber hinausgehn. Es giebt Vetriebskrankenkassen, die ein Jahr lang
Krmikenunterstützung geivühren und die mannigfachsten außergewöhnlichen Zu¬
wendungen zu machen imstande sind.
Wenn dem fürsorglichen Arbeiter die Kassenleistnngen zu gering erscheinen,
und sein Verdienst es ihm erlaubt, so versichert er sich noch einmal in einer
der freien Hilfskassen, die häufig mit den Gewerkschaften zusammenhängen. Es
kommt häufig vor, daß, während die Zwangskasse mit der dreizehnten Woche
ihre Leistungen einstellt, die Hilfskasse noch bis zur sechsundzwanzigsten Woche
Krankengeld zahlt. In Halle an der Saale giebt es einundzwanzig Orts-
krcinkenkassen, dreizehn Vetriebskrankenkassen, drei Innungkrankenkassen und
einunddreißig freie Kranken-, Begräbnis- und Unterstützungskassen irgend¬
welcher Art.
3. Die Fehler der Zwangsversicherung
Der Leser wird vielleicht mit mir die Überzeugung gewonnen haben, daß
die Organisationen des Krankenversichernngsgesetzes sich auf eine bewundernswerte
Weise gegenseitig ergänzen und ersetzen, und daß man ein glückliches Gleich¬
gewicht der Rechte und Pflichten hergestellt hat, das immerhin so weit als
irgend möglich zu Gunsten der Arbeiter verschoben ist. Aber alle Dinge auf
Erden haben auch ihre schlechten Seiten. So hat auch das Krankenvcrsiche-
rnngsgcsetz seine vielleicht unvermeidlichen Fehler und Schäden.
Hatte früher ein Arbeiter etwas Reißen oder etwas entzündete Haut oder
eine kleine Verstopfung, so ging er zum Kaufmann oder schickte ein Kind und
ließ für zehn Pfennige Arnikaspiritus oder Salbe oder Sennesblütter holen.
Jetzt muß er zur Kasse gehn und sich einen Kassenschein holen, geht dann in
die Sprechstunde zum Arzt und wartet da mit zwanzig andern. Der Arzt
muß ihn untersuche,:, ob er auch krank ist und die Kassenhilfe wirklich nötig
hat, muß ihm aufschreiben, was er braucht. Damit geht der Kranke zum
Apotheker und läßt sich die Arznei geben. Er fragt häufig den Apotheker,
was die Medizin kostet. Ist sie sehr billig, so ist er der Überzeugung, daß
der Arzt ihm nicht wohlwollend gesinnt ist und für die Kasse hat Geld
schinden wollen, und er ist überzeugt, für alle seine Wege eigentlich nichts er¬
halten zu haben. In tausend Fällen wird dieser Umweg vermieden, und man
holt für sein eignes Geld, was man braucht. In ebenso vielen Fällen wird
er aber begangen, und das bedeutet einen ungeheuern Aufwand an Zeit, Geld
und Arbeit, der in keinem Verhältnis zu dem geleistete»: steht. Unumgänglich
ist der Weg, wenn die Krankheit so ist, daß der Arbeiter vier Tage die Arbeit
versäumen muß, z. B. bei einem kleinen Schnupfenfieber, einer Halsentzündung,
einem Sommerdurchfall, einer leichten Zehenquetschung. In diesem Fall ist
der Mann gezwungen, das Kassenbureau, den Arzt und den Apotheker in Be¬
wegung zu setzen, weil er ja sonst, wie er sich auszudrücken pflegt, die paar
Pfennige Krankengeld verliert. Das Ganze ist aber ein Aufwand, der auch
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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/290>, abgerufen am 24.01.2025.
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