Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Reich und das Reichsland

nähere Prüfung der erwähnten Vorschläge hat darum nicht bloß theoretisches
Interesse, sondern anch praktische Bedeutung,


2

Bei Erlaß des Neichsgesetzes vom 9. Juni 1871, wodurch die Vereini¬
gung von Elsaß-Lothringen mit dem Deutschen Reiche ausgesprochen wurde,
war die Bildung eines "Reichslands" nur als provisorische Maßregel gedacht.
Die Annexion der eroberten Provinzen an Preußen, die nach dem Zeugnis
des Fürsten Bismnrck allein ernstlich in Betracht gekommen ist, konnte von der
Reichsregierung aus Rücksicht auf die Verbündeten Mittel- und Kleinstaaten nicht
beantragt werden. In Elsaß-Lothringen selbst war für den Anschluß an Preußen
keine Sympathie vorhanden. Die Reichsregierung griff deshalb zu dem Aus¬
weg, den drei Departements eine gemeinsame Verwaltung zu geben und alles
übrige der Zukunft zu überlassen. Daß die Schaffung des Ncichslands nur
ein Notbehelf war, hat Fürst Bismarck in der Neichstagssitzung vom 2. Mai
1871 offen ausgesprochen- "Ich möchte Sie bitten, bei diesen Berntungen sich
nicht auf den Standpunkt zu stellen, daß Sie etwas für die Ewigkeit giltiges
machen wollen, daß Sie jetzt schon einen festen Gedanken sich bilden wollen
über die Gestaltung der Zukunft, wie sie nach mehreren Jahren etwa sein
soll" -- "Es ist das, was wir Ihnen vorlegen, eben ein Versuch, den rich¬
tigen Anfang einer Bahn zu finden, über dessen Ende wir selbst noch der
Belehrung durch die Entwicklung, durch die Erfahrungen, die wir machen
werden, bedürftig sind" .....- "Sparen Sie sich, ebenso wie es die Verbündeten
Regierungen machen, das Urteil über die Gestaltung, wie sie definitiv einmal
werden kann, noch ans," -- Auch die Abgeordneten Laster, Lamey, Windt-
horst und Miqncl haben bei der Beratung des Gesetzes vom 9, Juni 1871
ausdrücklich erklärt, daß eine endgiltige Regelung der staatsrechtlichen Stellung
von Elsaß-Lothringen erst dann erfolgen solle, wenn die politischen Zustände
des Landes näher bekannt feien, und wenn die Vertreter des Landes ihre
Wünsche geäußert hätten.

Da das Reichsland nur eine provisorische Existenz haben sollte, so haben
es die gesetzgebenden Organe des Reichs nicht für nötig erachtet, sich die
rechtliche Bedeutung des von ihnen geschaffnen Gemeinwesens vollkommen klar
zu machen. Die Frage, ob das Reichsland ein Staat oder eine Provinz sein
sollte, ist im Reichstage zwar aufgeworfen, aber nicht gelöst worden. Treitschke
bezeichnete den Wunsch der Elsaß-Lothringer, einen eignen Staat zu bilden,
als unerfüllbar. Dagegen versicherte Reichensperger, dieser Wunsch sei schon
erfüllt; der "Staat" Elsaß-Lothringen sei schon vorhanden. Windthorst be¬
hauptete, das Reichsland sei eine "Undefinierte" und "undefinierbare" Größe;
Duncker endlich nannte den ganzen Streit, ob das Reichsland ein Staat oder
eine Provinz sei, einen "müßigen,"

Die spätern Verfassnngsgesetze vom 25. Juni 1873, 2, Mai 1877 und
4. Juli 1878 haben die prinzipielle Frage, ob das Reichsland ein Staat


Das Reich und das Reichsland

nähere Prüfung der erwähnten Vorschläge hat darum nicht bloß theoretisches
Interesse, sondern anch praktische Bedeutung,


2

Bei Erlaß des Neichsgesetzes vom 9. Juni 1871, wodurch die Vereini¬
gung von Elsaß-Lothringen mit dem Deutschen Reiche ausgesprochen wurde,
war die Bildung eines „Reichslands" nur als provisorische Maßregel gedacht.
Die Annexion der eroberten Provinzen an Preußen, die nach dem Zeugnis
des Fürsten Bismnrck allein ernstlich in Betracht gekommen ist, konnte von der
Reichsregierung aus Rücksicht auf die Verbündeten Mittel- und Kleinstaaten nicht
beantragt werden. In Elsaß-Lothringen selbst war für den Anschluß an Preußen
keine Sympathie vorhanden. Die Reichsregierung griff deshalb zu dem Aus¬
weg, den drei Departements eine gemeinsame Verwaltung zu geben und alles
übrige der Zukunft zu überlassen. Daß die Schaffung des Ncichslands nur
ein Notbehelf war, hat Fürst Bismarck in der Neichstagssitzung vom 2. Mai
1871 offen ausgesprochen- „Ich möchte Sie bitten, bei diesen Berntungen sich
nicht auf den Standpunkt zu stellen, daß Sie etwas für die Ewigkeit giltiges
machen wollen, daß Sie jetzt schon einen festen Gedanken sich bilden wollen
über die Gestaltung der Zukunft, wie sie nach mehreren Jahren etwa sein
soll" — „Es ist das, was wir Ihnen vorlegen, eben ein Versuch, den rich¬
tigen Anfang einer Bahn zu finden, über dessen Ende wir selbst noch der
Belehrung durch die Entwicklung, durch die Erfahrungen, die wir machen
werden, bedürftig sind" .....- „Sparen Sie sich, ebenso wie es die Verbündeten
Regierungen machen, das Urteil über die Gestaltung, wie sie definitiv einmal
werden kann, noch ans," — Auch die Abgeordneten Laster, Lamey, Windt-
horst und Miqncl haben bei der Beratung des Gesetzes vom 9, Juni 1871
ausdrücklich erklärt, daß eine endgiltige Regelung der staatsrechtlichen Stellung
von Elsaß-Lothringen erst dann erfolgen solle, wenn die politischen Zustände
des Landes näher bekannt feien, und wenn die Vertreter des Landes ihre
Wünsche geäußert hätten.

Da das Reichsland nur eine provisorische Existenz haben sollte, so haben
es die gesetzgebenden Organe des Reichs nicht für nötig erachtet, sich die
rechtliche Bedeutung des von ihnen geschaffnen Gemeinwesens vollkommen klar
zu machen. Die Frage, ob das Reichsland ein Staat oder eine Provinz sein
sollte, ist im Reichstage zwar aufgeworfen, aber nicht gelöst worden. Treitschke
bezeichnete den Wunsch der Elsaß-Lothringer, einen eignen Staat zu bilden,
als unerfüllbar. Dagegen versicherte Reichensperger, dieser Wunsch sei schon
erfüllt; der „Staat" Elsaß-Lothringen sei schon vorhanden. Windthorst be¬
hauptete, das Reichsland sei eine „Undefinierte" und „undefinierbare" Größe;
Duncker endlich nannte den ganzen Streit, ob das Reichsland ein Staat oder
eine Provinz sei, einen „müßigen,"

Die spätern Verfassnngsgesetze vom 25. Juni 1873, 2, Mai 1877 und
4. Juli 1878 haben die prinzipielle Frage, ob das Reichsland ein Staat


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0275" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236097"/>
            <fw type="header" place="top"> Das Reich und das Reichsland</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1063" prev="#ID_1062"> nähere Prüfung der erwähnten Vorschläge hat darum nicht bloß theoretisches<lb/>
Interesse, sondern anch praktische Bedeutung,</p><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 2</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1064"> Bei Erlaß des Neichsgesetzes vom 9. Juni 1871, wodurch die Vereini¬<lb/>
gung von Elsaß-Lothringen mit dem Deutschen Reiche ausgesprochen wurde,<lb/>
war die Bildung eines &#x201E;Reichslands" nur als provisorische Maßregel gedacht.<lb/>
Die Annexion der eroberten Provinzen an Preußen, die nach dem Zeugnis<lb/>
des Fürsten Bismnrck allein ernstlich in Betracht gekommen ist, konnte von der<lb/>
Reichsregierung aus Rücksicht auf die Verbündeten Mittel- und Kleinstaaten nicht<lb/>
beantragt werden. In Elsaß-Lothringen selbst war für den Anschluß an Preußen<lb/>
keine Sympathie vorhanden. Die Reichsregierung griff deshalb zu dem Aus¬<lb/>
weg, den drei Departements eine gemeinsame Verwaltung zu geben und alles<lb/>
übrige der Zukunft zu überlassen. Daß die Schaffung des Ncichslands nur<lb/>
ein Notbehelf war, hat Fürst Bismarck in der Neichstagssitzung vom 2. Mai<lb/>
1871 offen ausgesprochen- &#x201E;Ich möchte Sie bitten, bei diesen Berntungen sich<lb/>
nicht auf den Standpunkt zu stellen, daß Sie etwas für die Ewigkeit giltiges<lb/>
machen wollen, daß Sie jetzt schon einen festen Gedanken sich bilden wollen<lb/>
über die Gestaltung der Zukunft, wie sie nach mehreren Jahren etwa sein<lb/>
soll" &#x2014; &#x201E;Es ist das, was wir Ihnen vorlegen, eben ein Versuch, den rich¬<lb/>
tigen Anfang einer Bahn zu finden, über dessen Ende wir selbst noch der<lb/>
Belehrung durch die Entwicklung, durch die Erfahrungen, die wir machen<lb/>
werden, bedürftig sind" .....- &#x201E;Sparen Sie sich, ebenso wie es die Verbündeten<lb/>
Regierungen machen, das Urteil über die Gestaltung, wie sie definitiv einmal<lb/>
werden kann, noch ans," &#x2014; Auch die Abgeordneten Laster, Lamey, Windt-<lb/>
horst und Miqncl haben bei der Beratung des Gesetzes vom 9, Juni 1871<lb/>
ausdrücklich erklärt, daß eine endgiltige Regelung der staatsrechtlichen Stellung<lb/>
von Elsaß-Lothringen erst dann erfolgen solle, wenn die politischen Zustände<lb/>
des Landes näher bekannt feien, und wenn die Vertreter des Landes ihre<lb/>
Wünsche geäußert hätten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1065"> Da das Reichsland nur eine provisorische Existenz haben sollte, so haben<lb/>
es die gesetzgebenden Organe des Reichs nicht für nötig erachtet, sich die<lb/>
rechtliche Bedeutung des von ihnen geschaffnen Gemeinwesens vollkommen klar<lb/>
zu machen. Die Frage, ob das Reichsland ein Staat oder eine Provinz sein<lb/>
sollte, ist im Reichstage zwar aufgeworfen, aber nicht gelöst worden. Treitschke<lb/>
bezeichnete den Wunsch der Elsaß-Lothringer, einen eignen Staat zu bilden,<lb/>
als unerfüllbar. Dagegen versicherte Reichensperger, dieser Wunsch sei schon<lb/>
erfüllt; der &#x201E;Staat" Elsaß-Lothringen sei schon vorhanden. Windthorst be¬<lb/>
hauptete, das Reichsland sei eine &#x201E;Undefinierte" und &#x201E;undefinierbare" Größe;<lb/>
Duncker endlich nannte den ganzen Streit, ob das Reichsland ein Staat oder<lb/>
eine Provinz sei, einen &#x201E;müßigen,"</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1066" next="#ID_1067"> Die spätern Verfassnngsgesetze vom 25. Juni 1873, 2, Mai 1877 und<lb/>
4. Juli 1878 haben die prinzipielle Frage, ob das Reichsland ein Staat</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0275] Das Reich und das Reichsland nähere Prüfung der erwähnten Vorschläge hat darum nicht bloß theoretisches Interesse, sondern anch praktische Bedeutung, 2 Bei Erlaß des Neichsgesetzes vom 9. Juni 1871, wodurch die Vereini¬ gung von Elsaß-Lothringen mit dem Deutschen Reiche ausgesprochen wurde, war die Bildung eines „Reichslands" nur als provisorische Maßregel gedacht. Die Annexion der eroberten Provinzen an Preußen, die nach dem Zeugnis des Fürsten Bismnrck allein ernstlich in Betracht gekommen ist, konnte von der Reichsregierung aus Rücksicht auf die Verbündeten Mittel- und Kleinstaaten nicht beantragt werden. In Elsaß-Lothringen selbst war für den Anschluß an Preußen keine Sympathie vorhanden. Die Reichsregierung griff deshalb zu dem Aus¬ weg, den drei Departements eine gemeinsame Verwaltung zu geben und alles übrige der Zukunft zu überlassen. Daß die Schaffung des Ncichslands nur ein Notbehelf war, hat Fürst Bismarck in der Neichstagssitzung vom 2. Mai 1871 offen ausgesprochen- „Ich möchte Sie bitten, bei diesen Berntungen sich nicht auf den Standpunkt zu stellen, daß Sie etwas für die Ewigkeit giltiges machen wollen, daß Sie jetzt schon einen festen Gedanken sich bilden wollen über die Gestaltung der Zukunft, wie sie nach mehreren Jahren etwa sein soll" — „Es ist das, was wir Ihnen vorlegen, eben ein Versuch, den rich¬ tigen Anfang einer Bahn zu finden, über dessen Ende wir selbst noch der Belehrung durch die Entwicklung, durch die Erfahrungen, die wir machen werden, bedürftig sind" .....- „Sparen Sie sich, ebenso wie es die Verbündeten Regierungen machen, das Urteil über die Gestaltung, wie sie definitiv einmal werden kann, noch ans," — Auch die Abgeordneten Laster, Lamey, Windt- horst und Miqncl haben bei der Beratung des Gesetzes vom 9, Juni 1871 ausdrücklich erklärt, daß eine endgiltige Regelung der staatsrechtlichen Stellung von Elsaß-Lothringen erst dann erfolgen solle, wenn die politischen Zustände des Landes näher bekannt feien, und wenn die Vertreter des Landes ihre Wünsche geäußert hätten. Da das Reichsland nur eine provisorische Existenz haben sollte, so haben es die gesetzgebenden Organe des Reichs nicht für nötig erachtet, sich die rechtliche Bedeutung des von ihnen geschaffnen Gemeinwesens vollkommen klar zu machen. Die Frage, ob das Reichsland ein Staat oder eine Provinz sein sollte, ist im Reichstage zwar aufgeworfen, aber nicht gelöst worden. Treitschke bezeichnete den Wunsch der Elsaß-Lothringer, einen eignen Staat zu bilden, als unerfüllbar. Dagegen versicherte Reichensperger, dieser Wunsch sei schon erfüllt; der „Staat" Elsaß-Lothringen sei schon vorhanden. Windthorst be¬ hauptete, das Reichsland sei eine „Undefinierte" und „undefinierbare" Größe; Duncker endlich nannte den ganzen Streit, ob das Reichsland ein Staat oder eine Provinz sei, einen „müßigen," Die spätern Verfassnngsgesetze vom 25. Juni 1873, 2, Mai 1877 und 4. Juli 1878 haben die prinzipielle Frage, ob das Reichsland ein Staat

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/275
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/275>, abgerufen am 01.09.2024.