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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Das neuste aus der musikalischen Völkerkunde

diese Fragen steigen ans der Stumpfschen Partitur unabweislich auf. Leider
müssen wir die Beantwortung spätern Geschlechtern überlassen.

Das Stück, dem die angeführten Beobachtungen entnommen sind, hat den
Titel: 151min Iiom, d. h. "Süße Worte." Auch drei andre, vorläufig mir
phonographisch aufgenommne Orchesterpartitnren tragen Überschriften; zwei
sind Abschiedsszenen, eine lustige und eine traurige, die dritte sucht Wesen und
Gebaren eines Siamesen wiederzugeben. Die heutige Instrumentalmusik der
Siamesen ist demnach Programmmusik auf einer höhern Stufe. Über Nach¬
ahmung vou Tierlanten und kleine Natnrmalereicu ist sie schon hinaus, sie
giebt Charakter- und Stimmungsbilder. Die "süfzcn Worte" ruhn auf einem
sanften, einen sehnsuchtsvollen Kehrreim voranstellenden Liedthema, das in der
Weise von Glinkas Xain-mnsKiM durch Variationen entwickelt wird. Von der
Mitte ab wird die Musik stürmischer, die Hälfte der Instrumente, hohe, mittlere
und tiefe, figurieren in Sechzehntelu, nur zwei tragen unisono die Haupt¬
melodie vor, von den sieben übrigen hat jedes eine andre Nmspieluug, gegen
das Ende hin, das im einundvierzigsten Takt mit einem großen rilg,räirnäv
dn ist, kehren Ruhe und Einfachheit zurück. Stellenweise ist die Komposition
eine Art Mixturenmusik, für den Europäer der reine Dissonanzcnwirrwarr,
aber im Aufbau trägt sie das Gepräge eines Kunstwerks, aus dem Grund¬
gedanken spricht volle Poesie.

Auch die Gesangskompositionen, die Stumpf den Siamesen abgehört hat
ruhn auf starkem, echtem menschlichem Gefühl, sie unterwerfen ihm mich die
Form häusig mit überraschender Freiheit. Da treten in die orientalische
Monotonie unaufhörlicher Wiederholung plötzlich Episoden hinein, wo Pause,?,
Fermaten, Rhythmen von unvermittelter Heftigkeit, leiterfremde Töne alle Ord¬
nung eines dramatischen Impulses wegen ausheben. Die Naturtreue geht bis
zum Ersatz des Gesangs durch Klagegeschrei.

Das neue, reiche Bild der siamesischen Musik, das in dem Buche ge¬
boten wird, hat sich natürlich nur durch neue Mittel gewinne" lassen, und
sie sind es, die Stumpfs Arbeit für die Erforschung exotischer Musik über¬
haupt wichtig machen. Ost schon ist die Zuverlässigkeit des Quellenmaterials,
mit dem die musikalische Völkerkunde bisher gearbeitet hat, bezweifelt worden.
Stumpf zeigt um der siamesischen Musik, wie berechtigt diese Zweifel waren,
wie Geographen, Missionare und andre Reisende, die sich nur nebenbei für
Musik interessieren, unwillkürlich oberflächlich Verfahren, das wirklich oder ver¬
meintlich Gehörte ohne weiteres ins Europäische übersetzen und den unlös¬
baren fremdartigen Nest, auch wo er wesentlich ist, beiseite lassen. So konnte
es den frühern Berichterstattern entgehn, daß die Siamesen ans Grund einer
ganz eignen Tonleiter musizieren. Sie ist, wie die unsre, siebenstufig, Prime
und Oktave stimmen überein. Aber sie läuft nicht in ganzen und halben
Tönen, sondern in sieben gleichen Intervallen. Das Siamesische Einheits¬
intervall steht zwischen dem Dreiviertelton und dem Ganzton. Es ist unserm
Gehör und unsrer Notenschrift eine unbekannte Größe; auch die von Stumpf


Das neuste aus der musikalischen Völkerkunde

diese Fragen steigen ans der Stumpfschen Partitur unabweislich auf. Leider
müssen wir die Beantwortung spätern Geschlechtern überlassen.

Das Stück, dem die angeführten Beobachtungen entnommen sind, hat den
Titel: 151min Iiom, d. h. „Süße Worte." Auch drei andre, vorläufig mir
phonographisch aufgenommne Orchesterpartitnren tragen Überschriften; zwei
sind Abschiedsszenen, eine lustige und eine traurige, die dritte sucht Wesen und
Gebaren eines Siamesen wiederzugeben. Die heutige Instrumentalmusik der
Siamesen ist demnach Programmmusik auf einer höhern Stufe. Über Nach¬
ahmung vou Tierlanten und kleine Natnrmalereicu ist sie schon hinaus, sie
giebt Charakter- und Stimmungsbilder. Die „süfzcn Worte" ruhn auf einem
sanften, einen sehnsuchtsvollen Kehrreim voranstellenden Liedthema, das in der
Weise von Glinkas Xain-mnsKiM durch Variationen entwickelt wird. Von der
Mitte ab wird die Musik stürmischer, die Hälfte der Instrumente, hohe, mittlere
und tiefe, figurieren in Sechzehntelu, nur zwei tragen unisono die Haupt¬
melodie vor, von den sieben übrigen hat jedes eine andre Nmspieluug, gegen
das Ende hin, das im einundvierzigsten Takt mit einem großen rilg,räirnäv
dn ist, kehren Ruhe und Einfachheit zurück. Stellenweise ist die Komposition
eine Art Mixturenmusik, für den Europäer der reine Dissonanzcnwirrwarr,
aber im Aufbau trägt sie das Gepräge eines Kunstwerks, aus dem Grund¬
gedanken spricht volle Poesie.

Auch die Gesangskompositionen, die Stumpf den Siamesen abgehört hat
ruhn auf starkem, echtem menschlichem Gefühl, sie unterwerfen ihm mich die
Form häusig mit überraschender Freiheit. Da treten in die orientalische
Monotonie unaufhörlicher Wiederholung plötzlich Episoden hinein, wo Pause,?,
Fermaten, Rhythmen von unvermittelter Heftigkeit, leiterfremde Töne alle Ord¬
nung eines dramatischen Impulses wegen ausheben. Die Naturtreue geht bis
zum Ersatz des Gesangs durch Klagegeschrei.

Das neue, reiche Bild der siamesischen Musik, das in dem Buche ge¬
boten wird, hat sich natürlich nur durch neue Mittel gewinne» lassen, und
sie sind es, die Stumpfs Arbeit für die Erforschung exotischer Musik über¬
haupt wichtig machen. Ost schon ist die Zuverlässigkeit des Quellenmaterials,
mit dem die musikalische Völkerkunde bisher gearbeitet hat, bezweifelt worden.
Stumpf zeigt um der siamesischen Musik, wie berechtigt diese Zweifel waren,
wie Geographen, Missionare und andre Reisende, die sich nur nebenbei für
Musik interessieren, unwillkürlich oberflächlich Verfahren, das wirklich oder ver¬
meintlich Gehörte ohne weiteres ins Europäische übersetzen und den unlös¬
baren fremdartigen Nest, auch wo er wesentlich ist, beiseite lassen. So konnte
es den frühern Berichterstattern entgehn, daß die Siamesen ans Grund einer
ganz eignen Tonleiter musizieren. Sie ist, wie die unsre, siebenstufig, Prime
und Oktave stimmen überein. Aber sie läuft nicht in ganzen und halben
Tönen, sondern in sieben gleichen Intervallen. Das Siamesische Einheits¬
intervall steht zwischen dem Dreiviertelton und dem Ganzton. Es ist unserm
Gehör und unsrer Notenschrift eine unbekannte Größe; auch die von Stumpf


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[0258] Das neuste aus der musikalischen Völkerkunde diese Fragen steigen ans der Stumpfschen Partitur unabweislich auf. Leider müssen wir die Beantwortung spätern Geschlechtern überlassen. Das Stück, dem die angeführten Beobachtungen entnommen sind, hat den Titel: 151min Iiom, d. h. „Süße Worte." Auch drei andre, vorläufig mir phonographisch aufgenommne Orchesterpartitnren tragen Überschriften; zwei sind Abschiedsszenen, eine lustige und eine traurige, die dritte sucht Wesen und Gebaren eines Siamesen wiederzugeben. Die heutige Instrumentalmusik der Siamesen ist demnach Programmmusik auf einer höhern Stufe. Über Nach¬ ahmung vou Tierlanten und kleine Natnrmalereicu ist sie schon hinaus, sie giebt Charakter- und Stimmungsbilder. Die „süfzcn Worte" ruhn auf einem sanften, einen sehnsuchtsvollen Kehrreim voranstellenden Liedthema, das in der Weise von Glinkas Xain-mnsKiM durch Variationen entwickelt wird. Von der Mitte ab wird die Musik stürmischer, die Hälfte der Instrumente, hohe, mittlere und tiefe, figurieren in Sechzehntelu, nur zwei tragen unisono die Haupt¬ melodie vor, von den sieben übrigen hat jedes eine andre Nmspieluug, gegen das Ende hin, das im einundvierzigsten Takt mit einem großen rilg,räirnäv dn ist, kehren Ruhe und Einfachheit zurück. Stellenweise ist die Komposition eine Art Mixturenmusik, für den Europäer der reine Dissonanzcnwirrwarr, aber im Aufbau trägt sie das Gepräge eines Kunstwerks, aus dem Grund¬ gedanken spricht volle Poesie. Auch die Gesangskompositionen, die Stumpf den Siamesen abgehört hat ruhn auf starkem, echtem menschlichem Gefühl, sie unterwerfen ihm mich die Form häusig mit überraschender Freiheit. Da treten in die orientalische Monotonie unaufhörlicher Wiederholung plötzlich Episoden hinein, wo Pause,?, Fermaten, Rhythmen von unvermittelter Heftigkeit, leiterfremde Töne alle Ord¬ nung eines dramatischen Impulses wegen ausheben. Die Naturtreue geht bis zum Ersatz des Gesangs durch Klagegeschrei. Das neue, reiche Bild der siamesischen Musik, das in dem Buche ge¬ boten wird, hat sich natürlich nur durch neue Mittel gewinne» lassen, und sie sind es, die Stumpfs Arbeit für die Erforschung exotischer Musik über¬ haupt wichtig machen. Ost schon ist die Zuverlässigkeit des Quellenmaterials, mit dem die musikalische Völkerkunde bisher gearbeitet hat, bezweifelt worden. Stumpf zeigt um der siamesischen Musik, wie berechtigt diese Zweifel waren, wie Geographen, Missionare und andre Reisende, die sich nur nebenbei für Musik interessieren, unwillkürlich oberflächlich Verfahren, das wirklich oder ver¬ meintlich Gehörte ohne weiteres ins Europäische übersetzen und den unlös¬ baren fremdartigen Nest, auch wo er wesentlich ist, beiseite lassen. So konnte es den frühern Berichterstattern entgehn, daß die Siamesen ans Grund einer ganz eignen Tonleiter musizieren. Sie ist, wie die unsre, siebenstufig, Prime und Oktave stimmen überein. Aber sie läuft nicht in ganzen und halben Tönen, sondern in sieben gleichen Intervallen. Das Siamesische Einheits¬ intervall steht zwischen dem Dreiviertelton und dem Ganzton. Es ist unserm Gehör und unsrer Notenschrift eine unbekannte Größe; auch die von Stumpf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/258>, abgerufen am 01.09.2024.