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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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man sich darüber nicht wundern. Fraglich ist nur, ob es sich bei der harmonie¬
losen, altmodischen Musik der Siamesen um ein Nichtkönnen oder ein Nicht¬
wollen handelt. Denn sie sind der Musik um sich leidenschaftlich zugethan,
folglich auch dafür stark begabt. Leute, die nicht singen oder spielen können,
sind in Sinn seltner als bei uns die Analphabeten, alle Vornehmen und
Adlichen des Landes halten ihre Privatkapellen, zu deren Aufführungen jeder¬
mann Zutritt hat; das Österreich des achtzehnten Jahrhunderts scheint in diesem
Stück noch übertroffen. Kein wichtiger Borgang in der Öffentlichkeit und im
Familienleben ohne Musik; musikalische Theaterstücke und Pantomimen die
Hülle und Fülle! Nur von Musik als Selbstzweck, von Konzerten wissen sie
nichts, und manches andre Hauptstück europäischer Musik ist bei ihnen un¬
denkbar. Die Liedertafel z. B. und das Damenorchester; denn der Gesang ist
in Sinn Sache der Frauen, das Jnstrumentenspiel gehört den Männern.
Noten sind noch unbekannt, der ganze Siamesische Musikvorrat, der auf zwei¬
hundert bis dreihundert von den Komponisten immer wieder variierte und um¬
geformte Gesänge und Instrumentalstücke zurückgeht, pflanzt sich lediglich dnrch
Gehör und Gedächtnis von einem Geschlecht zum andern fort. Ihre Orchester
erinnern an unser Mittelalter: Strohfiedeln (Raumes), Glasharmonikas (Kongs),
auch wohl Dudelsacke (Khens), mehrfach und in verschiedner Größe besetzt,
bilden den Stamm, zwei Flöten helfen die Melodie klären und verstärken. In
dieses verhältnismäßig zarte und gesittete Ensemble schlagen aber unaufhörlich
und auch für Hörer beängstigend, die dnrch den abendländischen Mißbrauch
der großen Trommel abgestumpft sind, mindestens zwei Pauken hinein, Becken
noch dazu. Dieselbe orientalische Mischung von Weichheit und Wildheit spricht
aus deu siamesischen Kompositionen, von denen seit dem Ende des siebzehnten
Jahrhunderts Reisebeschreibungen (de la Lvubere, James Low, von Hesse-
Wartegg, Warrington, Sendts) und Musikgeschichten lde in Borde, Felis) zahl¬
reiche Proben mitgeteilt haben. Die ruhige Anmut, die uns in ihrer Eigenheit
an deu Flötenstücken von Verdis "Alba" so entzückt, bildet mich ihren Grund¬
zug, aber häufig macht fie ganz plötzlich unbegreiflichen Ausbrüchen von Ton¬
barbarei Platz.

Auf die Dauer scheint aber doch die Selbständigkeit und Reinheit der
siamesischen Musik bedroht zu sein. Vor vierzig Jahren hat man europäische
Militärmusik eingeführt; seitdem bringen in die eingeborne Kunst bald hier
bald da fremde Elemente herein, in den Klangapparat Streichinstrumente, in
die Komposition europäische Zitate. Sogar die jetzige Siamesische National¬
hymne zeigt englische Spuren.

Schon das ist also ein Verdienst, daß Stumpf die gute Gelegenheit er¬
griffen hat, der siamesischen Musik in zwölfter Stunde noch einmal näher zu
treten. Sie bot sich durch eine Siamesische Theatcrtruppe, die im September
1900 nach Berlin kam. Die Klarheit ihrer Pantomimen gewann das Publikum
sofort, Einzelheiten ihrer Kunst -- die Pracht und Farbenharmonie ihrer Ge¬
wänder, das unsern Balletts ganz fremd gewordne, ausdrucksvolle Spiel der


man sich darüber nicht wundern. Fraglich ist nur, ob es sich bei der harmonie¬
losen, altmodischen Musik der Siamesen um ein Nichtkönnen oder ein Nicht¬
wollen handelt. Denn sie sind der Musik um sich leidenschaftlich zugethan,
folglich auch dafür stark begabt. Leute, die nicht singen oder spielen können,
sind in Sinn seltner als bei uns die Analphabeten, alle Vornehmen und
Adlichen des Landes halten ihre Privatkapellen, zu deren Aufführungen jeder¬
mann Zutritt hat; das Österreich des achtzehnten Jahrhunderts scheint in diesem
Stück noch übertroffen. Kein wichtiger Borgang in der Öffentlichkeit und im
Familienleben ohne Musik; musikalische Theaterstücke und Pantomimen die
Hülle und Fülle! Nur von Musik als Selbstzweck, von Konzerten wissen sie
nichts, und manches andre Hauptstück europäischer Musik ist bei ihnen un¬
denkbar. Die Liedertafel z. B. und das Damenorchester; denn der Gesang ist
in Sinn Sache der Frauen, das Jnstrumentenspiel gehört den Männern.
Noten sind noch unbekannt, der ganze Siamesische Musikvorrat, der auf zwei¬
hundert bis dreihundert von den Komponisten immer wieder variierte und um¬
geformte Gesänge und Instrumentalstücke zurückgeht, pflanzt sich lediglich dnrch
Gehör und Gedächtnis von einem Geschlecht zum andern fort. Ihre Orchester
erinnern an unser Mittelalter: Strohfiedeln (Raumes), Glasharmonikas (Kongs),
auch wohl Dudelsacke (Khens), mehrfach und in verschiedner Größe besetzt,
bilden den Stamm, zwei Flöten helfen die Melodie klären und verstärken. In
dieses verhältnismäßig zarte und gesittete Ensemble schlagen aber unaufhörlich
und auch für Hörer beängstigend, die dnrch den abendländischen Mißbrauch
der großen Trommel abgestumpft sind, mindestens zwei Pauken hinein, Becken
noch dazu. Dieselbe orientalische Mischung von Weichheit und Wildheit spricht
aus deu siamesischen Kompositionen, von denen seit dem Ende des siebzehnten
Jahrhunderts Reisebeschreibungen (de la Lvubere, James Low, von Hesse-
Wartegg, Warrington, Sendts) und Musikgeschichten lde in Borde, Felis) zahl¬
reiche Proben mitgeteilt haben. Die ruhige Anmut, die uns in ihrer Eigenheit
an deu Flötenstücken von Verdis „Alba" so entzückt, bildet mich ihren Grund¬
zug, aber häufig macht fie ganz plötzlich unbegreiflichen Ausbrüchen von Ton¬
barbarei Platz.

Auf die Dauer scheint aber doch die Selbständigkeit und Reinheit der
siamesischen Musik bedroht zu sein. Vor vierzig Jahren hat man europäische
Militärmusik eingeführt; seitdem bringen in die eingeborne Kunst bald hier
bald da fremde Elemente herein, in den Klangapparat Streichinstrumente, in
die Komposition europäische Zitate. Sogar die jetzige Siamesische National¬
hymne zeigt englische Spuren.

Schon das ist also ein Verdienst, daß Stumpf die gute Gelegenheit er¬
griffen hat, der siamesischen Musik in zwölfter Stunde noch einmal näher zu
treten. Sie bot sich durch eine Siamesische Theatcrtruppe, die im September
1900 nach Berlin kam. Die Klarheit ihrer Pantomimen gewann das Publikum
sofort, Einzelheiten ihrer Kunst — die Pracht und Farbenharmonie ihrer Ge¬
wänder, das unsern Balletts ganz fremd gewordne, ausdrucksvolle Spiel der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/256>, abgerufen am 01.09.2024.