Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Baedeker

heute den Kunsthistoriker interessieren, während unsereiner sich an der Frische
und Freiheit ihrer politischen Urteile erfreut. Sie vertreten zum Teil die noch
spärlichen Zeitungen, lind bis in den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts
hat sich die Neiselitteratur einen publizistischen Zug bewahrt --; mau denke
an Nikolai. Mit schweren Bänden, wie Küffner sie zu Markte brachte, wird zwar
niemand gereist sein; aber wer eine Reise vorhatte, bereitete sich darin vor
und trug in der Brieftasche Auszüge davon zum Gebrauch mit sich. So wird
sich auch Goethe für seine italienischen Reisen vorbereitet haben. Gerade in
den Jahren, die seiner ersten italienischen Reise vorhergingen, hatte die deutsche
Litteratur mehrere gute Werke über Italien empfangen. C. G. Jcigcmanns
Briefe über Italien (Weimar. 1778 bis 1780) galten für besonders brauchbar.
Damals sahen auch West- und Mitteleuropa ihre Straßen und Posteinrich-
tuugen sich verbessern, und damit ging Hand in Hand die Herausgabe aus¬
führlicher Verzeichnisse von Postknrsen und Pvstreisekarten, Vorläufern des
"Heudschel" und des Neichskursbuches. Einen goldnen Faden der Poesie
flocht in diese großenteils ebenso trocknen wie breiten Werke die Romantik;
seit des jungen Goethes Lahn- und Rheinreise genossen beschwingte Seelen
die Lust des Wanderns, die das wachsende Verständnis für die Natur und
die Geschichte der heimatlichen Gefilde, für die Werke der Väter und das Leben
des Volkes würzte. Es entstanden bewegte Beschreibungen, mit Dichtungen
und Sagen durchflochten, die manchmal nicht sehr praktisch gewesen sein mögen,
aber doch mächtig zum Wandern und zugleich zu ernster Erwägung dessen an¬
regen, was sich dein Auge bot. Diese Entwicklung der deutschen Neiselitteratur
zeigt uns vielleicht am besten Alohs Schreibers "Anleitung, auf die nützlichste
und genußvollste Art deu Rhein von Schaffhausen bis Holland zu bereisen."
(Heidelberg, 1816.) Ausführlich, genan, aber mit einer Menge von unnötigen
geschichtlichen Notizen, Volkssagen, schwungvollen Schilderungen, etymologischen
Versuchen. Das praktische: Posten, Gasthäuser und Ausflüge ist ganz kurz
am Schluß jedes Ortes, eigentlich nebensächlich, behandelt. Führer dieser Art
haben sich für entlegnere und kleinere Gebiete noch erhalten und werden auch
immer neu herausgegeben. Ich erinnere mich, bei meinem ersten Ausflug nach
Westengland einen iZossipin^ Ouiclö tbrou^u 'Ug.lgs benutzt zu haben, dessen
Praktische Fingerzeige ganz verschwanden in dem Geplauder über dies und
jenes, das oft mit dein Gegenstand sehr wenig zu thun hatte. Ich hatte das
behäbig-voluminöse Buch in blauer Leinwand ausgewählt, weil ich in ihm die
genauesten Mitteilungen über das Land vermutete, das ich bereisen wollte.
Aber vor lauter Sagen, Gedichten, Anekdoten und wortreichen Schilderungen,
die mit übermäßig vielen Ausrufungszeichen vermischt waren, kam der Ver¬
fasser nicht zu exakten Angaben. Ich mußte an diesen unpraktischen Wort¬
schwall denken, als ich kürzlich in einer englischen Besprechung des letzten
Loid^rlgM las: "Baedeker hat keine Seele. Er Null sich in nichts ver¬
sanken, ihn beschäftigt nur der Fahrplan, die Geldbörse und der Magen. Doch
in diesen selbstgezognen Grenzen ist er unübertrefflich." Tausendmal lieber


Baedeker

heute den Kunsthistoriker interessieren, während unsereiner sich an der Frische
und Freiheit ihrer politischen Urteile erfreut. Sie vertreten zum Teil die noch
spärlichen Zeitungen, lind bis in den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts
hat sich die Neiselitteratur einen publizistischen Zug bewahrt —; mau denke
an Nikolai. Mit schweren Bänden, wie Küffner sie zu Markte brachte, wird zwar
niemand gereist sein; aber wer eine Reise vorhatte, bereitete sich darin vor
und trug in der Brieftasche Auszüge davon zum Gebrauch mit sich. So wird
sich auch Goethe für seine italienischen Reisen vorbereitet haben. Gerade in
den Jahren, die seiner ersten italienischen Reise vorhergingen, hatte die deutsche
Litteratur mehrere gute Werke über Italien empfangen. C. G. Jcigcmanns
Briefe über Italien (Weimar. 1778 bis 1780) galten für besonders brauchbar.
Damals sahen auch West- und Mitteleuropa ihre Straßen und Posteinrich-
tuugen sich verbessern, und damit ging Hand in Hand die Herausgabe aus¬
führlicher Verzeichnisse von Postknrsen und Pvstreisekarten, Vorläufern des
„Heudschel" und des Neichskursbuches. Einen goldnen Faden der Poesie
flocht in diese großenteils ebenso trocknen wie breiten Werke die Romantik;
seit des jungen Goethes Lahn- und Rheinreise genossen beschwingte Seelen
die Lust des Wanderns, die das wachsende Verständnis für die Natur und
die Geschichte der heimatlichen Gefilde, für die Werke der Väter und das Leben
des Volkes würzte. Es entstanden bewegte Beschreibungen, mit Dichtungen
und Sagen durchflochten, die manchmal nicht sehr praktisch gewesen sein mögen,
aber doch mächtig zum Wandern und zugleich zu ernster Erwägung dessen an¬
regen, was sich dein Auge bot. Diese Entwicklung der deutschen Neiselitteratur
zeigt uns vielleicht am besten Alohs Schreibers „Anleitung, auf die nützlichste
und genußvollste Art deu Rhein von Schaffhausen bis Holland zu bereisen."
(Heidelberg, 1816.) Ausführlich, genan, aber mit einer Menge von unnötigen
geschichtlichen Notizen, Volkssagen, schwungvollen Schilderungen, etymologischen
Versuchen. Das praktische: Posten, Gasthäuser und Ausflüge ist ganz kurz
am Schluß jedes Ortes, eigentlich nebensächlich, behandelt. Führer dieser Art
haben sich für entlegnere und kleinere Gebiete noch erhalten und werden auch
immer neu herausgegeben. Ich erinnere mich, bei meinem ersten Ausflug nach
Westengland einen iZossipin^ Ouiclö tbrou^u 'Ug.lgs benutzt zu haben, dessen
Praktische Fingerzeige ganz verschwanden in dem Geplauder über dies und
jenes, das oft mit dein Gegenstand sehr wenig zu thun hatte. Ich hatte das
behäbig-voluminöse Buch in blauer Leinwand ausgewählt, weil ich in ihm die
genauesten Mitteilungen über das Land vermutete, das ich bereisen wollte.
Aber vor lauter Sagen, Gedichten, Anekdoten und wortreichen Schilderungen,
die mit übermäßig vielen Ausrufungszeichen vermischt waren, kam der Ver¬
fasser nicht zu exakten Angaben. Ich mußte an diesen unpraktischen Wort¬
schwall denken, als ich kürzlich in einer englischen Besprechung des letzten
Loid^rlgM las: „Baedeker hat keine Seele. Er Null sich in nichts ver¬
sanken, ihn beschäftigt nur der Fahrplan, die Geldbörse und der Magen. Doch
in diesen selbstgezognen Grenzen ist er unübertrefflich." Tausendmal lieber


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0245" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236067"/>
          <fw type="header" place="top"> Baedeker</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_963" prev="#ID_962" next="#ID_964"> heute den Kunsthistoriker interessieren, während unsereiner sich an der Frische<lb/>
und Freiheit ihrer politischen Urteile erfreut. Sie vertreten zum Teil die noch<lb/>
spärlichen Zeitungen, lind bis in den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts<lb/>
hat sich die Neiselitteratur einen publizistischen Zug bewahrt &#x2014;; mau denke<lb/>
an Nikolai. Mit schweren Bänden, wie Küffner sie zu Markte brachte, wird zwar<lb/>
niemand gereist sein; aber wer eine Reise vorhatte, bereitete sich darin vor<lb/>
und trug in der Brieftasche Auszüge davon zum Gebrauch mit sich. So wird<lb/>
sich auch Goethe für seine italienischen Reisen vorbereitet haben. Gerade in<lb/>
den Jahren, die seiner ersten italienischen Reise vorhergingen, hatte die deutsche<lb/>
Litteratur mehrere gute Werke über Italien empfangen. C. G. Jcigcmanns<lb/>
Briefe über Italien (Weimar. 1778 bis 1780) galten für besonders brauchbar.<lb/>
Damals sahen auch West- und Mitteleuropa ihre Straßen und Posteinrich-<lb/>
tuugen sich verbessern, und damit ging Hand in Hand die Herausgabe aus¬<lb/>
führlicher Verzeichnisse von Postknrsen und Pvstreisekarten, Vorläufern des<lb/>
&#x201E;Heudschel" und des Neichskursbuches. Einen goldnen Faden der Poesie<lb/>
flocht in diese großenteils ebenso trocknen wie breiten Werke die Romantik;<lb/>
seit des jungen Goethes Lahn- und Rheinreise genossen beschwingte Seelen<lb/>
die Lust des Wanderns, die das wachsende Verständnis für die Natur und<lb/>
die Geschichte der heimatlichen Gefilde, für die Werke der Väter und das Leben<lb/>
des Volkes würzte. Es entstanden bewegte Beschreibungen, mit Dichtungen<lb/>
und Sagen durchflochten, die manchmal nicht sehr praktisch gewesen sein mögen,<lb/>
aber doch mächtig zum Wandern und zugleich zu ernster Erwägung dessen an¬<lb/>
regen, was sich dein Auge bot. Diese Entwicklung der deutschen Neiselitteratur<lb/>
zeigt uns vielleicht am besten Alohs Schreibers &#x201E;Anleitung, auf die nützlichste<lb/>
und genußvollste Art deu Rhein von Schaffhausen bis Holland zu bereisen."<lb/>
(Heidelberg, 1816.) Ausführlich, genan, aber mit einer Menge von unnötigen<lb/>
geschichtlichen Notizen, Volkssagen, schwungvollen Schilderungen, etymologischen<lb/>
Versuchen. Das praktische: Posten, Gasthäuser und Ausflüge ist ganz kurz<lb/>
am Schluß jedes Ortes, eigentlich nebensächlich, behandelt. Führer dieser Art<lb/>
haben sich für entlegnere und kleinere Gebiete noch erhalten und werden auch<lb/>
immer neu herausgegeben. Ich erinnere mich, bei meinem ersten Ausflug nach<lb/>
Westengland einen iZossipin^ Ouiclö tbrou^u 'Ug.lgs benutzt zu haben, dessen<lb/>
Praktische Fingerzeige ganz verschwanden in dem Geplauder über dies und<lb/>
jenes, das oft mit dein Gegenstand sehr wenig zu thun hatte. Ich hatte das<lb/>
behäbig-voluminöse Buch in blauer Leinwand ausgewählt, weil ich in ihm die<lb/>
genauesten Mitteilungen über das Land vermutete, das ich bereisen wollte.<lb/>
Aber vor lauter Sagen, Gedichten, Anekdoten und wortreichen Schilderungen,<lb/>
die mit übermäßig vielen Ausrufungszeichen vermischt waren, kam der Ver¬<lb/>
fasser nicht zu exakten Angaben. Ich mußte an diesen unpraktischen Wort¬<lb/>
schwall denken, als ich kürzlich in einer englischen Besprechung des letzten<lb/>
Loid^rlgM las: &#x201E;Baedeker hat keine Seele. Er Null sich in nichts ver¬<lb/>
sanken, ihn beschäftigt nur der Fahrplan, die Geldbörse und der Magen. Doch<lb/>
in diesen selbstgezognen Grenzen ist er unübertrefflich."  Tausendmal lieber</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0245] Baedeker heute den Kunsthistoriker interessieren, während unsereiner sich an der Frische und Freiheit ihrer politischen Urteile erfreut. Sie vertreten zum Teil die noch spärlichen Zeitungen, lind bis in den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hat sich die Neiselitteratur einen publizistischen Zug bewahrt —; mau denke an Nikolai. Mit schweren Bänden, wie Küffner sie zu Markte brachte, wird zwar niemand gereist sein; aber wer eine Reise vorhatte, bereitete sich darin vor und trug in der Brieftasche Auszüge davon zum Gebrauch mit sich. So wird sich auch Goethe für seine italienischen Reisen vorbereitet haben. Gerade in den Jahren, die seiner ersten italienischen Reise vorhergingen, hatte die deutsche Litteratur mehrere gute Werke über Italien empfangen. C. G. Jcigcmanns Briefe über Italien (Weimar. 1778 bis 1780) galten für besonders brauchbar. Damals sahen auch West- und Mitteleuropa ihre Straßen und Posteinrich- tuugen sich verbessern, und damit ging Hand in Hand die Herausgabe aus¬ führlicher Verzeichnisse von Postknrsen und Pvstreisekarten, Vorläufern des „Heudschel" und des Neichskursbuches. Einen goldnen Faden der Poesie flocht in diese großenteils ebenso trocknen wie breiten Werke die Romantik; seit des jungen Goethes Lahn- und Rheinreise genossen beschwingte Seelen die Lust des Wanderns, die das wachsende Verständnis für die Natur und die Geschichte der heimatlichen Gefilde, für die Werke der Väter und das Leben des Volkes würzte. Es entstanden bewegte Beschreibungen, mit Dichtungen und Sagen durchflochten, die manchmal nicht sehr praktisch gewesen sein mögen, aber doch mächtig zum Wandern und zugleich zu ernster Erwägung dessen an¬ regen, was sich dein Auge bot. Diese Entwicklung der deutschen Neiselitteratur zeigt uns vielleicht am besten Alohs Schreibers „Anleitung, auf die nützlichste und genußvollste Art deu Rhein von Schaffhausen bis Holland zu bereisen." (Heidelberg, 1816.) Ausführlich, genan, aber mit einer Menge von unnötigen geschichtlichen Notizen, Volkssagen, schwungvollen Schilderungen, etymologischen Versuchen. Das praktische: Posten, Gasthäuser und Ausflüge ist ganz kurz am Schluß jedes Ortes, eigentlich nebensächlich, behandelt. Führer dieser Art haben sich für entlegnere und kleinere Gebiete noch erhalten und werden auch immer neu herausgegeben. Ich erinnere mich, bei meinem ersten Ausflug nach Westengland einen iZossipin^ Ouiclö tbrou^u 'Ug.lgs benutzt zu haben, dessen Praktische Fingerzeige ganz verschwanden in dem Geplauder über dies und jenes, das oft mit dein Gegenstand sehr wenig zu thun hatte. Ich hatte das behäbig-voluminöse Buch in blauer Leinwand ausgewählt, weil ich in ihm die genauesten Mitteilungen über das Land vermutete, das ich bereisen wollte. Aber vor lauter Sagen, Gedichten, Anekdoten und wortreichen Schilderungen, die mit übermäßig vielen Ausrufungszeichen vermischt waren, kam der Ver¬ fasser nicht zu exakten Angaben. Ich mußte an diesen unpraktischen Wort¬ schwall denken, als ich kürzlich in einer englischen Besprechung des letzten Loid^rlgM las: „Baedeker hat keine Seele. Er Null sich in nichts ver¬ sanken, ihn beschäftigt nur der Fahrplan, die Geldbörse und der Magen. Doch in diesen selbstgezognen Grenzen ist er unübertrefflich." Tausendmal lieber

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/245
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/245>, abgerufen am 06.10.2024.