Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen?

geführt ist -- das ist meine Voraussetzung --, dann kann dein Geistlichen,
der sich ihr willig unterstellt -- das ist meine Bedingung --, der Religions-
unterricht getrost übertragen werden. Ja, wenn die katholische Kirche die Be¬
dingung acceptierte, konnte man auch gegen den katholischen Geistlichen als
Religionslehrer nichts einwenden.

Das so hergestellte Verhältnis würde sicherlich der sittlichen Erziehung
des Volks wie dein kirchlichen Leben gleichmäßig zu gute kommen. Ist das
kirchliche Leben für die Leitung der unmündigen Masse von Wert, so bedarf
es heute dringend der Unterstützung und Förderung. Man höre nur die
Klagen der Geistlichen, wie schwer es ihnen wird, die Jngend heranzuziehn;
man würdige ihre ernstlichen Bemühungen in Kinderlehre, Kindergottesdienstcn,
Konfirmnndeimuterricht, Jünglingsvereineu usw. einmal aufrichtig, und man
wird begreifen, wieviel tüchtige pädagogische Kraft in unsrer Kirche steckt und
bisher leider fast verschwendet wird. Die ganze Arbeit des Geistlichen würde
eine festere Grundlage gewinnen, wenn man ihm eine Stelle in der Volks¬
schule anwiese. Ich würde mich mich gar nicht davor scheue", daß vou hier
aus die Kirche wenigstens der Jugend gegenüber durch staatliche Zwangsmittel
gestützt wird. Denn es ist nicht wahr, daß das sittliche Leben überhaupt
keinen Zwang verträgt; was für die Stufen der sittlichen Mündigkeit zweifel¬
los gilt, gilt für die Stufe der Erziehung keineswegs. So würde ich nichts
dagegen einwenden, wenn die Entlassung aus der Schule vom Schulinspektor
und vom Geistlichen ausgesprochen werden müßte. Damit würde auch die
Konfirmationspraxis, an der durch radikale Reformen um einmal nichts zu
ändern ist, erleichtert werden, und wenn man sich zum Verzicht auf die Be-
kenntnisfragen entschließt, ans der Konfirmation eine pädagogisch wertvolle und
sinnreiche Einrichtung gemacht werden können.

Die Zukunft der Kirche wird von ihrem Willen zur Einordnung in ein
großes sozialpädagogisches Gebände abhängen. Noch ist ihr die rein ethische
und pädagogische Aufgabe durch allzuviel Dogmatik und Formelkram verhüllt.
Noch glnnbt auch der Staat die kirchliche Richtung fördern zu müssen, die die
Gehorsamsprobe dem Dogma gegenüber für das Entscheidende hält. Aber die
Pädagogen werden seltner, die durch willkürliche Forderungen den Gehorsam
des Zöglings prüfen und dabei nur seinen Trotz wecken, statt im Namen des sitt¬
lichen Gebots zu fordern. Immer mehr wird sich auch die Kirche auf den reinen
sittlichen Gehalt ihrer Lehre besinnen und ihn pädagogisch zur Geltung bringen.
Dann aber wird das Bündnis zwischen ihr und der Schule eine Notwendig¬
keit und ein Segen sein. Dann wird auch eine Befürwortung des kirchlichen
Einflusses in der Schule nicht sogleich als rückschrittliches oder bildungsfeind¬
liches Unternehmen bekämpft werden können. Freilich wiegen jn derartige
Vorwürfe überhaupt nicht schwer. Der Kampf gegen die sittlich-religiöse Be¬
vormundung der unmündigen Masse kommt immer vou der Seite, wo die
schlecht beratne Unmündigkeit von selbst Unmündigen oder Schwärmern oder
von egoistischen Heuchlern am Narrenseil geführt wird. Statt unser Volk


Grenzbciten I V 1301 30
Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen?

geführt ist — das ist meine Voraussetzung —, dann kann dein Geistlichen,
der sich ihr willig unterstellt — das ist meine Bedingung —, der Religions-
unterricht getrost übertragen werden. Ja, wenn die katholische Kirche die Be¬
dingung acceptierte, konnte man auch gegen den katholischen Geistlichen als
Religionslehrer nichts einwenden.

Das so hergestellte Verhältnis würde sicherlich der sittlichen Erziehung
des Volks wie dein kirchlichen Leben gleichmäßig zu gute kommen. Ist das
kirchliche Leben für die Leitung der unmündigen Masse von Wert, so bedarf
es heute dringend der Unterstützung und Förderung. Man höre nur die
Klagen der Geistlichen, wie schwer es ihnen wird, die Jngend heranzuziehn;
man würdige ihre ernstlichen Bemühungen in Kinderlehre, Kindergottesdienstcn,
Konfirmnndeimuterricht, Jünglingsvereineu usw. einmal aufrichtig, und man
wird begreifen, wieviel tüchtige pädagogische Kraft in unsrer Kirche steckt und
bisher leider fast verschwendet wird. Die ganze Arbeit des Geistlichen würde
eine festere Grundlage gewinnen, wenn man ihm eine Stelle in der Volks¬
schule anwiese. Ich würde mich mich gar nicht davor scheue», daß vou hier
aus die Kirche wenigstens der Jugend gegenüber durch staatliche Zwangsmittel
gestützt wird. Denn es ist nicht wahr, daß das sittliche Leben überhaupt
keinen Zwang verträgt; was für die Stufen der sittlichen Mündigkeit zweifel¬
los gilt, gilt für die Stufe der Erziehung keineswegs. So würde ich nichts
dagegen einwenden, wenn die Entlassung aus der Schule vom Schulinspektor
und vom Geistlichen ausgesprochen werden müßte. Damit würde auch die
Konfirmationspraxis, an der durch radikale Reformen um einmal nichts zu
ändern ist, erleichtert werden, und wenn man sich zum Verzicht auf die Be-
kenntnisfragen entschließt, ans der Konfirmation eine pädagogisch wertvolle und
sinnreiche Einrichtung gemacht werden können.

Die Zukunft der Kirche wird von ihrem Willen zur Einordnung in ein
großes sozialpädagogisches Gebände abhängen. Noch ist ihr die rein ethische
und pädagogische Aufgabe durch allzuviel Dogmatik und Formelkram verhüllt.
Noch glnnbt auch der Staat die kirchliche Richtung fördern zu müssen, die die
Gehorsamsprobe dem Dogma gegenüber für das Entscheidende hält. Aber die
Pädagogen werden seltner, die durch willkürliche Forderungen den Gehorsam
des Zöglings prüfen und dabei nur seinen Trotz wecken, statt im Namen des sitt¬
lichen Gebots zu fordern. Immer mehr wird sich auch die Kirche auf den reinen
sittlichen Gehalt ihrer Lehre besinnen und ihn pädagogisch zur Geltung bringen.
Dann aber wird das Bündnis zwischen ihr und der Schule eine Notwendig¬
keit und ein Segen sein. Dann wird auch eine Befürwortung des kirchlichen
Einflusses in der Schule nicht sogleich als rückschrittliches oder bildungsfeind¬
liches Unternehmen bekämpft werden können. Freilich wiegen jn derartige
Vorwürfe überhaupt nicht schwer. Der Kampf gegen die sittlich-religiöse Be¬
vormundung der unmündigen Masse kommt immer vou der Seite, wo die
schlecht beratne Unmündigkeit von selbst Unmündigen oder Schwärmern oder
von egoistischen Heuchlern am Narrenseil geführt wird. Statt unser Volk


Grenzbciten I V 1301 30
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0241" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/236063"/>
          <fw type="header" place="top"> Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_954" prev="#ID_953"> geführt ist &#x2014; das ist meine Voraussetzung &#x2014;, dann kann dein Geistlichen,<lb/>
der sich ihr willig unterstellt &#x2014; das ist meine Bedingung &#x2014;, der Religions-<lb/>
unterricht getrost übertragen werden. Ja, wenn die katholische Kirche die Be¬<lb/>
dingung acceptierte, konnte man auch gegen den katholischen Geistlichen als<lb/>
Religionslehrer nichts einwenden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_955"> Das so hergestellte Verhältnis würde sicherlich der sittlichen Erziehung<lb/>
des Volks wie dein kirchlichen Leben gleichmäßig zu gute kommen. Ist das<lb/>
kirchliche Leben für die Leitung der unmündigen Masse von Wert, so bedarf<lb/>
es heute dringend der Unterstützung und Förderung. Man höre nur die<lb/>
Klagen der Geistlichen, wie schwer es ihnen wird, die Jngend heranzuziehn;<lb/>
man würdige ihre ernstlichen Bemühungen in Kinderlehre, Kindergottesdienstcn,<lb/>
Konfirmnndeimuterricht, Jünglingsvereineu usw. einmal aufrichtig, und man<lb/>
wird begreifen, wieviel tüchtige pädagogische Kraft in unsrer Kirche steckt und<lb/>
bisher leider fast verschwendet wird. Die ganze Arbeit des Geistlichen würde<lb/>
eine festere Grundlage gewinnen, wenn man ihm eine Stelle in der Volks¬<lb/>
schule anwiese. Ich würde mich mich gar nicht davor scheue», daß vou hier<lb/>
aus die Kirche wenigstens der Jugend gegenüber durch staatliche Zwangsmittel<lb/>
gestützt wird. Denn es ist nicht wahr, daß das sittliche Leben überhaupt<lb/>
keinen Zwang verträgt; was für die Stufen der sittlichen Mündigkeit zweifel¬<lb/>
los gilt, gilt für die Stufe der Erziehung keineswegs. So würde ich nichts<lb/>
dagegen einwenden, wenn die Entlassung aus der Schule vom Schulinspektor<lb/>
und vom Geistlichen ausgesprochen werden müßte. Damit würde auch die<lb/>
Konfirmationspraxis, an der durch radikale Reformen um einmal nichts zu<lb/>
ändern ist, erleichtert werden, und wenn man sich zum Verzicht auf die Be-<lb/>
kenntnisfragen entschließt, ans der Konfirmation eine pädagogisch wertvolle und<lb/>
sinnreiche Einrichtung gemacht werden können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_956" next="#ID_957"> Die Zukunft der Kirche wird von ihrem Willen zur Einordnung in ein<lb/>
großes sozialpädagogisches Gebände abhängen. Noch ist ihr die rein ethische<lb/>
und pädagogische Aufgabe durch allzuviel Dogmatik und Formelkram verhüllt.<lb/>
Noch glnnbt auch der Staat die kirchliche Richtung fördern zu müssen, die die<lb/>
Gehorsamsprobe dem Dogma gegenüber für das Entscheidende hält. Aber die<lb/>
Pädagogen werden seltner, die durch willkürliche Forderungen den Gehorsam<lb/>
des Zöglings prüfen und dabei nur seinen Trotz wecken, statt im Namen des sitt¬<lb/>
lichen Gebots zu fordern. Immer mehr wird sich auch die Kirche auf den reinen<lb/>
sittlichen Gehalt ihrer Lehre besinnen und ihn pädagogisch zur Geltung bringen.<lb/>
Dann aber wird das Bündnis zwischen ihr und der Schule eine Notwendig¬<lb/>
keit und ein Segen sein. Dann wird auch eine Befürwortung des kirchlichen<lb/>
Einflusses in der Schule nicht sogleich als rückschrittliches oder bildungsfeind¬<lb/>
liches Unternehmen bekämpft werden können. Freilich wiegen jn derartige<lb/>
Vorwürfe überhaupt nicht schwer. Der Kampf gegen die sittlich-religiöse Be¬<lb/>
vormundung der unmündigen Masse kommt immer vou der Seite, wo die<lb/>
schlecht beratne Unmündigkeit von selbst Unmündigen oder Schwärmern oder<lb/>
von egoistischen Heuchlern am Narrenseil geführt wird. Statt unser Volk</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbciten I V 1301 30</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0241] Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen? geführt ist — das ist meine Voraussetzung —, dann kann dein Geistlichen, der sich ihr willig unterstellt — das ist meine Bedingung —, der Religions- unterricht getrost übertragen werden. Ja, wenn die katholische Kirche die Be¬ dingung acceptierte, konnte man auch gegen den katholischen Geistlichen als Religionslehrer nichts einwenden. Das so hergestellte Verhältnis würde sicherlich der sittlichen Erziehung des Volks wie dein kirchlichen Leben gleichmäßig zu gute kommen. Ist das kirchliche Leben für die Leitung der unmündigen Masse von Wert, so bedarf es heute dringend der Unterstützung und Förderung. Man höre nur die Klagen der Geistlichen, wie schwer es ihnen wird, die Jngend heranzuziehn; man würdige ihre ernstlichen Bemühungen in Kinderlehre, Kindergottesdienstcn, Konfirmnndeimuterricht, Jünglingsvereineu usw. einmal aufrichtig, und man wird begreifen, wieviel tüchtige pädagogische Kraft in unsrer Kirche steckt und bisher leider fast verschwendet wird. Die ganze Arbeit des Geistlichen würde eine festere Grundlage gewinnen, wenn man ihm eine Stelle in der Volks¬ schule anwiese. Ich würde mich mich gar nicht davor scheue», daß vou hier aus die Kirche wenigstens der Jugend gegenüber durch staatliche Zwangsmittel gestützt wird. Denn es ist nicht wahr, daß das sittliche Leben überhaupt keinen Zwang verträgt; was für die Stufen der sittlichen Mündigkeit zweifel¬ los gilt, gilt für die Stufe der Erziehung keineswegs. So würde ich nichts dagegen einwenden, wenn die Entlassung aus der Schule vom Schulinspektor und vom Geistlichen ausgesprochen werden müßte. Damit würde auch die Konfirmationspraxis, an der durch radikale Reformen um einmal nichts zu ändern ist, erleichtert werden, und wenn man sich zum Verzicht auf die Be- kenntnisfragen entschließt, ans der Konfirmation eine pädagogisch wertvolle und sinnreiche Einrichtung gemacht werden können. Die Zukunft der Kirche wird von ihrem Willen zur Einordnung in ein großes sozialpädagogisches Gebände abhängen. Noch ist ihr die rein ethische und pädagogische Aufgabe durch allzuviel Dogmatik und Formelkram verhüllt. Noch glnnbt auch der Staat die kirchliche Richtung fördern zu müssen, die die Gehorsamsprobe dem Dogma gegenüber für das Entscheidende hält. Aber die Pädagogen werden seltner, die durch willkürliche Forderungen den Gehorsam des Zöglings prüfen und dabei nur seinen Trotz wecken, statt im Namen des sitt¬ lichen Gebots zu fordern. Immer mehr wird sich auch die Kirche auf den reinen sittlichen Gehalt ihrer Lehre besinnen und ihn pädagogisch zur Geltung bringen. Dann aber wird das Bündnis zwischen ihr und der Schule eine Notwendig¬ keit und ein Segen sein. Dann wird auch eine Befürwortung des kirchlichen Einflusses in der Schule nicht sogleich als rückschrittliches oder bildungsfeind¬ liches Unternehmen bekämpft werden können. Freilich wiegen jn derartige Vorwürfe überhaupt nicht schwer. Der Kampf gegen die sittlich-religiöse Be¬ vormundung der unmündigen Masse kommt immer vou der Seite, wo die schlecht beratne Unmündigkeit von selbst Unmündigen oder Schwärmern oder von egoistischen Heuchlern am Narrenseil geführt wird. Statt unser Volk Grenzbciten I V 1301 30

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/241
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/241>, abgerufen am 01.09.2024.