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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen?

pädagogische Losung nicht ausschließend "Erziehung zur Mündigkeit" oder
"Leitung der Unmündigen" lauten; sie muß beide Aufgaben zusammenfassen:
Erziehung zur Mündigkeit und Leitung der Unmündigen.

Natürlich muß die Verbindung beider Grundsätze durch Abgrenzung ihres
Geltungsbereichs ermöglicht werden. Unter grundsätzlicher Anerkennung der
Führerrolle des protestantischen Ideals muß die ergänzende Arbeit der "katho¬
lischen" Pädagogik in bestimmten Grenzen gefordert werden. Sie wird ihre
eigenste Domäne immer behalten in der kirchlichen Leitung der erwachsenen
Unmündigen. Dieser Leitung, die eine weitere Erziehung nicht ausschließen
darf, muß auch die aus der Schule entlassene Jugend im wesentlichen an¬
vertraut werden. Der Wert des Fortbildungsuuterrichts soll gewiß nicht ge¬
leugnet werden, aber wo er nicht auf ganz intensives Bildungsstreben stoßt,
wird er, solange eine Ausdehnung der vollen Erziehungsgewalt bis zum acht¬
zehnten Jahre unmöglich ist, das Ziel der geistigen Mündigkeit schwerlich
ganz erreichen, ganz abgesehen davon, daß dieses Ziel einer großen Anzahl
dauernd unerreichbar bleibt. Die führerlose Herde ist auf den geistlichen Hirten
angewiesen, und der Staat soll es der Kirche Dank wissen, daß sie das Hirten¬
amt um den Seelen der noch oder dauernd Unmündigen versieht.

Es kann ihm dabei an sich gleichgiltig sein, welche der beiden Kirchen, die
katholische oder die evangelische, die Bevormundung übernimmt. Nur muß er als
die sittliche Gemeinschaft c^x^ das Hoheits- und Aufsichtsrechr gegen¬
über den seinen Kreis berührenden Gemeinschaften geltend machen. Er muß
sich ferner, ob er nun protestantischer Staat ist oder nicht, auf Grund der in
ihm herrschenden sittlichem Idee zu der Herrschaft des protestantischen Ideals
der geistigen Mündigkeit als der Grundlage aller Sittlichkeit überhaupt be¬
kennen. In beiden Richtungen wird er auf den Widerspruch der katholischen
Lehre stoßen, und darum kann das Verhältnis zwischen Staat und römischer
Kirche nur von Fall zu Fall vertragsmäßig geregelt werden; es ist nach dein
Willen des jesuitisch geleiteten Papsttums mit seiner schroffen Ablehnung eines
Zugeständnisses an die protestantische Idee und mit seinem Haß gegen das
protestantische Germanentum -- beides dürfte freilich, wie die Los-Von-Nom-
bewegung zeigt, auf die Dauer Rom teuer zu stehn kommen -- leider kaum,
mehr als ein Waffenstillstand. Der Staat darf mithin die Arbeit dieser Kirche,
so sehr er sie in gewissem Sinne schützen mag, nur bedingungsweise unter¬
stützen und muß römischer Herrschsucht und römischem Obskurantismus gegen¬
über zwiefach auf der Hut sein.

Die Aufgabe der sogenannten katholischen Bevormundung zu übernehmen,
denkt übrigens die evangelische Kirche katholisch genug. Der Staat kann die
Dienste dieser Kirche, die nichts sein will als Dienerin der Seelen und des
Staats, nicht hoch genug einschätzen und nicht wirksam genug fördern. Sie
ordnet sich prinzipiell in die Staatsgemeinschaft ein und läßt der protestan¬
tischen Idee der Geistesfreiheit, wo immer sie Boden findet, genügend Raum.
Freilich auch in ihr regen sich Bestrebungen nach Lösung des Verhältnisses


Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen?

pädagogische Losung nicht ausschließend „Erziehung zur Mündigkeit" oder
„Leitung der Unmündigen" lauten; sie muß beide Aufgaben zusammenfassen:
Erziehung zur Mündigkeit und Leitung der Unmündigen.

Natürlich muß die Verbindung beider Grundsätze durch Abgrenzung ihres
Geltungsbereichs ermöglicht werden. Unter grundsätzlicher Anerkennung der
Führerrolle des protestantischen Ideals muß die ergänzende Arbeit der „katho¬
lischen" Pädagogik in bestimmten Grenzen gefordert werden. Sie wird ihre
eigenste Domäne immer behalten in der kirchlichen Leitung der erwachsenen
Unmündigen. Dieser Leitung, die eine weitere Erziehung nicht ausschließen
darf, muß auch die aus der Schule entlassene Jugend im wesentlichen an¬
vertraut werden. Der Wert des Fortbildungsuuterrichts soll gewiß nicht ge¬
leugnet werden, aber wo er nicht auf ganz intensives Bildungsstreben stoßt,
wird er, solange eine Ausdehnung der vollen Erziehungsgewalt bis zum acht¬
zehnten Jahre unmöglich ist, das Ziel der geistigen Mündigkeit schwerlich
ganz erreichen, ganz abgesehen davon, daß dieses Ziel einer großen Anzahl
dauernd unerreichbar bleibt. Die führerlose Herde ist auf den geistlichen Hirten
angewiesen, und der Staat soll es der Kirche Dank wissen, daß sie das Hirten¬
amt um den Seelen der noch oder dauernd Unmündigen versieht.

Es kann ihm dabei an sich gleichgiltig sein, welche der beiden Kirchen, die
katholische oder die evangelische, die Bevormundung übernimmt. Nur muß er als
die sittliche Gemeinschaft c^x^ das Hoheits- und Aufsichtsrechr gegen¬
über den seinen Kreis berührenden Gemeinschaften geltend machen. Er muß
sich ferner, ob er nun protestantischer Staat ist oder nicht, auf Grund der in
ihm herrschenden sittlichem Idee zu der Herrschaft des protestantischen Ideals
der geistigen Mündigkeit als der Grundlage aller Sittlichkeit überhaupt be¬
kennen. In beiden Richtungen wird er auf den Widerspruch der katholischen
Lehre stoßen, und darum kann das Verhältnis zwischen Staat und römischer
Kirche nur von Fall zu Fall vertragsmäßig geregelt werden; es ist nach dein
Willen des jesuitisch geleiteten Papsttums mit seiner schroffen Ablehnung eines
Zugeständnisses an die protestantische Idee und mit seinem Haß gegen das
protestantische Germanentum — beides dürfte freilich, wie die Los-Von-Nom-
bewegung zeigt, auf die Dauer Rom teuer zu stehn kommen — leider kaum,
mehr als ein Waffenstillstand. Der Staat darf mithin die Arbeit dieser Kirche,
so sehr er sie in gewissem Sinne schützen mag, nur bedingungsweise unter¬
stützen und muß römischer Herrschsucht und römischem Obskurantismus gegen¬
über zwiefach auf der Hut sein.

Die Aufgabe der sogenannten katholischen Bevormundung zu übernehmen,
denkt übrigens die evangelische Kirche katholisch genug. Der Staat kann die
Dienste dieser Kirche, die nichts sein will als Dienerin der Seelen und des
Staats, nicht hoch genug einschätzen und nicht wirksam genug fördern. Sie
ordnet sich prinzipiell in die Staatsgemeinschaft ein und läßt der protestan¬
tischen Idee der Geistesfreiheit, wo immer sie Boden findet, genügend Raum.
Freilich auch in ihr regen sich Bestrebungen nach Lösung des Verhältnisses


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[0238] Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen? pädagogische Losung nicht ausschließend „Erziehung zur Mündigkeit" oder „Leitung der Unmündigen" lauten; sie muß beide Aufgaben zusammenfassen: Erziehung zur Mündigkeit und Leitung der Unmündigen. Natürlich muß die Verbindung beider Grundsätze durch Abgrenzung ihres Geltungsbereichs ermöglicht werden. Unter grundsätzlicher Anerkennung der Führerrolle des protestantischen Ideals muß die ergänzende Arbeit der „katho¬ lischen" Pädagogik in bestimmten Grenzen gefordert werden. Sie wird ihre eigenste Domäne immer behalten in der kirchlichen Leitung der erwachsenen Unmündigen. Dieser Leitung, die eine weitere Erziehung nicht ausschließen darf, muß auch die aus der Schule entlassene Jugend im wesentlichen an¬ vertraut werden. Der Wert des Fortbildungsuuterrichts soll gewiß nicht ge¬ leugnet werden, aber wo er nicht auf ganz intensives Bildungsstreben stoßt, wird er, solange eine Ausdehnung der vollen Erziehungsgewalt bis zum acht¬ zehnten Jahre unmöglich ist, das Ziel der geistigen Mündigkeit schwerlich ganz erreichen, ganz abgesehen davon, daß dieses Ziel einer großen Anzahl dauernd unerreichbar bleibt. Die führerlose Herde ist auf den geistlichen Hirten angewiesen, und der Staat soll es der Kirche Dank wissen, daß sie das Hirten¬ amt um den Seelen der noch oder dauernd Unmündigen versieht. Es kann ihm dabei an sich gleichgiltig sein, welche der beiden Kirchen, die katholische oder die evangelische, die Bevormundung übernimmt. Nur muß er als die sittliche Gemeinschaft c^x^ das Hoheits- und Aufsichtsrechr gegen¬ über den seinen Kreis berührenden Gemeinschaften geltend machen. Er muß sich ferner, ob er nun protestantischer Staat ist oder nicht, auf Grund der in ihm herrschenden sittlichem Idee zu der Herrschaft des protestantischen Ideals der geistigen Mündigkeit als der Grundlage aller Sittlichkeit überhaupt be¬ kennen. In beiden Richtungen wird er auf den Widerspruch der katholischen Lehre stoßen, und darum kann das Verhältnis zwischen Staat und römischer Kirche nur von Fall zu Fall vertragsmäßig geregelt werden; es ist nach dein Willen des jesuitisch geleiteten Papsttums mit seiner schroffen Ablehnung eines Zugeständnisses an die protestantische Idee und mit seinem Haß gegen das protestantische Germanentum — beides dürfte freilich, wie die Los-Von-Nom- bewegung zeigt, auf die Dauer Rom teuer zu stehn kommen — leider kaum, mehr als ein Waffenstillstand. Der Staat darf mithin die Arbeit dieser Kirche, so sehr er sie in gewissem Sinne schützen mag, nur bedingungsweise unter¬ stützen und muß römischer Herrschsucht und römischem Obskurantismus gegen¬ über zwiefach auf der Hut sein. Die Aufgabe der sogenannten katholischen Bevormundung zu übernehmen, denkt übrigens die evangelische Kirche katholisch genug. Der Staat kann die Dienste dieser Kirche, die nichts sein will als Dienerin der Seelen und des Staats, nicht hoch genug einschätzen und nicht wirksam genug fördern. Sie ordnet sich prinzipiell in die Staatsgemeinschaft ein und läßt der protestan¬ tischen Idee der Geistesfreiheit, wo immer sie Boden findet, genügend Raum. Freilich auch in ihr regen sich Bestrebungen nach Lösung des Verhältnisses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/238>, abgerufen am 01.09.2024.