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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Mont Se. Michel und der Michaelskultus

manche andre Partien der Dichtung werden sicherlich deren Ruhm bewahren,
wenn die Kalevala als Ganzes auch nicht den übertriebnen Lobeserhebungen
entspricht, mit denen man sie einst überhäufte.

Wenn Lönnrot auch, wie nun erwiesen ist, mit der Kalevaladichtmig sein
Volk mystifiziert hat, so hat er sich andrerseits dnrch dieses Werk um seine
Stammesgenossen unsterbliche Verdienste erworben; denu durch ihn wurde das
finnische Volk seiner Nationalität wieder bewußt; durch ihn wurde es zur
Pflege der Muttersprache und der altfinnische" Poesie veranlaßt, und durch
ihn erst erhielt die finnische Poesie ihren berechtigten und bedeutsamen Platz
in der Weltliteratur.




Mont 5>t. Michel und der Michaelskultus
(Schluß)

in das neunte bis elfte Jahrhundert fällt die große Allsdehnung
der religiöse" Orden. Auf die Erschließung der von ihnen be¬
setzten Gebiete für die Kultur bedacht, hatten sie zuviel mit
diesen praktischen Fragen zu thu", als daß sie prächtige.Klöster
!und Kirche" hätten gründen können. Ihre Arbeit und die sich
mehrenden Schenkungen von Fürsten, die ihren heilsamen Einfluß ausdehnen
wollten, erhöhten ihren Reichtum. Er wuchs in der Zeit der Kreuzzüge,
und die häufige Berührung mit den künstlerisch höher stehenden Gebieten
des Orients machte, daß die reichern Mittel für reichere Ausschmückung ver¬
wandt wurden. Die Benediktiner verbanden das Nützliche mit dem Schönen.
"Ihre Bauten, sagt Viollet Le Duc, waren dauerhaft, dem Zweck wohl an¬
gepaßt und trotzdem voll Anmut, und fern davou, ihnen einen abstoßenden
Anblick zu geben oder sie mit falsche" Ornamenten und trügerischen Dekora¬
tionen zu überlade", wirkten fie derart, daß ihre Schulen, Klöster und Kirchen
künstlerische Erinnerungen hinterließen, die im Geiste der Bevölkerung Frucht
bringen mußten -- sie wußten, daß die uur moralische Unterweisung nur für
auserlesene Geister paßt. Cluny hatte diese Aufgabe wohl verstanden: seine
Monumente, seule Kirchen waren ein offnes Buch für die Menge; die Skulp¬
turen und Malereien, mit denen es seine Thüren, die Friese nud Kapitale
schmückte, und die die heiligen Geschichten, die populären Legenden, die Be¬
strafung der Bösen und die Belohnung der Guten darstellte, zogen sicher mehr
die Aufmerksamkeit der Menge an als die begeisterten Predigten des heiligen
Bernhard." We"n dieser die plastischen Künste als barbarische Deutung der
heiligen Texte auffaßte, so stellte er sich über seine Zeit und zerriß die Bücher
des Volks. Hätte man ans sie verzichtet, so hätte der mönchische Orden eines


Mont Se. Michel und der Michaelskultus

manche andre Partien der Dichtung werden sicherlich deren Ruhm bewahren,
wenn die Kalevala als Ganzes auch nicht den übertriebnen Lobeserhebungen
entspricht, mit denen man sie einst überhäufte.

Wenn Lönnrot auch, wie nun erwiesen ist, mit der Kalevaladichtmig sein
Volk mystifiziert hat, so hat er sich andrerseits dnrch dieses Werk um seine
Stammesgenossen unsterbliche Verdienste erworben; denu durch ihn wurde das
finnische Volk seiner Nationalität wieder bewußt; durch ihn wurde es zur
Pflege der Muttersprache und der altfinnische» Poesie veranlaßt, und durch
ihn erst erhielt die finnische Poesie ihren berechtigten und bedeutsamen Platz
in der Weltliteratur.




Mont 5>t. Michel und der Michaelskultus
(Schluß)

in das neunte bis elfte Jahrhundert fällt die große Allsdehnung
der religiöse» Orden. Auf die Erschließung der von ihnen be¬
setzten Gebiete für die Kultur bedacht, hatten sie zuviel mit
diesen praktischen Fragen zu thu», als daß sie prächtige.Klöster
!und Kirche» hätten gründen können. Ihre Arbeit und die sich
mehrenden Schenkungen von Fürsten, die ihren heilsamen Einfluß ausdehnen
wollten, erhöhten ihren Reichtum. Er wuchs in der Zeit der Kreuzzüge,
und die häufige Berührung mit den künstlerisch höher stehenden Gebieten
des Orients machte, daß die reichern Mittel für reichere Ausschmückung ver¬
wandt wurden. Die Benediktiner verbanden das Nützliche mit dem Schönen.
„Ihre Bauten, sagt Viollet Le Duc, waren dauerhaft, dem Zweck wohl an¬
gepaßt und trotzdem voll Anmut, und fern davou, ihnen einen abstoßenden
Anblick zu geben oder sie mit falsche» Ornamenten und trügerischen Dekora¬
tionen zu überlade», wirkten fie derart, daß ihre Schulen, Klöster und Kirchen
künstlerische Erinnerungen hinterließen, die im Geiste der Bevölkerung Frucht
bringen mußten — sie wußten, daß die uur moralische Unterweisung nur für
auserlesene Geister paßt. Cluny hatte diese Aufgabe wohl verstanden: seine
Monumente, seule Kirchen waren ein offnes Buch für die Menge; die Skulp¬
turen und Malereien, mit denen es seine Thüren, die Friese nud Kapitale
schmückte, und die die heiligen Geschichten, die populären Legenden, die Be¬
strafung der Bösen und die Belohnung der Guten darstellte, zogen sicher mehr
die Aufmerksamkeit der Menge an als die begeisterten Predigten des heiligen
Bernhard." We»n dieser die plastischen Künste als barbarische Deutung der
heiligen Texte auffaßte, so stellte er sich über seine Zeit und zerriß die Bücher
des Volks. Hätte man ans sie verzichtet, so hätte der mönchische Orden eines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/197>, abgerufen am 13.11.2024.