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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen?

Tags entbehrlich. Aber es steht nicht immer so. Der Blinde bedarf der
Führung nicht für eine gewisse Strecke oder auf gewisse Zeit; er kann sie
niemals entbehren. Das Zugtier bedarf der Leitung des Treibers, solange
es eine bestimmte Richtung einhalten soll. Es giebt also eine Führung, die
niemals überflüssig wird; es ist die Führung des dauernd oder seinem Wesen
nach Uuselbstäudigen. Giebt es Menschen, die ihrer innern Natur zufolge oder
sonst irgendwie dauernd in geistiger Unselbständigkeit verharren, geistig un-
mündig bleibe", so ist die Leitung für sie überhaupt unentbehrlich: die päda¬
gogische Aufgabe als geistige Bevormundung und Führung ist ihnen gegenüber
niemals abgeschlossen, sie ist unbegrenzt.

Hier stehn sich nnn in der That protestantische und katholische Pädagogik
in schroffem Gegensatz gegenüber. Jene stellt sich eine begrenzte Aufgabe;
diese kennt keine solche Begrenzung. Jene Null durch ihre Führung zu selb¬
ständigem Weitergehn befähigen, zur Freiheit und Selbständigkeit erziehn; diese
hält die Masse für unfähig zur Freiheit, thatsächlich oder notwendig unmündig
und null ihr dauernd Führer- oder Hirteudienste leisten. Man sieht: hier
stehn sich nicht nur zwei verschiedene pädagogische Ansichten, hier stehn sich
zwei Weltanschauungen gegenüber. Der Blick der einen ist einem idealen Ziel
zugewandt, der der andern haftet an dem realen Abstand von dem in unend¬
licher Ferne verschwimmenden Ziel; dort ein unbeirrbarer Optimismus, der in
die Entwicklungsfähigkeit des Menschen unbegrenztes Vertrauen setzt, hier eine
Pessimistische Skepsis, die die menschliche lwznlänglichkeit kennt und würdigt,
ihr wenig zutraut und ihr darum anch nicht zuviel auf einmal zumutet. Auf
der einen Seite das demokratische Evangelium von der Wesensgleichheit der
Menschen, die Forderung der Freiheit für alle im Namen der Gerechtig¬
keit, auf der andern Seite die aristokratische Überzeugung von der Rangord-
nung der Geister, ein gewisses "Pathos der Distance," wenn anch ein gut¬
mütiges, gepaart nicht mit Menschenverachtung, sondern mit Menschenliebe
und Brndersinn.

Das Wesen der Jugenderziehung wird notwendig verschieden beurteilt
nach der Verschiedenheit der Auffassung von der Entwicklung oder der Er¬
ziehung des Menschengeschlechts überhaupt. Wo die Erziehung als Selbst¬
zweck gedacht wird, da erscheint sie natürlich in einem größern, über das Gebiet
der Jugenderziehung hinausragenden Maßstabe. Diese ist in einen weitern
Plan eingeordnet, innerhalb dessen die Erziehung überhaupt als das unendlich
Wertvolle, als unbegrenzte Aufgabe gilt. Die Kulturmenschheit ist nach dieser
Anschauung aufgewachsen und groß geworden unter der treuen Obhut und
Leitung ihrer Lehrer, der Propheten und der Priester. Aus kindlichen und
halbtierischen Anfängen ist sie durch ihre mütterliche Führerin, die Kirche, zu
feinerer Bildung und reinerer Sitte emporgehoben worden. In das Dunkel
der heidnischen Barbarenwelt und in die Finsternis der gottabgewandten Herzen
haben die vou Gott erleuchteten Diener der Kirche Licht gebracht. Nur all-


Grenzbow, IV 1901 ^
Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen?

Tags entbehrlich. Aber es steht nicht immer so. Der Blinde bedarf der
Führung nicht für eine gewisse Strecke oder auf gewisse Zeit; er kann sie
niemals entbehren. Das Zugtier bedarf der Leitung des Treibers, solange
es eine bestimmte Richtung einhalten soll. Es giebt also eine Führung, die
niemals überflüssig wird; es ist die Führung des dauernd oder seinem Wesen
nach Uuselbstäudigen. Giebt es Menschen, die ihrer innern Natur zufolge oder
sonst irgendwie dauernd in geistiger Unselbständigkeit verharren, geistig un-
mündig bleibe», so ist die Leitung für sie überhaupt unentbehrlich: die päda¬
gogische Aufgabe als geistige Bevormundung und Führung ist ihnen gegenüber
niemals abgeschlossen, sie ist unbegrenzt.

Hier stehn sich nnn in der That protestantische und katholische Pädagogik
in schroffem Gegensatz gegenüber. Jene stellt sich eine begrenzte Aufgabe;
diese kennt keine solche Begrenzung. Jene Null durch ihre Führung zu selb¬
ständigem Weitergehn befähigen, zur Freiheit und Selbständigkeit erziehn; diese
hält die Masse für unfähig zur Freiheit, thatsächlich oder notwendig unmündig
und null ihr dauernd Führer- oder Hirteudienste leisten. Man sieht: hier
stehn sich nicht nur zwei verschiedene pädagogische Ansichten, hier stehn sich
zwei Weltanschauungen gegenüber. Der Blick der einen ist einem idealen Ziel
zugewandt, der der andern haftet an dem realen Abstand von dem in unend¬
licher Ferne verschwimmenden Ziel; dort ein unbeirrbarer Optimismus, der in
die Entwicklungsfähigkeit des Menschen unbegrenztes Vertrauen setzt, hier eine
Pessimistische Skepsis, die die menschliche lwznlänglichkeit kennt und würdigt,
ihr wenig zutraut und ihr darum anch nicht zuviel auf einmal zumutet. Auf
der einen Seite das demokratische Evangelium von der Wesensgleichheit der
Menschen, die Forderung der Freiheit für alle im Namen der Gerechtig¬
keit, auf der andern Seite die aristokratische Überzeugung von der Rangord-
nung der Geister, ein gewisses „Pathos der Distance," wenn anch ein gut¬
mütiges, gepaart nicht mit Menschenverachtung, sondern mit Menschenliebe
und Brndersinn.

Das Wesen der Jugenderziehung wird notwendig verschieden beurteilt
nach der Verschiedenheit der Auffassung von der Entwicklung oder der Er¬
ziehung des Menschengeschlechts überhaupt. Wo die Erziehung als Selbst¬
zweck gedacht wird, da erscheint sie natürlich in einem größern, über das Gebiet
der Jugenderziehung hinausragenden Maßstabe. Diese ist in einen weitern
Plan eingeordnet, innerhalb dessen die Erziehung überhaupt als das unendlich
Wertvolle, als unbegrenzte Aufgabe gilt. Die Kulturmenschheit ist nach dieser
Anschauung aufgewachsen und groß geworden unter der treuen Obhut und
Leitung ihrer Lehrer, der Propheten und der Priester. Aus kindlichen und
halbtierischen Anfängen ist sie durch ihre mütterliche Führerin, die Kirche, zu
feinerer Bildung und reinerer Sitte emporgehoben worden. In das Dunkel
der heidnischen Barbarenwelt und in die Finsternis der gottabgewandten Herzen
haben die vou Gott erleuchteten Diener der Kirche Licht gebracht. Nur all-


Grenzbow, IV 1901 ^
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[0185] Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen? Tags entbehrlich. Aber es steht nicht immer so. Der Blinde bedarf der Führung nicht für eine gewisse Strecke oder auf gewisse Zeit; er kann sie niemals entbehren. Das Zugtier bedarf der Leitung des Treibers, solange es eine bestimmte Richtung einhalten soll. Es giebt also eine Führung, die niemals überflüssig wird; es ist die Führung des dauernd oder seinem Wesen nach Uuselbstäudigen. Giebt es Menschen, die ihrer innern Natur zufolge oder sonst irgendwie dauernd in geistiger Unselbständigkeit verharren, geistig un- mündig bleibe», so ist die Leitung für sie überhaupt unentbehrlich: die päda¬ gogische Aufgabe als geistige Bevormundung und Führung ist ihnen gegenüber niemals abgeschlossen, sie ist unbegrenzt. Hier stehn sich nnn in der That protestantische und katholische Pädagogik in schroffem Gegensatz gegenüber. Jene stellt sich eine begrenzte Aufgabe; diese kennt keine solche Begrenzung. Jene Null durch ihre Führung zu selb¬ ständigem Weitergehn befähigen, zur Freiheit und Selbständigkeit erziehn; diese hält die Masse für unfähig zur Freiheit, thatsächlich oder notwendig unmündig und null ihr dauernd Führer- oder Hirteudienste leisten. Man sieht: hier stehn sich nicht nur zwei verschiedene pädagogische Ansichten, hier stehn sich zwei Weltanschauungen gegenüber. Der Blick der einen ist einem idealen Ziel zugewandt, der der andern haftet an dem realen Abstand von dem in unend¬ licher Ferne verschwimmenden Ziel; dort ein unbeirrbarer Optimismus, der in die Entwicklungsfähigkeit des Menschen unbegrenztes Vertrauen setzt, hier eine Pessimistische Skepsis, die die menschliche lwznlänglichkeit kennt und würdigt, ihr wenig zutraut und ihr darum anch nicht zuviel auf einmal zumutet. Auf der einen Seite das demokratische Evangelium von der Wesensgleichheit der Menschen, die Forderung der Freiheit für alle im Namen der Gerechtig¬ keit, auf der andern Seite die aristokratische Überzeugung von der Rangord- nung der Geister, ein gewisses „Pathos der Distance," wenn anch ein gut¬ mütiges, gepaart nicht mit Menschenverachtung, sondern mit Menschenliebe und Brndersinn. Das Wesen der Jugenderziehung wird notwendig verschieden beurteilt nach der Verschiedenheit der Auffassung von der Entwicklung oder der Er¬ ziehung des Menschengeschlechts überhaupt. Wo die Erziehung als Selbst¬ zweck gedacht wird, da erscheint sie natürlich in einem größern, über das Gebiet der Jugenderziehung hinausragenden Maßstabe. Diese ist in einen weitern Plan eingeordnet, innerhalb dessen die Erziehung überhaupt als das unendlich Wertvolle, als unbegrenzte Aufgabe gilt. Die Kulturmenschheit ist nach dieser Anschauung aufgewachsen und groß geworden unter der treuen Obhut und Leitung ihrer Lehrer, der Propheten und der Priester. Aus kindlichen und halbtierischen Anfängen ist sie durch ihre mütterliche Führerin, die Kirche, zu feinerer Bildung und reinerer Sitte emporgehoben worden. In das Dunkel der heidnischen Barbarenwelt und in die Finsternis der gottabgewandten Herzen haben die vou Gott erleuchteten Diener der Kirche Licht gebracht. Nur all- Grenzbow, IV 1901 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/185>, abgerufen am 28.07.2024.