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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung
der Unmündigen? Gelo Stock Sozialpädagogische Betrachtungen von

^Mi>le Pädagogik steht bei den Laien ohne Zweifel in Mißkredit.
Sie gilt den meisten schlechthin für das Gebiet des begrenzten
Horizonts, der Enge und Engherzigkeit, des Kleinlichen und
Langweiligen. Fast immer wird dieses Urteil zurückgehn ans die
I passive Bekanntschaft mit der Pädagogik in der Zeit der eignen
jugendlichen Unfertigkeit und Enge des Horizonts, in die sie eindringen mußte.
Wenn es wahr ist, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt werden kann, wie
sollte die Jngend der Pädagogik und den Pädagogen gerecht werden können?
Zum Unglück lernt dann wohl der Erwachsene noch ein paar wirklich lang¬
weilige Pädagogen kennen, und damit wird er seine Ansicht liber die Pädagogik
meistens für thatsächlich gesichert halten.

Und doch giebt es kaum ein Gelnet, das in so unmittelbarem Zusammen¬
hang mit dem großen Strom der Kultur steht wie das der Erziehung und des
Unterrichts. Nirgends offenbaren sich geistige Bewegungen und Gegensätze
schärfer als hier. Wie in einer Konvexlinse werden hier alle Strahlen des
Geisteslebens gesammelt und zu einem scharf umrissenen Miniaturbild der ge¬
gebnen Kulturlage vereinigt. So zeigt sich der vorherrschend materielle Sinn
unsrer Zeit in der Übermacht des pädagogischen Realismus, und in den Be¬
strebungen nach Einheitsschulen und Schuleinheit steckt ohne Frage ein gewisser
sozialistischer Zug. Es giebt kaum eine Erscheinung des öffentlichen Lebens,
kaum eine Regung der Volksseele, die auf dem pädagogischen Gebiet nicht
irgendwie Nebentöne und Nachklänge weckte.

Kein Wunder! Alles geistige Leben will Unsterblichkeit. sichrer aber als
Pergament und Leinwand, als Stein und Erz bewahrt die Menschenseele die
Schriftzüge, die sie einmal aufgenommen hat, und überliefert sie als unverlier¬
bares Erbe der Nachwelt. Daher das Werben um die Jngend, der Kampf
um die Schule, wobei die Parteien des Tages um ihre Zukunft, die großen
Gegensätze des Menschenlebens aber fortwährend um eine Neuregelung ihres
Machtverhältnisses und Neuordnung ihres Besitzstandes ringen. So spiegelt
sich schließlich in diesem Kampf nicht nur die gegenwärtige Kultur, sondern
zugleich das Streben und Ringen der Menschenseele überhaupt mit all seinen
Widersprüchen und Unklarheiten; und dem sehenden Auge eröffnen sich von




Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung
der Unmündigen? Gelo Stock Sozialpädagogische Betrachtungen von

^Mi>le Pädagogik steht bei den Laien ohne Zweifel in Mißkredit.
Sie gilt den meisten schlechthin für das Gebiet des begrenzten
Horizonts, der Enge und Engherzigkeit, des Kleinlichen und
Langweiligen. Fast immer wird dieses Urteil zurückgehn ans die
I passive Bekanntschaft mit der Pädagogik in der Zeit der eignen
jugendlichen Unfertigkeit und Enge des Horizonts, in die sie eindringen mußte.
Wenn es wahr ist, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt werden kann, wie
sollte die Jngend der Pädagogik und den Pädagogen gerecht werden können?
Zum Unglück lernt dann wohl der Erwachsene noch ein paar wirklich lang¬
weilige Pädagogen kennen, und damit wird er seine Ansicht liber die Pädagogik
meistens für thatsächlich gesichert halten.

Und doch giebt es kaum ein Gelnet, das in so unmittelbarem Zusammen¬
hang mit dem großen Strom der Kultur steht wie das der Erziehung und des
Unterrichts. Nirgends offenbaren sich geistige Bewegungen und Gegensätze
schärfer als hier. Wie in einer Konvexlinse werden hier alle Strahlen des
Geisteslebens gesammelt und zu einem scharf umrissenen Miniaturbild der ge¬
gebnen Kulturlage vereinigt. So zeigt sich der vorherrschend materielle Sinn
unsrer Zeit in der Übermacht des pädagogischen Realismus, und in den Be¬
strebungen nach Einheitsschulen und Schuleinheit steckt ohne Frage ein gewisser
sozialistischer Zug. Es giebt kaum eine Erscheinung des öffentlichen Lebens,
kaum eine Regung der Volksseele, die auf dem pädagogischen Gebiet nicht
irgendwie Nebentöne und Nachklänge weckte.

Kein Wunder! Alles geistige Leben will Unsterblichkeit. sichrer aber als
Pergament und Leinwand, als Stein und Erz bewahrt die Menschenseele die
Schriftzüge, die sie einmal aufgenommen hat, und überliefert sie als unverlier¬
bares Erbe der Nachwelt. Daher das Werben um die Jngend, der Kampf
um die Schule, wobei die Parteien des Tages um ihre Zukunft, die großen
Gegensätze des Menschenlebens aber fortwährend um eine Neuregelung ihres
Machtverhältnisses und Neuordnung ihres Besitzstandes ringen. So spiegelt
sich schließlich in diesem Kampf nicht nur die gegenwärtige Kultur, sondern
zugleich das Streben und Ringen der Menschenseele überhaupt mit all seinen
Widersprüchen und Unklarheiten; und dem sehenden Auge eröffnen sich von


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[0182] [Abbildung] Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen? Gelo Stock Sozialpädagogische Betrachtungen von ^Mi>le Pädagogik steht bei den Laien ohne Zweifel in Mißkredit. Sie gilt den meisten schlechthin für das Gebiet des begrenzten Horizonts, der Enge und Engherzigkeit, des Kleinlichen und Langweiligen. Fast immer wird dieses Urteil zurückgehn ans die I passive Bekanntschaft mit der Pädagogik in der Zeit der eignen jugendlichen Unfertigkeit und Enge des Horizonts, in die sie eindringen mußte. Wenn es wahr ist, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt werden kann, wie sollte die Jngend der Pädagogik und den Pädagogen gerecht werden können? Zum Unglück lernt dann wohl der Erwachsene noch ein paar wirklich lang¬ weilige Pädagogen kennen, und damit wird er seine Ansicht liber die Pädagogik meistens für thatsächlich gesichert halten. Und doch giebt es kaum ein Gelnet, das in so unmittelbarem Zusammen¬ hang mit dem großen Strom der Kultur steht wie das der Erziehung und des Unterrichts. Nirgends offenbaren sich geistige Bewegungen und Gegensätze schärfer als hier. Wie in einer Konvexlinse werden hier alle Strahlen des Geisteslebens gesammelt und zu einem scharf umrissenen Miniaturbild der ge¬ gebnen Kulturlage vereinigt. So zeigt sich der vorherrschend materielle Sinn unsrer Zeit in der Übermacht des pädagogischen Realismus, und in den Be¬ strebungen nach Einheitsschulen und Schuleinheit steckt ohne Frage ein gewisser sozialistischer Zug. Es giebt kaum eine Erscheinung des öffentlichen Lebens, kaum eine Regung der Volksseele, die auf dem pädagogischen Gebiet nicht irgendwie Nebentöne und Nachklänge weckte. Kein Wunder! Alles geistige Leben will Unsterblichkeit. sichrer aber als Pergament und Leinwand, als Stein und Erz bewahrt die Menschenseele die Schriftzüge, die sie einmal aufgenommen hat, und überliefert sie als unverlier¬ bares Erbe der Nachwelt. Daher das Werben um die Jngend, der Kampf um die Schule, wobei die Parteien des Tages um ihre Zukunft, die großen Gegensätze des Menschenlebens aber fortwährend um eine Neuregelung ihres Machtverhältnisses und Neuordnung ihres Besitzstandes ringen. So spiegelt sich schließlich in diesem Kampf nicht nur die gegenwärtige Kultur, sondern zugleich das Streben und Ringen der Menschenseele überhaupt mit all seinen Widersprüchen und Unklarheiten; und dem sehenden Auge eröffnen sich von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/182>, abgerufen am 13.11.2024.