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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Ganz anders arteten in Frankreich die Pilgerfnhrteir aus. Dort bildeten
sich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in den Nachbargebietcn von
Mont Se. Michel besondre ooiupirg'niLs, die prunkvoll einHerzogen. Die von
Calvados und Orne, in der Stärke von etwa 500 Mann, waren meist gut
beritten. Sie standen nnter einem "König," dessen Haupt eine Silberkrone
trug. In prunkenden Aufputz, oft nnter Trommelschlag, zogen sie durch die
Lande, mehr Maskenzügen ähnlich und wohl auch mehr zur Belustigung unter¬
nommen als zum Dienst des heiligen Michael.

Der Dienst des Erzengels tritt überhaupt zurück seit der Regierung
Ludwigs XI. Dieser Monarch soll dem Berge eine neue Bestimmung gegeben
haben. Schon früher waren für widerspenstige Mönche oder "solche, deren
Leben wenig erlmulich war," Bußzelleu gebaut worden, tief unter der Abtei in
den Felsen gehauen und uur durch finstere Gänge erreichbar. Auf Ludwig XI.
wird die Verwendung des Berges als Stantsgefängnis für politische Ver¬
brecher zurückgeführt. Wege" Verrath seines Herrn an Karl den Kühnen soll
dort der Kardinal Balue, sein Werkzeug, den er vom armen Priester zum
einflußreichsten Mann des Königreichs erhoben hatte, elf Jahre in dem berüch¬
tigten sogenannten "eisernen Käfig" geschmachtet haben, während andre ihn in
den finstern Schlössern Chiron oder Loches inhaftiert sein lassen. Spätere
Bewohner des eisernen Käfigs kamen dahin wegen zu freimütiger Kritik oder
wegen Preßvergehns. Drei sind bekannter. Unter Franz I. wurde der un¬
glückliche Syndikus der Sorbonne Noel Beda, der sich über den König bitter
geäußert hatte, eingesperrt und starb auf dem Berge im Januar 1536. Auf
Befehl Ludwigs XIV. brachte ein sisur Chassigne darin drei Jahre zu, der
gegen den Erzbischof von Rheims Charles Letellier ein Pamphlet unter dem
Titel 1v oooncm raitre- gerichtet hatte und aus Holland, wohin er geflüchtet
war, verräterisch über die Grenze gelockt worden war. Am meisten Aufsehen
erregte unter Ludwig XV. die Gefangenschaft des Zeitungsschreibers Victor
de la Castagne, bekannter unter dem Namen Dubourg, der den König be¬
schimpft hatte. Schon 1746 starb er nach noch nicht einjähriger Gefangen¬
schaft freiwillig den Hungertod. Über ihn verbreitete sich bald das Gerücht,
er sei, durch Hunger und Kälte entkräftet, in einem schrecklichen Käfig, dessen
Stangen er mit einem alten Nagel künstlerisch bearbeitet habe, von Ratten
aufgefressen worden, ein Gerücht, das die Gemüter im achtzehnten Jahrhundert
in gewaltige Aufregung versetzte. Es gab wohl Anlaß, daß uach der Er¬
zählung der Madame de Genlis der spätere König Karl X. bei einem Besuch
des Berges im Jahre 1782 mit seinen prinzlichen Geschwistern die Vernichtung
des Käfigs befahl und selbst die engen winkligen Treppen in den feuchten
Kerker hinabstieg, uur den ersten Schlag gegen die dicken Holzbalken zu führen,
aus denen er gitterartig zusammengesetzt war. Der Schließer, der schon damals
den Käfig deu Fremden als Sehenswürdigkeit gezeigt hatte, erhielt, wie sie
besonders hinzufügt, von dem .Herzog von Chartres für den Ausfall ein Ein¬
nahmen ein Geschenk von zehn Louisdor.


Ganz anders arteten in Frankreich die Pilgerfnhrteir aus. Dort bildeten
sich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in den Nachbargebietcn von
Mont Se. Michel besondre ooiupirg'niLs, die prunkvoll einHerzogen. Die von
Calvados und Orne, in der Stärke von etwa 500 Mann, waren meist gut
beritten. Sie standen nnter einem „König," dessen Haupt eine Silberkrone
trug. In prunkenden Aufputz, oft nnter Trommelschlag, zogen sie durch die
Lande, mehr Maskenzügen ähnlich und wohl auch mehr zur Belustigung unter¬
nommen als zum Dienst des heiligen Michael.

Der Dienst des Erzengels tritt überhaupt zurück seit der Regierung
Ludwigs XI. Dieser Monarch soll dem Berge eine neue Bestimmung gegeben
haben. Schon früher waren für widerspenstige Mönche oder „solche, deren
Leben wenig erlmulich war," Bußzelleu gebaut worden, tief unter der Abtei in
den Felsen gehauen und uur durch finstere Gänge erreichbar. Auf Ludwig XI.
wird die Verwendung des Berges als Stantsgefängnis für politische Ver¬
brecher zurückgeführt. Wege» Verrath seines Herrn an Karl den Kühnen soll
dort der Kardinal Balue, sein Werkzeug, den er vom armen Priester zum
einflußreichsten Mann des Königreichs erhoben hatte, elf Jahre in dem berüch¬
tigten sogenannten „eisernen Käfig" geschmachtet haben, während andre ihn in
den finstern Schlössern Chiron oder Loches inhaftiert sein lassen. Spätere
Bewohner des eisernen Käfigs kamen dahin wegen zu freimütiger Kritik oder
wegen Preßvergehns. Drei sind bekannter. Unter Franz I. wurde der un¬
glückliche Syndikus der Sorbonne Noel Beda, der sich über den König bitter
geäußert hatte, eingesperrt und starb auf dem Berge im Januar 1536. Auf
Befehl Ludwigs XIV. brachte ein sisur Chassigne darin drei Jahre zu, der
gegen den Erzbischof von Rheims Charles Letellier ein Pamphlet unter dem
Titel 1v oooncm raitre- gerichtet hatte und aus Holland, wohin er geflüchtet
war, verräterisch über die Grenze gelockt worden war. Am meisten Aufsehen
erregte unter Ludwig XV. die Gefangenschaft des Zeitungsschreibers Victor
de la Castagne, bekannter unter dem Namen Dubourg, der den König be¬
schimpft hatte. Schon 1746 starb er nach noch nicht einjähriger Gefangen¬
schaft freiwillig den Hungertod. Über ihn verbreitete sich bald das Gerücht,
er sei, durch Hunger und Kälte entkräftet, in einem schrecklichen Käfig, dessen
Stangen er mit einem alten Nagel künstlerisch bearbeitet habe, von Ratten
aufgefressen worden, ein Gerücht, das die Gemüter im achtzehnten Jahrhundert
in gewaltige Aufregung versetzte. Es gab wohl Anlaß, daß uach der Er¬
zählung der Madame de Genlis der spätere König Karl X. bei einem Besuch
des Berges im Jahre 1782 mit seinen prinzlichen Geschwistern die Vernichtung
des Käfigs befahl und selbst die engen winkligen Treppen in den feuchten
Kerker hinabstieg, uur den ersten Schlag gegen die dicken Holzbalken zu führen,
aus denen er gitterartig zusammengesetzt war. Der Schließer, der schon damals
den Käfig deu Fremden als Sehenswürdigkeit gezeigt hatte, erhielt, wie sie
besonders hinzufügt, von dem .Herzog von Chartres für den Ausfall ein Ein¬
nahmen ein Geschenk von zehn Louisdor.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/149>, abgerufen am 01.09.2024.