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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Mont He. Michel und der Michaelskultus
(Fortsetzung)

iähreud in den höfischen Kreisen der Glaube an den heiligen
Michael längst geschwunden war, lebte er im Volke fort und
äußerte sich noch lange in Pilgerfahrten zu seinem Berge. Die
ersten Pilgerfahrten im achten und nennten Jahrhundert sind
schon erwähnt worden. Der Glaube vertiefte sich. Wie ein erstes
gewaltiges Pilgerlied erklingt Alcuins begeisterter Hymnus auf den Erzengel,
den er auf Karls des Großen ausdrücklichen Wunsch gedichtet zu haben scheint.
"Du hältst die Herrschaft über das ewige Paradies," heißt es darin, lind weiter:
"Als du den grausamen Drachen mit starker Hand dahin gestreckt hattest, hast
du die Mehrzahl der Seelen seinem Schlunde entrissen." Er galt als sichrer
Hort, als um das Jahr 1000 die Furcht vor dem Weltuntergang die Menschen
erfaßte. In Scharen zogen da die Pilger zu seinem Heiligtum.

Die durch die cluniaeensische Reform hervvrgernfne Vertiefung des reli¬
giösen Lebens verstärkte den Eifer der Wallfahrer. Wer nicht an Kreuzzügen
teilnehmen konnte, suchte deu heiligen Ort in der Nähe auf, dein 1247 und
1353 päpstliche Jndnlgenzen zu teil wurden. So sehr aber jedes Heiligtum
ebenso wie die Pilger durch Androhung von Exkommunikation für jede Schädi¬
gung am Orte selbst gesichert waren, so unsicher waren die Wege dahin. Das
alte normännische Sprichwort: "Bevor dn zum Berge gehst, mache dein Testa¬
ment" bezog sich weniger auf die Gefahr des Meeres als die der Reise. Der
einzelne Pilger wurde leicht auf dem Wege beraubt oder gar am Ende der
Wanderschaft auf den Sandbänken vor dem Berge von angeblichen Führern in
die Irre geführt und ausgeplündert. Es halfen da keine königlichen und keine
päpstlichen Verfügungen, sondern nnr der Zusammenschluß zu größern Gruppen.
Die Geistlichkeit scheint die Anregung dazu geboten zu haben. Vi-lM3 heißen
diese gemeinsamen Züge, und oontrsriv die sie aufrichtende Brüderschaft. Im
Jahre 1210 wurde schon dnrch Philipp August die oonkröriv alö Lairck Model
l'^nZs an irwirt Ah 1it> nor gegründet.

Bei diesen größern Pilgerzügen war nur die Gefahr des Meers bedrohlich.
Unbekannt mit der rasch einbrechenden Flut wurden die Pilger öfter ans den
Walten überrascht und abgeschnitten oder verirrten sich bei nebligem Wetter.
Deshalb war auf dem Berge "die Nebelglvcke" bestimmt, durch ihren Ton den
Wandrern den richtigen Weg zu weisen.

Wie bei den Kreuzzügen bemächtigte sich auch hier besonders der Frauen
und Kinder ein krankhafter religiöser Wandertrieb. Im Jahre 1333 kamen Züge




Mont He. Michel und der Michaelskultus
(Fortsetzung)

iähreud in den höfischen Kreisen der Glaube an den heiligen
Michael längst geschwunden war, lebte er im Volke fort und
äußerte sich noch lange in Pilgerfahrten zu seinem Berge. Die
ersten Pilgerfahrten im achten und nennten Jahrhundert sind
schon erwähnt worden. Der Glaube vertiefte sich. Wie ein erstes
gewaltiges Pilgerlied erklingt Alcuins begeisterter Hymnus auf den Erzengel,
den er auf Karls des Großen ausdrücklichen Wunsch gedichtet zu haben scheint.
„Du hältst die Herrschaft über das ewige Paradies," heißt es darin, lind weiter:
„Als du den grausamen Drachen mit starker Hand dahin gestreckt hattest, hast
du die Mehrzahl der Seelen seinem Schlunde entrissen." Er galt als sichrer
Hort, als um das Jahr 1000 die Furcht vor dem Weltuntergang die Menschen
erfaßte. In Scharen zogen da die Pilger zu seinem Heiligtum.

Die durch die cluniaeensische Reform hervvrgernfne Vertiefung des reli¬
giösen Lebens verstärkte den Eifer der Wallfahrer. Wer nicht an Kreuzzügen
teilnehmen konnte, suchte deu heiligen Ort in der Nähe auf, dein 1247 und
1353 päpstliche Jndnlgenzen zu teil wurden. So sehr aber jedes Heiligtum
ebenso wie die Pilger durch Androhung von Exkommunikation für jede Schädi¬
gung am Orte selbst gesichert waren, so unsicher waren die Wege dahin. Das
alte normännische Sprichwort: „Bevor dn zum Berge gehst, mache dein Testa¬
ment" bezog sich weniger auf die Gefahr des Meeres als die der Reise. Der
einzelne Pilger wurde leicht auf dem Wege beraubt oder gar am Ende der
Wanderschaft auf den Sandbänken vor dem Berge von angeblichen Führern in
die Irre geführt und ausgeplündert. Es halfen da keine königlichen und keine
päpstlichen Verfügungen, sondern nnr der Zusammenschluß zu größern Gruppen.
Die Geistlichkeit scheint die Anregung dazu geboten zu haben. Vi-lM3 heißen
diese gemeinsamen Züge, und oontrsriv die sie aufrichtende Brüderschaft. Im
Jahre 1210 wurde schon dnrch Philipp August die oonkröriv alö Lairck Model
l'^nZs an irwirt Ah 1it> nor gegründet.

Bei diesen größern Pilgerzügen war nur die Gefahr des Meers bedrohlich.
Unbekannt mit der rasch einbrechenden Flut wurden die Pilger öfter ans den
Walten überrascht und abgeschnitten oder verirrten sich bei nebligem Wetter.
Deshalb war auf dem Berge „die Nebelglvcke" bestimmt, durch ihren Ton den
Wandrern den richtigen Weg zu weisen.

Wie bei den Kreuzzügen bemächtigte sich auch hier besonders der Frauen
und Kinder ein krankhafter religiöser Wandertrieb. Im Jahre 1333 kamen Züge


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[0147] [Abbildung] Mont He. Michel und der Michaelskultus (Fortsetzung) iähreud in den höfischen Kreisen der Glaube an den heiligen Michael längst geschwunden war, lebte er im Volke fort und äußerte sich noch lange in Pilgerfahrten zu seinem Berge. Die ersten Pilgerfahrten im achten und nennten Jahrhundert sind schon erwähnt worden. Der Glaube vertiefte sich. Wie ein erstes gewaltiges Pilgerlied erklingt Alcuins begeisterter Hymnus auf den Erzengel, den er auf Karls des Großen ausdrücklichen Wunsch gedichtet zu haben scheint. „Du hältst die Herrschaft über das ewige Paradies," heißt es darin, lind weiter: „Als du den grausamen Drachen mit starker Hand dahin gestreckt hattest, hast du die Mehrzahl der Seelen seinem Schlunde entrissen." Er galt als sichrer Hort, als um das Jahr 1000 die Furcht vor dem Weltuntergang die Menschen erfaßte. In Scharen zogen da die Pilger zu seinem Heiligtum. Die durch die cluniaeensische Reform hervvrgernfne Vertiefung des reli¬ giösen Lebens verstärkte den Eifer der Wallfahrer. Wer nicht an Kreuzzügen teilnehmen konnte, suchte deu heiligen Ort in der Nähe auf, dein 1247 und 1353 päpstliche Jndnlgenzen zu teil wurden. So sehr aber jedes Heiligtum ebenso wie die Pilger durch Androhung von Exkommunikation für jede Schädi¬ gung am Orte selbst gesichert waren, so unsicher waren die Wege dahin. Das alte normännische Sprichwort: „Bevor dn zum Berge gehst, mache dein Testa¬ ment" bezog sich weniger auf die Gefahr des Meeres als die der Reise. Der einzelne Pilger wurde leicht auf dem Wege beraubt oder gar am Ende der Wanderschaft auf den Sandbänken vor dem Berge von angeblichen Führern in die Irre geführt und ausgeplündert. Es halfen da keine königlichen und keine päpstlichen Verfügungen, sondern nnr der Zusammenschluß zu größern Gruppen. Die Geistlichkeit scheint die Anregung dazu geboten zu haben. Vi-lM3 heißen diese gemeinsamen Züge, und oontrsriv die sie aufrichtende Brüderschaft. Im Jahre 1210 wurde schon dnrch Philipp August die oonkröriv alö Lairck Model l'^nZs an irwirt Ah 1it> nor gegründet. Bei diesen größern Pilgerzügen war nur die Gefahr des Meers bedrohlich. Unbekannt mit der rasch einbrechenden Flut wurden die Pilger öfter ans den Walten überrascht und abgeschnitten oder verirrten sich bei nebligem Wetter. Deshalb war auf dem Berge „die Nebelglvcke" bestimmt, durch ihren Ton den Wandrern den richtigen Weg zu weisen. Wie bei den Kreuzzügen bemächtigte sich auch hier besonders der Frauen und Kinder ein krankhafter religiöser Wandertrieb. Im Jahre 1333 kamen Züge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/147>, abgerufen am 13.11.2024.