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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Döllingers zweite Lebenshälfte

Nischen Orthodoxie verfolgter Gelehrter hat bei ihnen Zuflucht gefunden, so
z, B. der reformierte Franzose Peyreres, der lehrte, daß es schon vor Adam
Menschen gegeben habe, daß die Menschen "mit den übrigen Säugetieren zu¬
gleich" in allen bewohnbaren Teilen der Erde geschaffen worden seien, und
das; sich die Erzählung vou der Erschaffung Adams bloß auf den Stamm
beziehe, den Gott zum Träger der wahren Gotteserkenntnis bestimmt habe.
Sogar Hugo Grotius sprach ein entschiednes Verwerfnugsurteil über Peyreres
aus und suchte eine der von diesem gegen den gewöhnlichen Glauben erhobnen
Schwierigkeiten dadurch zu beseitigen, daß er meinte, Amerika könne von
Grönland aus bevölkert worden sein. Der Jesuit Hardouin aber (-j- 1729)
ließ sich, nachdem, der Oratorianer Simon die Bibelkritik begründet und den
Glauben an die Buchstabeninspiration wissenschaftlich unmöglich gemacht hatte,
dnrch seinen grüblerischen Scharfsinn zur paradoxesten Hyperkritik fortreißen.
Er bewies, daß die griechische Übersetzung des Alten Testaments (Septuaginta)
und der griechische Text des Neuen Testaments mißratne Übersetzungen der
Vulgata seien, daß Christus lateinisch gepredigt habe, daß Petrus niemals
nach Rom gekommen sei, daß die meisten Werke der klassischen griechischen
und lateinischen Litteratur Fälschungen und das Machwerk eines Benediktiner-
möuchs seien, der im dreizehnten Jahrhundert gelebt habe, und daß vor dem
Tridentinischen Konzil gar keine Kirchenversammlungen stattgefunden hätten.
Zwar veranlaßte mau ihn einmal, seine Irrtümer abzuschwören, ließ ihn aber
dann ruhig weiter schreiben und seine Ansichten in einer vielseitigen Polemik
mit den berühmtesten Männern seiner Zeit aufrecht halten. Er war aber nicht
etwa eine unbedeutende Persönlichkeit, die mau als harmlosen Narren laufen
lassen konnte, sondern ein berühmter Gelehrter, der alte Klassiker und un-
gedruckte Autoren herausgab (seine Ausgabe der Naturgeschichte des Plinius
wird uoch heute als die beste geschätzt), und der eine Oonviliorniu Oollsotio
reß'in iQÄxiinil in zwölf Bänden schuf, wozu ihn ein von der französischen
Geistlichkeit aufgebrachtes Jahrgeld in den Stand setzte. Als ihn jemand
fragte, wie er die Geschichte der Konzilien schreiben könne, die seiner Ansicht
nach gar nicht stattgefunden hätten, antwortete er: Das weiß Gott und ich
allein. Die Haltung des Ordens änderte sich, als nach dein Sturze der
Orthodoxie im protestantischen Deutschland die historische Kritik in Fluß kam,
wobei es sich zeigte, daß die Gcschichts- und die Bibelforschung nicht allein
einzelne katholische Dogmen, sondern das ganze Dvgmeugebäude einschließlich
der von den Protestanten kvnservierten Bruchstücke gefährde und so -- meinte
man irrtümlich nicht bloß bei den Jesuiten, sondern auch bei ihren Gegnern --
das Christentum selbst mit der Vernichtung bedrohe. Wie Hütte sich ein Orden,
der sich die Stützung des Papsttums und der alten Kirche zur Hauptaufgabe
gemacht hatte, ans solche Wege begeben können? Die einzelnen Mitglieder
konnten es schon, aber nur, wenn sie den Orden verließen oder auflösten.
Sollte der Orden fortbestehn, so mußte er der historischen Kritik den Krieg
erklären, Kirchengeschichte und Exegese, soweit sich diese nicht auf das Er-


Döllingers zweite Lebenshälfte

Nischen Orthodoxie verfolgter Gelehrter hat bei ihnen Zuflucht gefunden, so
z, B. der reformierte Franzose Peyreres, der lehrte, daß es schon vor Adam
Menschen gegeben habe, daß die Menschen „mit den übrigen Säugetieren zu¬
gleich" in allen bewohnbaren Teilen der Erde geschaffen worden seien, und
das; sich die Erzählung vou der Erschaffung Adams bloß auf den Stamm
beziehe, den Gott zum Träger der wahren Gotteserkenntnis bestimmt habe.
Sogar Hugo Grotius sprach ein entschiednes Verwerfnugsurteil über Peyreres
aus und suchte eine der von diesem gegen den gewöhnlichen Glauben erhobnen
Schwierigkeiten dadurch zu beseitigen, daß er meinte, Amerika könne von
Grönland aus bevölkert worden sein. Der Jesuit Hardouin aber (-j- 1729)
ließ sich, nachdem, der Oratorianer Simon die Bibelkritik begründet und den
Glauben an die Buchstabeninspiration wissenschaftlich unmöglich gemacht hatte,
dnrch seinen grüblerischen Scharfsinn zur paradoxesten Hyperkritik fortreißen.
Er bewies, daß die griechische Übersetzung des Alten Testaments (Septuaginta)
und der griechische Text des Neuen Testaments mißratne Übersetzungen der
Vulgata seien, daß Christus lateinisch gepredigt habe, daß Petrus niemals
nach Rom gekommen sei, daß die meisten Werke der klassischen griechischen
und lateinischen Litteratur Fälschungen und das Machwerk eines Benediktiner-
möuchs seien, der im dreizehnten Jahrhundert gelebt habe, und daß vor dem
Tridentinischen Konzil gar keine Kirchenversammlungen stattgefunden hätten.
Zwar veranlaßte mau ihn einmal, seine Irrtümer abzuschwören, ließ ihn aber
dann ruhig weiter schreiben und seine Ansichten in einer vielseitigen Polemik
mit den berühmtesten Männern seiner Zeit aufrecht halten. Er war aber nicht
etwa eine unbedeutende Persönlichkeit, die mau als harmlosen Narren laufen
lassen konnte, sondern ein berühmter Gelehrter, der alte Klassiker und un-
gedruckte Autoren herausgab (seine Ausgabe der Naturgeschichte des Plinius
wird uoch heute als die beste geschätzt), und der eine Oonviliorniu Oollsotio
reß'in iQÄxiinil in zwölf Bänden schuf, wozu ihn ein von der französischen
Geistlichkeit aufgebrachtes Jahrgeld in den Stand setzte. Als ihn jemand
fragte, wie er die Geschichte der Konzilien schreiben könne, die seiner Ansicht
nach gar nicht stattgefunden hätten, antwortete er: Das weiß Gott und ich
allein. Die Haltung des Ordens änderte sich, als nach dein Sturze der
Orthodoxie im protestantischen Deutschland die historische Kritik in Fluß kam,
wobei es sich zeigte, daß die Gcschichts- und die Bibelforschung nicht allein
einzelne katholische Dogmen, sondern das ganze Dvgmeugebäude einschließlich
der von den Protestanten kvnservierten Bruchstücke gefährde und so — meinte
man irrtümlich nicht bloß bei den Jesuiten, sondern auch bei ihren Gegnern —
das Christentum selbst mit der Vernichtung bedrohe. Wie Hütte sich ein Orden,
der sich die Stützung des Papsttums und der alten Kirche zur Hauptaufgabe
gemacht hatte, ans solche Wege begeben können? Die einzelnen Mitglieder
konnten es schon, aber nur, wenn sie den Orden verließen oder auflösten.
Sollte der Orden fortbestehn, so mußte er der historischen Kritik den Krieg
erklären, Kirchengeschichte und Exegese, soweit sich diese nicht auf das Er-


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[0144] Döllingers zweite Lebenshälfte Nischen Orthodoxie verfolgter Gelehrter hat bei ihnen Zuflucht gefunden, so z, B. der reformierte Franzose Peyreres, der lehrte, daß es schon vor Adam Menschen gegeben habe, daß die Menschen „mit den übrigen Säugetieren zu¬ gleich" in allen bewohnbaren Teilen der Erde geschaffen worden seien, und das; sich die Erzählung vou der Erschaffung Adams bloß auf den Stamm beziehe, den Gott zum Träger der wahren Gotteserkenntnis bestimmt habe. Sogar Hugo Grotius sprach ein entschiednes Verwerfnugsurteil über Peyreres aus und suchte eine der von diesem gegen den gewöhnlichen Glauben erhobnen Schwierigkeiten dadurch zu beseitigen, daß er meinte, Amerika könne von Grönland aus bevölkert worden sein. Der Jesuit Hardouin aber (-j- 1729) ließ sich, nachdem, der Oratorianer Simon die Bibelkritik begründet und den Glauben an die Buchstabeninspiration wissenschaftlich unmöglich gemacht hatte, dnrch seinen grüblerischen Scharfsinn zur paradoxesten Hyperkritik fortreißen. Er bewies, daß die griechische Übersetzung des Alten Testaments (Septuaginta) und der griechische Text des Neuen Testaments mißratne Übersetzungen der Vulgata seien, daß Christus lateinisch gepredigt habe, daß Petrus niemals nach Rom gekommen sei, daß die meisten Werke der klassischen griechischen und lateinischen Litteratur Fälschungen und das Machwerk eines Benediktiner- möuchs seien, der im dreizehnten Jahrhundert gelebt habe, und daß vor dem Tridentinischen Konzil gar keine Kirchenversammlungen stattgefunden hätten. Zwar veranlaßte mau ihn einmal, seine Irrtümer abzuschwören, ließ ihn aber dann ruhig weiter schreiben und seine Ansichten in einer vielseitigen Polemik mit den berühmtesten Männern seiner Zeit aufrecht halten. Er war aber nicht etwa eine unbedeutende Persönlichkeit, die mau als harmlosen Narren laufen lassen konnte, sondern ein berühmter Gelehrter, der alte Klassiker und un- gedruckte Autoren herausgab (seine Ausgabe der Naturgeschichte des Plinius wird uoch heute als die beste geschätzt), und der eine Oonviliorniu Oollsotio reß'in iQÄxiinil in zwölf Bänden schuf, wozu ihn ein von der französischen Geistlichkeit aufgebrachtes Jahrgeld in den Stand setzte. Als ihn jemand fragte, wie er die Geschichte der Konzilien schreiben könne, die seiner Ansicht nach gar nicht stattgefunden hätten, antwortete er: Das weiß Gott und ich allein. Die Haltung des Ordens änderte sich, als nach dein Sturze der Orthodoxie im protestantischen Deutschland die historische Kritik in Fluß kam, wobei es sich zeigte, daß die Gcschichts- und die Bibelforschung nicht allein einzelne katholische Dogmen, sondern das ganze Dvgmeugebäude einschließlich der von den Protestanten kvnservierten Bruchstücke gefährde und so — meinte man irrtümlich nicht bloß bei den Jesuiten, sondern auch bei ihren Gegnern — das Christentum selbst mit der Vernichtung bedrohe. Wie Hütte sich ein Orden, der sich die Stützung des Papsttums und der alten Kirche zur Hauptaufgabe gemacht hatte, ans solche Wege begeben können? Die einzelnen Mitglieder konnten es schon, aber nur, wenn sie den Orden verließen oder auflösten. Sollte der Orden fortbestehn, so mußte er der historischen Kritik den Krieg erklären, Kirchengeschichte und Exegese, soweit sich diese nicht auf das Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/144>, abgerufen am 01.09.2024.