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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Döllingers zweite Lebenshälfte

vorher allerdings nur eine katholische und eine lutherische Geschichte und kein
mittleres in Deutschland gegeben habe; das sei aber überhaupt keine Geschichte
im wissenschaftlichen Sinne gewesen. Heute hätten wir eine solche, und ein
Gegensatz bestehe nicht mehr zwischen katholischer und evangelischer, sondern
nur noch zwischen wissenschaftlicher, objektiver Geschichtschreibung und tenden¬
ziöser Geschichtsmachcrei. Das ist im allgemeinen richtig, wenn es auch bis
ans den heutigen Tag bei den Wissenschaftlicher mit der Objektivität und der
Tendenzlosigkeit noch manchmal hapert. Aber eine, natürlich unbewußte, Tendenz
verrät es, wenn Döllinger sagt: eine Wissenschaft der Geschichte haben wir
erst seit ungefähr vierzig Jahren. Am liebsten hätte er wohl gesagt: seit zwanzig
Jahren, denn sein 1851 im Herderschcn Kirchcnlexikou veröffentlichter Artikel
"Luther" war noch ein Zerrbild des Reformators, das die Entrüstung der
protestantische" Welt hervorrief. Den wissenschaftlichen Geist haben schon
Herder mit seinen "Ideen" und Lessing mit seinen kritischen Forschungen in
die Geschichte eingeführt. Gibbon hat die wissenschaftliche Methode in seinem
großartigen Werke angewandt, und von 1821 an haben die vom Freiherr"
vom Stein gegründeten Nonumsiitii. (zlormMiae Hititoriog, der wissenschaftlichen
Geschichtsforschung die Bahn gewiesen und zugleich eiuen beträchtlichen Teil
des Materials geliefert. Schon ohne dieses Hilfsmittel aber hat Karl Adolf
Meiizel in den zwanziger Jahren den Deutschen eine Geschichte ihres Volks
geschenkt, die an Wissenschaftlichkeit von keiner spätern übertroffen und in der
Objektivität von keiner erreicht wird.

Bekanntlich haben Döllinger und die Altkatholiken die Schuld der ultra-
montnuen Entwicklung der Kirche auf die Jesuiten geschoben. Aber die deutschen
Protestanten und Heine sind doch nicht blind gewesen, als sie in dem Verfasser
des dreibändigen Werkes "Die Reformation" das Haupt des Kreises von
Männern sahen, die die daniederliegende katholische Kirche in Deutschland
wieder aufgerichtet und sie ultramontan gemacht, d. h. die Josephinisch-Wessen-
bergische Richtung vernichtet und im Volke den Glauben, daß die Kirche ohne
den Papst nicht besteh" könne, felsenfest begründet haben. Ein in einem Zeit¬
räume von zwei Menschenalter" in steter Arbeit langsam begründeter Volks¬
glaube läßt sich "u" durch eine Polemik von zwei Jahren -- die Jahre 1869
und 1870 waren die Zeit der großen Entscheidung -- nicht umstoßen und
ausrotten, auch wenn die Begründer selbst es sind, die den Versuch machen;
man glaubt ihnen nicht, denn man versteht sie nicht oder führt ihren "Abfall"
auf unlautere Beweggründe zurück. Die Jesuiten, die an jener Neubegründung
des Katholizismus in Deutschland, vielleicht nicht ganz in gleiche," Maße a"
der i" England und Frankreich, völlig unbeteiligt gewesen waren, übernahmen
den von jenen geschaffne" Glanbensschatz als lachende Erben. Mit ihrer
Thätigkeit zur Zeit der Krise verhält es sich nun folge"dermnße". In den beide"
Jahrhunderten der """"gefochten herrschenden Orthodoxie waren die Jesuiten
nicht allein die gelehrtesten, sondern auch die aufgeklärtesten und freisinnigsten
aller Theologen gewesen. Mehr als ein von der lutherischen und der kalvi-


Döllingers zweite Lebenshälfte

vorher allerdings nur eine katholische und eine lutherische Geschichte und kein
mittleres in Deutschland gegeben habe; das sei aber überhaupt keine Geschichte
im wissenschaftlichen Sinne gewesen. Heute hätten wir eine solche, und ein
Gegensatz bestehe nicht mehr zwischen katholischer und evangelischer, sondern
nur noch zwischen wissenschaftlicher, objektiver Geschichtschreibung und tenden¬
ziöser Geschichtsmachcrei. Das ist im allgemeinen richtig, wenn es auch bis
ans den heutigen Tag bei den Wissenschaftlicher mit der Objektivität und der
Tendenzlosigkeit noch manchmal hapert. Aber eine, natürlich unbewußte, Tendenz
verrät es, wenn Döllinger sagt: eine Wissenschaft der Geschichte haben wir
erst seit ungefähr vierzig Jahren. Am liebsten hätte er wohl gesagt: seit zwanzig
Jahren, denn sein 1851 im Herderschcn Kirchcnlexikou veröffentlichter Artikel
„Luther" war noch ein Zerrbild des Reformators, das die Entrüstung der
protestantische» Welt hervorrief. Den wissenschaftlichen Geist haben schon
Herder mit seinen „Ideen" und Lessing mit seinen kritischen Forschungen in
die Geschichte eingeführt. Gibbon hat die wissenschaftliche Methode in seinem
großartigen Werke angewandt, und von 1821 an haben die vom Freiherr»
vom Stein gegründeten Nonumsiitii. (zlormMiae Hititoriog, der wissenschaftlichen
Geschichtsforschung die Bahn gewiesen und zugleich eiuen beträchtlichen Teil
des Materials geliefert. Schon ohne dieses Hilfsmittel aber hat Karl Adolf
Meiizel in den zwanziger Jahren den Deutschen eine Geschichte ihres Volks
geschenkt, die an Wissenschaftlichkeit von keiner spätern übertroffen und in der
Objektivität von keiner erreicht wird.

Bekanntlich haben Döllinger und die Altkatholiken die Schuld der ultra-
montnuen Entwicklung der Kirche auf die Jesuiten geschoben. Aber die deutschen
Protestanten und Heine sind doch nicht blind gewesen, als sie in dem Verfasser
des dreibändigen Werkes „Die Reformation" das Haupt des Kreises von
Männern sahen, die die daniederliegende katholische Kirche in Deutschland
wieder aufgerichtet und sie ultramontan gemacht, d. h. die Josephinisch-Wessen-
bergische Richtung vernichtet und im Volke den Glauben, daß die Kirche ohne
den Papst nicht besteh» könne, felsenfest begründet haben. Ein in einem Zeit¬
räume von zwei Menschenalter» in steter Arbeit langsam begründeter Volks¬
glaube läßt sich »u» durch eine Polemik von zwei Jahren — die Jahre 1869
und 1870 waren die Zeit der großen Entscheidung — nicht umstoßen und
ausrotten, auch wenn die Begründer selbst es sind, die den Versuch machen;
man glaubt ihnen nicht, denn man versteht sie nicht oder führt ihren „Abfall"
auf unlautere Beweggründe zurück. Die Jesuiten, die an jener Neubegründung
des Katholizismus in Deutschland, vielleicht nicht ganz in gleiche,» Maße a»
der i» England und Frankreich, völlig unbeteiligt gewesen waren, übernahmen
den von jenen geschaffne» Glanbensschatz als lachende Erben. Mit ihrer
Thätigkeit zur Zeit der Krise verhält es sich nun folge»dermnße». In den beide»
Jahrhunderten der »»»»gefochten herrschenden Orthodoxie waren die Jesuiten
nicht allein die gelehrtesten, sondern auch die aufgeklärtesten und freisinnigsten
aller Theologen gewesen. Mehr als ein von der lutherischen und der kalvi-


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[0143] Döllingers zweite Lebenshälfte vorher allerdings nur eine katholische und eine lutherische Geschichte und kein mittleres in Deutschland gegeben habe; das sei aber überhaupt keine Geschichte im wissenschaftlichen Sinne gewesen. Heute hätten wir eine solche, und ein Gegensatz bestehe nicht mehr zwischen katholischer und evangelischer, sondern nur noch zwischen wissenschaftlicher, objektiver Geschichtschreibung und tenden¬ ziöser Geschichtsmachcrei. Das ist im allgemeinen richtig, wenn es auch bis ans den heutigen Tag bei den Wissenschaftlicher mit der Objektivität und der Tendenzlosigkeit noch manchmal hapert. Aber eine, natürlich unbewußte, Tendenz verrät es, wenn Döllinger sagt: eine Wissenschaft der Geschichte haben wir erst seit ungefähr vierzig Jahren. Am liebsten hätte er wohl gesagt: seit zwanzig Jahren, denn sein 1851 im Herderschcn Kirchcnlexikou veröffentlichter Artikel „Luther" war noch ein Zerrbild des Reformators, das die Entrüstung der protestantische» Welt hervorrief. Den wissenschaftlichen Geist haben schon Herder mit seinen „Ideen" und Lessing mit seinen kritischen Forschungen in die Geschichte eingeführt. Gibbon hat die wissenschaftliche Methode in seinem großartigen Werke angewandt, und von 1821 an haben die vom Freiherr» vom Stein gegründeten Nonumsiitii. (zlormMiae Hititoriog, der wissenschaftlichen Geschichtsforschung die Bahn gewiesen und zugleich eiuen beträchtlichen Teil des Materials geliefert. Schon ohne dieses Hilfsmittel aber hat Karl Adolf Meiizel in den zwanziger Jahren den Deutschen eine Geschichte ihres Volks geschenkt, die an Wissenschaftlichkeit von keiner spätern übertroffen und in der Objektivität von keiner erreicht wird. Bekanntlich haben Döllinger und die Altkatholiken die Schuld der ultra- montnuen Entwicklung der Kirche auf die Jesuiten geschoben. Aber die deutschen Protestanten und Heine sind doch nicht blind gewesen, als sie in dem Verfasser des dreibändigen Werkes „Die Reformation" das Haupt des Kreises von Männern sahen, die die daniederliegende katholische Kirche in Deutschland wieder aufgerichtet und sie ultramontan gemacht, d. h. die Josephinisch-Wessen- bergische Richtung vernichtet und im Volke den Glauben, daß die Kirche ohne den Papst nicht besteh» könne, felsenfest begründet haben. Ein in einem Zeit¬ räume von zwei Menschenalter» in steter Arbeit langsam begründeter Volks¬ glaube läßt sich »u» durch eine Polemik von zwei Jahren — die Jahre 1869 und 1870 waren die Zeit der großen Entscheidung — nicht umstoßen und ausrotten, auch wenn die Begründer selbst es sind, die den Versuch machen; man glaubt ihnen nicht, denn man versteht sie nicht oder führt ihren „Abfall" auf unlautere Beweggründe zurück. Die Jesuiten, die an jener Neubegründung des Katholizismus in Deutschland, vielleicht nicht ganz in gleiche,» Maße a» der i» England und Frankreich, völlig unbeteiligt gewesen waren, übernahmen den von jenen geschaffne» Glanbensschatz als lachende Erben. Mit ihrer Thätigkeit zur Zeit der Krise verhält es sich nun folge»dermnße». In den beide» Jahrhunderten der »»»»gefochten herrschenden Orthodoxie waren die Jesuiten nicht allein die gelehrtesten, sondern auch die aufgeklärtesten und freisinnigsten aller Theologen gewesen. Mehr als ein von der lutherischen und der kalvi-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/143>, abgerufen am 01.09.2024.