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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Der Kampf um den Zolltarif

wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit anzustreben. Er machte anch nie ein Hehl
aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber der von dem Kaiser und den ver¬
bündeten Regierungen für nötig gehaltnen Weltpolitik im Sinne der wirtschaft¬
lichen Expansion. Er verfolgte Melines Ziele, und er glaubte deshalb anch
seine Wege empfehlen zu können. Wenn er sich darin vergriffen hat, so ist
das ihm, selbst vou seinem Standpunkt aus, viel eher zu verzeihen, als wenn
Staatsmänner und Nationalökonomen, die sich zu andern Zielen bekennen,
glaubten Melinische Wege wandeln zu sollen.

Wie weit die zu der Vorbereitung des neuen Zolltarifs, oder wie man
mit Recht sagen kann: zu der Vorbereitung neuer Handelsverträge berufnen
Staatsmänner persönlich die Ziele des Grafen Kauitz und Melines für richtig
halten, wissen wir nicht. Daß das Reichsamt des Innern sie nicht verfolgen
dürfte, ist selbstverständlich. Wie es trotzdem drzu kam, die Kanitzischen und
Melinische" Wege auch nur eine Zeit lang zu empfehlen -- wie man jetzt
annehmen muß --, ist uns ein Rätsel. Wir haben der merkantilistischcn Detail¬
arbeit, Rechnerei und Fragerei, die bei den viel besprochnen "Vorarbeiten"
eine große Rolle spielte, vou Anfang nu skeptisch gegenüber gestanden und
dafür manche Unliebenswürdigkeit geerntet. Wir haben immer gewünscht, uns
zu irren, und wir freuen uns uicht, wenn wir uus nicht geirrt haben. Wohl
aber freuen wir uns darüber, daß auf der Generalversammlung des Vereins
für Sozialpolitik in München der bisher einflußreichste und für die volkswirt¬
schaftliche Bildung unsers höher" Beamtentums verantwortlichste Berliner
Professor der Nationalökonomie, Schmoller, endlich einmal mit einer für
seine Art fast verblüffenden Deutlichkeit erklärt hat, die "Vorverhandlungen"
zum Zolltarif, soweit Nachrichten darüber in die Öffentlichkeit gedrungen wäre",
hätten ihn "mit großer Sorge erfüllt." Er habe die Empfindung gehabt, als
ob die Regierung den Interessenten, den Großindustriellen wie den Großgrund¬
besitzer", zu sehr "nchgegebe" habe, vor allein aber, daß ein großer Teil der
leitenden Beamten in eine blinde Verherrlichung des Schutzzollsystems hinein¬
geraten sei. Eine Melinische Schutzzollpolitik wäre für uus ein namenloses
Unglück. Der vorliegende Tarif sei ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Er
wisse nichts über die Motive, er wisse auch nicht, wozu er gebraucht
werden solle.

Daß Professor Schuhmacher nicht die Kanitzischen und Maurischer Ziele
will, hat er im Verein für Sozialpolitik selbst gesagt. Die Handelspolitik
müsse dafür Sorge tragen, meinte er, daß unser Handel weit über die Grenzen
des Vaterlands Verbreitung finde. Das Mittel dazu sei der Handelsvertrag,
und zwar der "langfristige Handelsvertrag." Und doch erklärt er sich für den
Melinischeu Weg, für den Doppeltarif? Er glaubt das so begründen zu
können: Einen Maximal- und Minimaltarif habe zuerst Frankreich eingeführt,
und eine Reihe andrer Staaten sei ihm darin gefolgt -- ums beides nur be¬
schränkt wahr ist --; man setzte beim Doppeltarif an die Stelle der Tarif¬
verträge zwei autonome Tarife, von dene" der niedrigere allen den Staaten


Der Kampf um den Zolltarif

wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit anzustreben. Er machte anch nie ein Hehl
aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber der von dem Kaiser und den ver¬
bündeten Regierungen für nötig gehaltnen Weltpolitik im Sinne der wirtschaft¬
lichen Expansion. Er verfolgte Melines Ziele, und er glaubte deshalb anch
seine Wege empfehlen zu können. Wenn er sich darin vergriffen hat, so ist
das ihm, selbst vou seinem Standpunkt aus, viel eher zu verzeihen, als wenn
Staatsmänner und Nationalökonomen, die sich zu andern Zielen bekennen,
glaubten Melinische Wege wandeln zu sollen.

Wie weit die zu der Vorbereitung des neuen Zolltarifs, oder wie man
mit Recht sagen kann: zu der Vorbereitung neuer Handelsverträge berufnen
Staatsmänner persönlich die Ziele des Grafen Kauitz und Melines für richtig
halten, wissen wir nicht. Daß das Reichsamt des Innern sie nicht verfolgen
dürfte, ist selbstverständlich. Wie es trotzdem drzu kam, die Kanitzischen und
Melinische» Wege auch nur eine Zeit lang zu empfehlen — wie man jetzt
annehmen muß —, ist uns ein Rätsel. Wir haben der merkantilistischcn Detail¬
arbeit, Rechnerei und Fragerei, die bei den viel besprochnen „Vorarbeiten"
eine große Rolle spielte, vou Anfang nu skeptisch gegenüber gestanden und
dafür manche Unliebenswürdigkeit geerntet. Wir haben immer gewünscht, uns
zu irren, und wir freuen uns uicht, wenn wir uus nicht geirrt haben. Wohl
aber freuen wir uns darüber, daß auf der Generalversammlung des Vereins
für Sozialpolitik in München der bisher einflußreichste und für die volkswirt¬
schaftliche Bildung unsers höher» Beamtentums verantwortlichste Berliner
Professor der Nationalökonomie, Schmoller, endlich einmal mit einer für
seine Art fast verblüffenden Deutlichkeit erklärt hat, die „Vorverhandlungen"
zum Zolltarif, soweit Nachrichten darüber in die Öffentlichkeit gedrungen wäre»,
hätten ihn „mit großer Sorge erfüllt." Er habe die Empfindung gehabt, als
ob die Regierung den Interessenten, den Großindustriellen wie den Großgrund¬
besitzer», zu sehr »nchgegebe» habe, vor allein aber, daß ein großer Teil der
leitenden Beamten in eine blinde Verherrlichung des Schutzzollsystems hinein¬
geraten sei. Eine Melinische Schutzzollpolitik wäre für uus ein namenloses
Unglück. Der vorliegende Tarif sei ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Er
wisse nichts über die Motive, er wisse auch nicht, wozu er gebraucht
werden solle.

Daß Professor Schuhmacher nicht die Kanitzischen und Maurischer Ziele
will, hat er im Verein für Sozialpolitik selbst gesagt. Die Handelspolitik
müsse dafür Sorge tragen, meinte er, daß unser Handel weit über die Grenzen
des Vaterlands Verbreitung finde. Das Mittel dazu sei der Handelsvertrag,
und zwar der „langfristige Handelsvertrag." Und doch erklärt er sich für den
Melinischeu Weg, für den Doppeltarif? Er glaubt das so begründen zu
können: Einen Maximal- und Minimaltarif habe zuerst Frankreich eingeführt,
und eine Reihe andrer Staaten sei ihm darin gefolgt — ums beides nur be¬
schränkt wahr ist —; man setzte beim Doppeltarif an die Stelle der Tarif¬
verträge zwei autonome Tarife, von dene» der niedrigere allen den Staaten


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[0119] Der Kampf um den Zolltarif wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit anzustreben. Er machte anch nie ein Hehl aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber der von dem Kaiser und den ver¬ bündeten Regierungen für nötig gehaltnen Weltpolitik im Sinne der wirtschaft¬ lichen Expansion. Er verfolgte Melines Ziele, und er glaubte deshalb anch seine Wege empfehlen zu können. Wenn er sich darin vergriffen hat, so ist das ihm, selbst vou seinem Standpunkt aus, viel eher zu verzeihen, als wenn Staatsmänner und Nationalökonomen, die sich zu andern Zielen bekennen, glaubten Melinische Wege wandeln zu sollen. Wie weit die zu der Vorbereitung des neuen Zolltarifs, oder wie man mit Recht sagen kann: zu der Vorbereitung neuer Handelsverträge berufnen Staatsmänner persönlich die Ziele des Grafen Kauitz und Melines für richtig halten, wissen wir nicht. Daß das Reichsamt des Innern sie nicht verfolgen dürfte, ist selbstverständlich. Wie es trotzdem drzu kam, die Kanitzischen und Melinische» Wege auch nur eine Zeit lang zu empfehlen — wie man jetzt annehmen muß —, ist uns ein Rätsel. Wir haben der merkantilistischcn Detail¬ arbeit, Rechnerei und Fragerei, die bei den viel besprochnen „Vorarbeiten" eine große Rolle spielte, vou Anfang nu skeptisch gegenüber gestanden und dafür manche Unliebenswürdigkeit geerntet. Wir haben immer gewünscht, uns zu irren, und wir freuen uns uicht, wenn wir uus nicht geirrt haben. Wohl aber freuen wir uns darüber, daß auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik in München der bisher einflußreichste und für die volkswirt¬ schaftliche Bildung unsers höher» Beamtentums verantwortlichste Berliner Professor der Nationalökonomie, Schmoller, endlich einmal mit einer für seine Art fast verblüffenden Deutlichkeit erklärt hat, die „Vorverhandlungen" zum Zolltarif, soweit Nachrichten darüber in die Öffentlichkeit gedrungen wäre», hätten ihn „mit großer Sorge erfüllt." Er habe die Empfindung gehabt, als ob die Regierung den Interessenten, den Großindustriellen wie den Großgrund¬ besitzer», zu sehr »nchgegebe» habe, vor allein aber, daß ein großer Teil der leitenden Beamten in eine blinde Verherrlichung des Schutzzollsystems hinein¬ geraten sei. Eine Melinische Schutzzollpolitik wäre für uus ein namenloses Unglück. Der vorliegende Tarif sei ihm ein Buch mit sieben Siegeln. Er wisse nichts über die Motive, er wisse auch nicht, wozu er gebraucht werden solle. Daß Professor Schuhmacher nicht die Kanitzischen und Maurischer Ziele will, hat er im Verein für Sozialpolitik selbst gesagt. Die Handelspolitik müsse dafür Sorge tragen, meinte er, daß unser Handel weit über die Grenzen des Vaterlands Verbreitung finde. Das Mittel dazu sei der Handelsvertrag, und zwar der „langfristige Handelsvertrag." Und doch erklärt er sich für den Melinischeu Weg, für den Doppeltarif? Er glaubt das so begründen zu können: Einen Maximal- und Minimaltarif habe zuerst Frankreich eingeführt, und eine Reihe andrer Staaten sei ihm darin gefolgt — ums beides nur be¬ schränkt wahr ist —; man setzte beim Doppeltarif an die Stelle der Tarif¬ verträge zwei autonome Tarife, von dene» der niedrigere allen den Staaten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/119>, abgerufen am 28.07.2024.